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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


22. Der Kaisersohn und der Unhold

Es war einmal ein Kaiser, der hatte einen Sohn. Dieser Sohn war ein Held ohnegleichen. Eines Tages zog er auf Heldentaten aus. Es verging eine geraume Zeit, und er wanderte und wanderte, bis er an einen Wald kam. Und da setzte er sich in den Schatten eines Baumes und schlief ein. Da hatte er einen Traum: Er solle sich erheben und zu dem Hügel hingehen, denn dort seien die Pferde des Drachen. Aber er müsse immer geradeaus gehen, daß er ja nicht den Mann ohne Nieren verfehle, der so laut schreie.

So brach er auf. Und er kam wirklich zu dem Mann ohne Nieren. Und als er zu ihm kam, fragte er ihn: »He, warum schreist du so?« Er sagte: »Siehe, ein Böser hat mir meine Nieren genommen und hat mich so gelassen, wie du mich siehst.« Da sagte ihm der Knabe: »Verweile hier ein wenig, bis ich an diesen Ort wieder zurückkomme.« Und er ging drei Tage und drei Nächte, bis er zu jenem Hügel kam. Er setzte sich nieder, aß und ruhte sich aus. Dann stand er auf und ging zum Hügel. Als die Pferde ihn sahen, liefen sie auf ihn zu und wollten ihn fressen. Der Knabe rief ihnen entgegen: »Freßt mich nicht, denn ich werde euch Heu von Tausendschönchen und Gänseblümchen geben und frisches Wasser.« Da sagten die Pferde: »Sei unser Herr, und gib uns, was du gesagt hast.« Der junge Held sagte zu ihnen: »Seht, Pferde, wenn ich nicht halte, was ich euch versprochen habe, so mögt ihr mich töten und auffressen.« So machte er sich auf den Weg und ging mit ihnen nach Hause. Und er brachte sie in die Scheune und gab ihnen frisches Wasser und Heu von schönen Blumen. Danach kam er auf einem kleinen Pferde heraus und brach zu dem Manne ohne Nieren auf. Er fragte diesen, wie jener Drache heiße, der ihm seine Nieren genommen habe, und erhielt zur Antwort: »Ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich weiß, daß er in die andere Welt gegangen ist.« Da machte sich der junge Held auf und kam bis ans Ende der



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Welt, und er ließ sich hinunter und gelangte ins Jenseits. Da sagte er zum Drachen: »Heraus mit dir, damit ich sehe, was für ein Mensch du bist.« Als der Unhold den Jüngling hörte, ging er hinaus und wollte ihn schlachten. Doch der junge Held nahm die Heldenkeule und den Dolch und schleuderte mit der Keule, und in demselben Augenblick band er ihm rücklings die Hände. Und der Held sagte: »He, Unhold, jetzt sage mir sofort, wo die Nieren meines Bruders sind. Sonst töte ich dich jetzt sogleich.« Da sagte der Unhold: »Dort in einem Topfe sind sie, gehe hin und hole sie.« Und der Knabe fragte ihn: »Doch wenn ich sie nehmen werde, was soll ich mit ihnen machen?« — »Wenn du sie nimmst, tue sie ins Wasser und gib sie ihm zu trinken.« Der Knabe tat, wie er ihm sagte. Er ging zum Manne ohne Nieren, tat die Nieren ins Wasser und gab sie ihm zu trinken. Kaum hatte er sie getrunken, als er sich erhob und den Knaben begrüßte und sprach: »Ein Bruder seist du mir, bis wir sterben werden, ich und du wollen die ganze Welt durchwandern.« Da schlossen sie Brüderschaft und gingen auf Heldentaten aus. Einen jeden, den sie auf ihrem Wege trafen, töteten sie. Da sagte der Mann ohne Nieren, daß sie sich zu dem Unhold begeben wollten, um ihn ins Jenseits zu befördern. Und sie gingen ans Ende der Welt, ließen sich hinunter, und wie sie unten anlangten, da schlugen sie sich mit dem Unhold zwei Tage lang. Und wieder banden sie ihm rücklings die Hände, schnitten ihm die Gurgel durch und nahmen ihm seine Häuser, und da wuchsen zwei Apfelbäume. Dann gingen sie weiter zu einigen andern Häusern. Dort wohnten drei Mädchen. Da warf der Held mit seiner Keule und zerstörte sie zur Hälfte. Die Mädchen eilten hinaus, um zu sehen, woher das käme. Sie warfen einen Kamm auf den Weg, und sofort entstand ein Wald, den die beiden nicht durchdringen konnten. Als das der Held sah, warf er seine Keule und seinen Dolch. Und der Dolch fällte den Wald, und die Keule machte Holzscheite daraus. So fällte er den ganzen Wald, bis nichts mehr da war. Sowie



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das die Mädchen sahen, warfen sie einen Stein, und da entstand sofort eine Burg aus Stein. Und wieder wußten die beiden nicht, wie sie vordringen sollten. Da warf er die Keule und zerschmetterte die Steine zu Pulver. Nachdem die Mädchen sahen, daß die Steine zerschmettert waren, warfen sie einen Spiegel vor sie hin, und der Spiegel wurde zum Bach. Wieder wußten die beiden Helden nicht, wohin sie sich wenden sollten. Da warf der Held seinen Dolch, und der zerschnitt das Wasser, und sie gingen ungehindert hindurch und gelangten endlich zu den Mädchen. Unser Held fragte sie: »Warum habt ihr mir solche Hindernisse bereitet?« Da sagten die Mädchen: »Junger Held, wir haben geglaubt, du kommst, um uns zu töten.« Da gab der junge Held allen drei Schwestern eine tüchtige Ohrfeige: »Ihr Mädchen, jetzt nehmt uns zu Männern.« Also nahmen sie sie zu Frauen, und die dritte gaben sie einem andern Helden. Dann gingen sie mit ihnen nach Hause und feierten Hochzeit.


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