Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON 'ALt CHAWÂDSCHA UND DEM KAUFMANNE VON BAGHDAD'

Unter der Regierung des Kalifen Harûn er-Raschîd lebte in der Stadt Baghdad ein Kaufmann, 'All Chawâdscha geheißen; der hatte einen kleinen Vorrat an Waren, mit dem er Handel trieb und ein kärgliches Brot verdiente, indem er allein und ohne Angehörige im Hause seiner Vorväter wohnte. Nun begab es sich; daß er drei Nächte hintereinander in jeder Nacht im Traume einen ehrwürdigen Scheich sah, der also zu ihm sprach: ,Du bist verpflichtet, eine Pilgerfahrt nach Mekka zu machen. Warum verharrst du versunken in achtlosem Schlummer und machst dich nicht auf, wie es dir geziemte' Als er diese Worte vernahm, ward er bestürzt und so erschrocken, daß er Laden und Waren und all sein Hab und Gut verkaufte und in der festen Absicht, das heilige Haus Allahs des Erhabenen zu besuchen, sein Haus vermietete und sich einer Karawane anschloß, die nach dem hochgeehrten Mekka reiste. Doch ehe er seine Vaterstadt verließ, legte er tausend Goldstücke, die er über das Reisegeld hinaus noch besaß, in einen irdenen Krug und füllte ihn dann mit Sperlingsoliven', und nachdem er die Öffnung des Kruges verschlossen hatte, trug er ihn zu



1000-und-1_Vol-06-341 Flip arpa

einem Kaufmanne, mit dem er seit vielen Jahren befreundet war, und sprach: ,Mein Bruder, vielleicht hast du vernommen, daß ich die Absicht habe, mit einer Karawane die Pilgerfahrt zu machen nach Mekka, der heiligen Stadt; ich habe nun hier einen Krug Oliven bei mir, und ich möchte dich bitten, ihn mir als anvertrautes Pfand bis zu meiner Rückkehr aufzubewahren.' Der Kaufmann überreichte sofort den Schlüssel zu seinem Warenhause an 'All Chawâdscha und sprach: ,Hier, nimm den Schlüssel, öffne den Speicher und stelle den Krug dorthin, wo es dir gut dünkt, und wenn du wiederkehrst, sollst du ihn genau so finden, wie du ihn verlassen hast.' 'All Chawâdscha tat nach dem Geheiße seines Freundes, und als er die Tin wieder verschlossen hatte, gab er den Schlüssel seinem Herrn zurück. Dann lud er seine Reisevorräte auf ein Kamel, stieg selbst auf ein zweites Tier und brach mit der Karawane auf. Schließlich erreichten sie Mekka, die hochgeehrte Stadt; das war im Monate Dhu el-Hiddscha', in dem Zehntausende von Muslimen dorthin pilgern und vor dem Tempel der Kaaba beten und sich niederwerfen. Und nachdem er das heilige Haus umschritten und alle Bräuche und Zeremonien erfüllt hatte. wie sie von den Pilgern erfordert werden, tat er einen Laden auf zum Verkauf von Waren. Da begab es sich, daß zwei Kaufleute durch jene Straße gingen und die feinen Stoffe und Waren im Laden von 'All Chawâdscha bemerkten; sie fanden großes Gefallen an ihnen und lobten ihre Schönheit und Vortrefffichkeit. Dann sprach der eine zum anderen: ,Dieser Mann bringt höchst seltene und kostbare Waren hierher; in Kairo, der Hauptstadt von Ägyptenland, würde er aber erst den vollen Wert dafür erhalten, weit mehr als auf den Märkten dieser Stadt.' Als nun 'All Chawâdscha Kairo nennen hörte, übers.



1000-und-1_Vol-06-342 Flip arpa

kam ihn eine heiße Sehnsucht, jene berühmte Hauptstadt zu besuchen, und so gab er seine Absicht auf, nach Baghdad heimzukehren, und beschloß, gen Ägypten zu ziehen. Deshalb schloß er sich einer neuen Karawane an, und als er dort ankam. hatte er großes Gefallen sowohl an dem Lande wie ander Stadt; auch machte er großen Gewinn, als er seine Waren verkaufte. Dann kaufte er andere Waren und Stoffe und faßte die Absicht. nach Damaskus zu reisen; doch er blieb noch einen ganzen Monat in Kairo und besuchte dort die Heiligtümer und geweihten Stätten; und als er die Mauern der Stadt verlassen hatte, ergötzte er sich damit, manche berühmten Städte zu sehen, die einige Tagereisen von der Hauptstadt entfernt an den Ufern des Nilstromes lagen. Danach nahm er Abschied von Ägypten und kam zur heiligen Stadt Jerusalem; dort betete er in dem Tempel der Kinder Israel, den die Muslime wieder aufgebaut hatten. Zur angemessenen Zeit traf er in Damaskus ein, und er sah, daß die Stadt schön gebaut und volkreich war; auch schaute er die Felder und Wiesen, die von Quellen und Kanälen reich bewässert wurden, und die Gärten und Haine, die in einer Fülle von Blumen und Früchten prangten. Inmitten solcher Freuden dachte 'All Chawâdscha kaum an Baghdad; doch er setzte seine Reise fort und zog durch Aleppo, Mosul und Schiras, und in jeder von diesen Städten, besonders aber in Schiras, verweilte er eine Zeit lang, bis er schließlich nach sieben Jahren der Wanderschaft wieder in Baghdad ankam.

Jetzt mußt du nun, o glücklicher König, von dem Kaufmann in Baghdad und von seiner Unehrlichkeit hören. Sieben lange Jahre hatte er nicht ein einziges Mal an 'All Chawâdscha gedacht, noch an das Pfand, das seiner Obhut anvertraut war. Schließlich aber, als er eines Tages mit seiner Frau beim Nachtmahle



1000-und-1_Vol-06-343 Flip arpa

saß, kam ihr Gespräch auf Oliven, und sie sagte: ,Ich möchte jetzt gern einige zum Essen haben.' Da gab er zur Antwort: ,Weil du gerade davon sprichst, fällt mir ein, daß 'All Chawâdscha, der vor sieben Jahren auf die Pilgerfahrt nach Mekka zog, vor seiner Abreise mir einen Krug mit Sperlingsoliven anvertraute, der noch im Speicher steht. Wer weiß, wo er jetzt weilt und was ihm widerfahren ist? Ein Mann, der kürzlich mit der Pilgerkarawane heimgekehrt ist, erzählte mir, daß 'All Chawâdscha Mekka, das hochgeehrte, verlassen habe mit der Absicht, nach Ägypten zu ziehen. Einzig Allah der Erhabene weiß, ob er noch am Leben oder schon gestorben ist; indessen, wenn seine Oliven noch gut sind, so will ich hingehen und einige davon bringen, damit wir sie kosten; gib mir also den Schlüssel und eine Lampe, daß ich einige davon holen kann!' Seine Frau jedoch, die ein ehrlich und rechtschaffen Weib war, erwiderte: ,Allah verhüte, daß du eine so gemeine Tat begehst und dein Wort und Gelöbnis brichst! Wer kann es wissen? Du hast von niemandem sichere Kunde, daß er tot ist; vielleicht kommt er morgen oder übermorgen sicher und gesund aus Ägypten zurück; dann wirst du, wenn du ihm nicht unbeschädigt wiedergeben kannst, was er dir einst anvertraute, dich wegen deines gebrochenen Wortes schämen müssen, wir werden vor den Menschen in Schande geraten und vor deinem Freunde entehrt sein. Ich wenigstens will an solcher Schändlichkeit keinen Teil haben, ich will auch die Oliven nicht kosten; überdies widerspricht es aller Vernunft, daß sie nach sieben Jahren noch eßbar sein sollten. Ich flehe dich an, laß ab von dieser argen Absicht!' In dieser Weise erhob die Frau des Kaufmanns Einspruch, und sie bat ihren Gatten, sich an 'All Chawâdschas Oliven nicht zu vergreifen, und brachte ihn durch Scham von seinem Vorhaben ab, so daß er



1000-und-1_Vol-06-344 Flip arpa

sich für den Augenblick die Sache aus dem Sinne schlug. Obwohl der Kaufmann es an jenem Abend unterließ, 'All Chawâdschas Oliven anzurühren, so behielt er doch den Plan im Gedächtnis, bis er eines Tages in seiner Hartnäckigkeit und Treulosigkeit beschloß, sein Vorhaben auszuführen; da machte er sich auf und begab sich mit einer Schüssel in der Hand zum Vorratshause. Zufällig traf er seine Frau, und die rief: ,Ich habe mit dir an dieser argen Tat keinen Anteil. Wahrlich, dir wird Böses widerfahren, wenn du eine solche Tat begehst.' Er hörte sie, aber er achtete ihrer nicht; und als er im Speicher war, öffnete er den Krug und fand, daß die Oliven verdorben und weiß von Schimmel waren. Wie er dann jedoch den Krug umstürzte und einen Teil seines Inhalts in die Schüssel schüttete, sah er plötzlich, daß ein Goldstück zusammen mit den Früchten herausfiel. Von Gier erfüllt, schüttete er nunmehr alles, was darinnen war, in einen anderen Krug und wunderte sich über die Maßen, als er die untere Hälfte voll von Goldstücken fand. Dann legte er das Geld und die Oliven beiseite, schloß das Gefäß, kehrte zu seiner Frau zurück und sprach zu ihr: ,Du hattest recht; denn ich habe den Krug untersucht und gefunden, daß die Früchte schimmlicht sind und verdorben riechen. Deshalb habe ich sie wieder in den Krug getan und ihn stehenlassen, wie er war.' In jener Nacht konnte der Kaufmann kein Auge zutun, da er immer an das Gold dachte und grübelte, wie er es sich aneignen könnte; und als der Morgen graute, nahm er alle die Goldstücke heraus, kaufte auf dem Markte einige frische Oliven, füllte den Krug mit ihnen auf, verschloß die Öffnung und stellte ihn wieder an seinen alten Platz.

Nun begab es sich, daß durch Allahs Gnade 'Alt Chawâdscha sicher und gesund am Ende des Monats wieder nach Baghdad heimkehrte. Zuerst begab er sich zu seinem alten



1000-und-1_Vol-06-345 Flip arpa

Freunde, dem Kaufmann; der begrüßte um mit geheuchelter Freude und fiel ihm um den Hals. aber er war doch sehr in Sorgen und Verlegenheit wegen dessen, was da kommen möchte. Nachdem sie sich also begrüßt und beide ihrer großen Freude Ausdruck gegeben hatten, begann 'All Chawâdscha von Geschäften zu sprechen und bat den Kaufmann, ihm seinen Krug mit Sperlingsoliven zurückzugeben, den er einst der Obhut seines Freundes anvertraut hatte. Da sagte der Kaufmann zu 'All Chawâdscha: ,Lieber Freund. ich weiß nicht. wohin du deinen Olivenkrug gestellt hast. Aber hier ist der Schlüssel; geh hinunter in den Speicher und nimm alles, was dein ist.' 'All Chawâdscha tat, wie ihm gesagt war; er holte den Krug aus dem Vorratshaus, nahm Abschied und eilte heim. Als er aber den Krug öffnete und die Goldstücke nicht fand, ward er bestürzt und von Schmerz überwältigt, und er klagte bitterlich. Dann eilte er zu dem Kaufmann zurück und sagte: ,Mein Freund, Allah, der Allgegenwärtige und Allsehende, sei mein Zeuge, daß ich in dem Kruge tausend Goldstücke zurückließ, als ich auf die Pilgerfahrt zog nach Mekka, dem hochgeehrten, und jetzt finde ich sie nicht; Kannst du mir nicht etwas über sie sagen? Wenn du in arger Not von ihnen Gebrauch gemacht hast, so tut es nichts; denn du wirst sie mir zurückgeben, sobald du kannst.' Der Kaufmann erwiderte, indem er sich den Anschein gab, als bemitleide er ihn: ,Mein guter Freund, du hast den Krug mit deiner eigenen Hand in den Speicher gestellt. Ich wußte nicht, daß du etwas anderes darin hattest als Oliven; genau wie du ihn verlassen hast, so hast du ihn wiedergefunden und fortgetragen; und jetzt beschuldigst du mich des Diebstahls von Goldstücken! Es kommt mir seltsam, ja noch mehr als seltsam vor, daß du eine solche Anklage zu erheben wagst. Als du fortgingst, sprachst du von keinem



1000-und-1_Vol-06-346 Flip arpa

Gelde in dem Krug, sondern du sagtest nur, er sei voll von Oliven, so wie du ihn auch angetroffen hast. Hättest du Goldmünzen darin gelassen, so hättest du sie sicherlich auch wiedergefunden.' Darauf begann 'All Chawâdscha inständig und fiehentlich zu bitten, indem er sprach: ,Jene tausend Goldstücke waren alles, was ich besaß, das Geld, das ich in Jahren mühevoller Arbeit verdient hatte; ich flehe dich an, hab Mitleid mit meiner Not und gib sie mir zurück!' Aber der Kaufmann ergrimmte heftig und rief: ,Mein Freund, du bist ein feiner Gesell, daß du von Ehrlichkeit redest und dennoch solche falschen und lügnerischen Anklagen erhebst. Geh, hebe dich von dannen und komm mir nicht wieder in mein Haus; denn jetzt weiß ich, was du bist - ein Schwindler und Betrüger!' Alle Leute des Stadtviertels aber kamen herbei und drängten sich um den Laden, als sie den Streit zwischen 'All Chawâdscha und dem Kaufmann hörten; und die Menge griff die Sache hitzig auf, und so wurde es allen, Reichen und Armen, in der Stadt Baghdad bekannt, daß ein Mann namens 'All Chawâdscha tausend Goldstücke in einem Olivenkruge verborgen und sie einem gewissen Kaufmann anvertraut hatte; daß ferner der arme Mann nach der Pilgerfahrt gen Mekka und nach sieben Jahren der Wanderschaft zurückgekehrt war und der Reiche seine Worte in betreff des Goldes bestritten hatte und bereit war, zu schwören, er habe keinerlei derartiges Pfand erhalten. Schließlich, als nichts anderes mehr fruchtete. war 'All Chawâdscha gezwungen, die Sache vor den Kadi zu bringen und von seinem falschen Freunde tausend Goldstücke einzuklagen. Der Richter fragte: ,Welche Zeugen hast du, die für dich einstehen können?' Darauf erwiderte der Kläger: ,O Herr Kadi, ich fürchtete mich, die Sache irgend jemandem mitzuteilen, damit nicht alle von meinem Geheimnis erfuhren. Allah



1000-und-1_Vol-06-347 Flip arpa

der Erhabene ist mein einziger Zeuge. Dieser Kaufmann war mein Freund, und ich glaubte nicht, daß er sich als unehrlich und ungetreu erweisen würde.' Der Richter fuhr fort: ,Dann muß ich den Kaufmann kommen lassen und hören, was er unter Eid aussagt.' Wie nun der Beklagte kam, ließen sie ihn schwören abei allem, was ihm heilig war, das Gesicht nach der Kaaba gewandt, mit erhobenen Händen; und er rief: ,Ich schwöre, daß ich nichts weiß von irgendwelchen Goldstücken, die 'All Chawâdscha gehören.' Da sprach der Kadi ilm frei und entließ ihn aus dem Gericht; 'All Chawâdscha aber ging traurigen Herzens nach Hause und sprach bei sich selber: ,Weh, was ist das für eine Rechtsprechung, die mir zuteil geworden ist! Ich soll mein Geld verlieren, und meine gerechte Sache soll für ungerecht erklärt werden? Mit Recht heißt es: Wer vor einem Schurken klagt, dem wird sein Recht versagt.' Am nächsten Tage verfaßte er einen Bericht über seine Sache; und als der Kalif Harûn er-Raschîd sich auf dem Wege zum Freitagsgebet befand, warf er sich vor ihm zu Boden und überreichte ihm das Schriftstück. Der Beherrscher der Gläubigen las die Bittschrift, und nachdem er sich den Fall überlegt hatte, geruhte er zu befehlen, indem er sprach: ,Man bringe morgen den Kläger und den Beklagten in die Audienzhalle und lege mir die Bittschrift vor; denn ich will diese Angelegenheit selbst untersuchen.'

An jenem Abend nun legte der Beherrscher der Gläubigen, wie es seine Gewohnheit war, eine Verkleidung an, um in Baghdad über die Märkte und durch die Straßen und Gassen zu wandern; und begleitet von Dscha'far, dem Barmekiden, und Masrûr, dem Träger des Schwertes seiner Rache, zog er aus, um zu erforschen, was in der Stadt geschah. Bald nachdem er hinausgegangen war, kam er auf einen offenen Platz im



1000-und-1_Vol-06-348 Flip arpa

Basar, und dort hörte er den Lärm von spielenden Kindern. Dann sah er in geringer Entfernung etwa zehn bis zwölf Knaben, die sich im Mondenschein vergnügten; und er blieb eine Weile stehen, um ihrem Spiele zuzuschauen. Nun sagte einer von den Knaben, ein hübscher Bursche von heller Hautfarbe. zu den anderen: ,Kommt her und laßt uns jetzt Kadi spielen'; ich will der Richter sein, einer von euch sei 'All Chawâdscha und ein anderer der Kaufmann, dem er die tausend Goldstücke anvertraute, ehe er auf die Pilgerfahrt ging. Tretet nur vor mich her, und ein jeder rede für seine Sache!' Als der Kalif den Namen 'All Chawâdscha hörte, dachte er an die Schrift, die ihm überreicht war mit der Bitte um Rechtsprechung wider den Kaufmann, und er beschloß zu warten, um zu sehen, wie der Knabe die Rolle des Kadis im Spiel darstellen und welche Entscheidung er treffen würde. So beobachtete denn der Herrscher das Prozeßspiel mit lebhafter Aufmerksamkeit, indem er sich sagte: ,Dieser Fall hat wirklich die ganze Stadt in solche Erregung gebracht, daß selbst die Kinder davon wissen und ihn in ihren Spielen darstellen.' Dann traten beide vor, der Knabe, der die Rolle des Klägers 'All Chawâdscha spielte, und sein Gefährte, der den wegen des Diebstahls verklagten Kaufmann von Baghdad darstellte, und sie standen vor dem Knaben, der als Kadi ernsthaft und würdevoll dasaß. Der Richter hub also an: ,'All Chawâdscha, wie lautet deine Klage wider diesen Kaufmann?' Und der Kläger brachte seine Klage in allen Einzelheiten vor. Darauf sprach der Kadi zu dem Knaben, der den Kaufmann spielte: ,Was erwiderst du auf diese Klage,



1000-und-1_Vol-06-349 Flip arpa

und warum hast du die Goldstücke nicht zurückgegeben?' Der Angeklagte gab dieselbe Antwort, die der wirkliche Beklagte gegeben hatte, indem er vor dem Richter alles ableugnete und sich bereit erklärte, seine Aussage zu beschwören. Nun sagte der junge Kadi: ,Ehe du einen Eid schwörst, daß du das Geld nicht genommen hast, möchte ich gern selbst den Olivenkrug sehen, den der Kläger in deiner Obhut zurückließ.' Und dann wandte er sich zu dem Knaben, der 'All Chawâdscha vertrat. und rief: ,Geh hin und bringe mir sofort den Krug, damit ich ihn untersuchen kann!' Als der Krug gebracht war, sprach der Richter zu den beiden Streitführenden: ,Schaut nach und sagt mir: ist dies derselbe Krug, den du, Kläger, bei dem Beklagten zurückgelassen hast?' Und beide erwiderten, es sei derselbe. Alsdann sagte der Richter von eigenen Gnaden: ,Öffnet nun den Krug und bringt mir etwas von seinem Inhalt, damit ich sehe, in welchem Zustande die Sperlingsoliven jetzt sind.' Und er kostete von den Früchten und rief: ,Wie geht das zu? Ich sehe, sie schmecken frisch und sind in vortrefflichem Zustand! Im Laufe von sieben Jahren müßten die Oliven doch gewißlich schimmlicht geworden und verdorben sein. Bringt mir jetzt zwei Ölhändler aus der Stadt; sie sollen ihr Urteil darüber abgeben!' Darauf übernahmen zwei andere von den Knaben die befohlenen Rollen, traten in den Gerichtshof und standen vor dem Kadi still; der fragte: ,Seid ihr Olivenhändler von Beruf?' Sie antworteten: ,Das sind wir, und dies ist der Beruf unserer Vorfahren gewesen seit vielen Geschlechtern; durch den Handel mit Oliven verdienen wir unser täglich Brot.' Weiter fragte der Kadi: ,Sagt mir jetzt, wie lange halten sich Oliven frisch und schmackhaft?' Sie erwiderten: ,O Herr, wenn wir sie auch noch so sorgfältig aufbewahren, so verlieren sie doch nach dem dritten Jahre ihren Geschmack und ihre



1000-und-1_Vol-06-350 Flip arpa

Farbe, und dann taugen sie nicht mehr zum Essen, sondern sind zu nichts mehr gut als zum Wegwerfen.' Dann fuhr der Kadi fort: ,Prüfet nun diese Oliven, die sich in diesem Kruge befinden, und sagt mir, wie alt sie sind und wie ihr Zustand und ihr Geschmack ist!' Die beiden Knaben, die als Ölhändler auftraten, gaben sich den Anschein, als ob sie einige Früchte aus dem Kruge nähmen und sie kosteten, und dann sagten sie: ,O Herr Kadi, diese Oliven sind in gutem Zustande und haben den vollen Geschmack.' Doch der Kadi rief: ,Ihr redet falsch: es ist sieben Jahre her, seit 'Alt Chawâdscha sie in den Krug legte, damals, als er sich auf die Pilgerfahrt begeben wollte.' Sie entgegneten aber: ,Sage, was du willst; diese Oliven sind von der Ernte dieses Jahres, und es gibt keinen einzigen Ölhändler in ganz Baghdad, der uns darin nicht beistimmen würde.' Ferner hieß man den Beklagten die Früchte kosten und riechen, und er konnte nicht umhin, einzugestehen, daß es sich genau so verhielt, wie jene behauptet hatten. Darauf sprach der junge Kadi zu dem jungen Beklagten: ,Es ist klar, daß du ein Schurke und ein Schuft bist, und du hast eine Tat getan, für die du reichlich den Galgen verdienst.' Als die Kinder das hörten, sprangen sie umher und klatschten froh und fröhlich in die Hände; dann ergriffen sie den, der den Kaufmann von Baghdad spielte, und führten ihn wie zur Hinrichtung ab.

Der Beherrscher der Gläubigen, Harûn er-Raschîd, hatte großes Gefallen an dem Scharfsinn des Knaben, der den Richter in dem Spiele dargestellt hatte, und er gab seinem Wesir Dscha'far den Befehl: ,Merke dir den Knaben genau, der in diesem Prozeßspiel der Kadi war, und sieh, daß du ihn mir morgen vorführst; er soll den Fall vor mir wirklich und in vollem Ernst untersuchen, genau so wie wir ihn im Spiel haben



1000-und-1_Vol-06-351 Flip arpa

handeln sehen. Berufe auch den Kadi dieser Stadt, damit er von diesem Kinde die Rechtsprechung lerne. Ferner sende Bescheid an 'All Chawâdscha, daß er den Olivenkrug mitbringen soll, und halt mir auch zwei Ölhändler aus der Stadt bereit.' Diese Befehle erteilte der Kalif dem Wesir, als sie dahinschritten; dann kamen sie zum Palast zurück. Am nächsten Morgen begab sich der Barmekide Dscha'far zu jenem Stadtteile, in dem die Kinder das Prozeßspiel aufgeführt hatten, und fragte den Schulmeister, wo seine Schüler wären; der antwortete: ,Sie sind alle fortgegangen, ein jeder in sein Haus.' Darauf besuchte der Minister die Häuser, die ihm bezeichnet wurden, und befahl, daß die Kleinen vor ihm erscheinen sollten. Als sie ihm dann vorgeführt wurden, sprach er zu ihnen: ,Wer von euch ist es, der gestern abend die Rolle des Kadis gespielt und in der Sache von 'All Chawâdscha das Urteil gefällt hat?' Der Älteste unter ihnen antwortete: ,Das war ich, o Herr Wesir'; aber dann ward er bleich, da er nicht wußte, weshalb die Frage gestellt war. Der Minister rief: ,Komm mit mir; der Beherrscher der Gläubigen bedarf deiner.' Darüber erschrak die Mutter des Knaben gar sehr, und sie begann zu weinen; doch Dscha'far tröstete sie, indem er sprach: ,Gute Frau, hab keine Furcht und mach dir keine Sorge! Dein Sohn wird wohlbehalten zu dir zurückkehren, so Gott will, und mich dünkt, der Sultan wird ihm viel Gunst erweisen.' Als die Frau diese Worte des Wesirs vernommen hatte, ward ihr Herz beruhigt, und sie legte ihrem Sohne voller Freuden sein bestes Gewand an, ehe sie ihn mit dem Wesir fortgehen ließ; der leitete ihn an der Hand in die Audienzhalle des Kalifen und führte auch alle die anderen Befehle aus, die ihm sein Herr gegeben hatte. Nachdem der Beherrscher der Gläubigen sich selber auf den Richterthron gesetzt hatte, wies er dem Knaben einen Sitz zu seiner



1000-und-1_Vol-06-352 Flip arpa

Seite an; und sobald die streitenden Parteien, nämlich 'All Chawâdscha und der Kaufmann von Baghdad, vor ihm erschienen, befahl er einem jeden, seine Sache vor dem Knaben vorzutragen, denn der solle den Prozeß entscheiden. Beide also, der Kläger und der Beklagte, berichteten über ihren Streit vor dem Knaben in allen Einzelheiten; doch als der Beklagte alle Schuld bestimmt ableugnete und schon einen Eid schwören wollte, daß seine Aussage wahr sei, mit erhobenen Händen und das Gesicht nach der Kaaba gewandt, hielt der junge Kadi ihn zurück und sprach: ,Genug! Schwöre nicht eher, als bis es dir befohlen wird! Zunächst soll der Olivenkrug vor den Gerichtshof gebracht werden.' Alsbald wurde der Krug geholt und vor ihn gestellt; dann befahl der Knabe, ihn zu öffnen, kostete eine Frucht und gab auch den beiden Ölhändlern, die vorgeladen waren, damit sie gleichfalls kosteten und erklärten, wie alt die Früchte wären, und ob ihr Geschmack gut oder schlecht wäre. Sie taten nach seinem Geheiß und sagten: ,Der Geschmack dieser Oliven ist unverändert, und sie sind von der Ernte dieses Jahres.' Darauf sprach der Knabe: ,Mir scheint, ihr irrt euch; denn 'All Chawâdscha legte die Oliven vor sieben Jahren in den Krug. Wie könnten Früchte aus diesem Jahre hineingelangt sein ?' Doch sie erwiderten: ,Es ist, wie wir sagen; wenn du unseren Worten nicht glaubst, sende sofort nach anderen Ölhändlern und befrage sie, dann wirst du sehen, ob wir die Wahrheit oder die Unwahrheit sagen.' Als nun der Kaufmann von Baghdad einsah, daß es ihm nicht mehr gelingen konnte, seine Unschuld zu erweisen, gestand er alles, nämlich daß er die Goldstücke herausgenommen und den Krug mit frischen Oliven gefüllt hatte. Wie der Knabe das hörte, sprach er zu dem Beherrscher der Gläubigen: ,O huldreicher Herrscher, gestern abend haben wir diese Sache im Spiel entschieden;



1000-und-1_Vol-06-353 Flip arpa

aber du allein hast die Macht, die Strafe zu verhängen. Ich habe das Urteil in deiner Gegenwart gefällt, und ich bitte dich in Demut, daß du diesen Kaufmann nach dem Gesetze des Korans und dem Brauche des Propheten bestrafst; und dann befiehl, daß die tausend Goldstücke an 'All Chawâdscha zurückgegeben werden; denn es ist bewiesen, daß sie sein Eigentum sind!' Darauf befahl der Kalif, daß der Kaufmann von Baghdad abgeführt und gehängt werden sollte, nachdem er gestanden habe, wo er die tausend Goldstücke verborgen hatte, und daß diese dann ihrem rechtmäßigen Eigentümer 'All Chawâdscha zurückgegeben würden. Dann wandte er sich auch zu dem Kadi, der die Sache so voreilig abgeurteilt hatte, und hieß ihn von jenem Knaben lernen, wie er seine Pflicht eifriger und gewissenhafter ausüben könnte. Den Knaben aber umarmte der Beherrscher der Gläubigen, und er befahl dem Wesir, ihm tausend Goldstücke aus dem königlichen Schatze zu geben und ihn sicher in sein Haus zu seinen Eltern zurückzuführen. Und als der Knabe zum Mann herangewachsen war, machte der Beherrscher der Gläubigen ihn zu einem seiner Tischgenossen und förderte sein Wohlergehen und erwies ihm stets die höchsten Ehren. Ferner wird erzählt


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt