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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


15. Die böse Mutter

Es war einmal ein Kaiser. Zehn Jahre war er schon verheiratet und hatte noch kein Kind. Doch Gott gab, daß seine Gemahlin, die Kaiserin, schwanger wurde und ein Kind gebar. Und dieses Kind war ein Held, wie es noch keinen anderen auf der ganzen Welt gegeben hat. Ein halbes Jahr lang überlebte der Kaiser die Geburt seines Sohnes, und dann starb er. Was sollte der Knabe machen? Er ging auf Heldentaten aus. Viel Zeit verging, da kam er an einen großen Wald. Und in dem Walde waren einige Häuser. Und in diesen Häusern wohnten zwölf Unholde. Der Knabe begab sich schnurstracks dorthin und sah, daß niemand drinnen war. Er machte die Türen auf und ging hinein und sah einen Dolch am Nagel hängen, nahm ihn, legte ihn hinter die Türe und wartete dort, bis die Ungeheuer kamen. Zum Glück kamen sie nicht alle auf einmal ins Haus, sondern immer nur einer nach dem anderen. So saß der Knabe hinter der Tür und lauerte mit dem Dolche in der Hand. Demjenigen, der gerade eintrat, schnitt er den Kopf ab und warf ihn in den Keller. Auf diese Weise tötete der Knabe alle Ungeheuer. Nur eines blieb noch, das kleinste. Der Knabe ging hinter ihm her hinaus, und sie wollten sich schlagen. Einen halben Tag hieben sie aufeinander ein, bis endlich der Knabe den Drachen unterwarf, ihn hernahm und in ein Faß warf und dieses Faß gut verschloß. Da ging der Knabe eines Tages einmal spazieren und stieß noch auf andere Häuser, in denen nur ein einziges



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Mädchen war; und als er das Mädchen erblickte, da verliebte er sich in es und ebenso das Mädchen in ihn. Aber das Mädchen war eine Heldin, größer als der Knabe. Aber sie liebten sich sehr. Da sagte der Knabe zum Mädchen, daß er elf Drachen getötet habe, aber einen am Leben gelassen und in ein Faß gesteckt habe. Das Mädchen sagte: »Das hast du schlecht gemacht, daß du ihn nicht getötet hast. Nun mußt du ihn am Leben lassen.«

Da sagte der Knabe dem Mädchen: »Schau, ich gehe und hole meine alte Mutter, die ist so allein und einsam zu Hause.« Darauf sagte das Mädchen: »Hole sie, aber du wirst es bereuen, aber geh nur und hole sie und wohne mit ihr zusammen.« Da brach der Knabe auf, holte seine Mutter und führte sie in die Häuser der zwölf Ungeheuer, von denen er elf getötet hatte. Er sagte zu seiner Mutter: »Schau, durch alle Zimmer kannst du gehen, nur dieses eine darfst du nicht betreten.« Darauf versprach ihm die Mutter: »Ich gehe nicht hinein, mein Sohn.« Da ging der junge Held in den Wald auf die Jagd. Währenddessen begab sich die Mutter doch an das Zimmer, in das sie nicht gehen sollte. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, als sie den Drachen sah, der ihr sagte: »Kaiserin, gib mir ein wenig Wasser, denn auch ich werde dir Gutes tun.« Sie ging und gab ihm Wasser, und er fragte sie: »Liebst du mich? Ich werde dich zur Frau nehmen und zu meiner Kaiserin machen.« Sie sagte: »Ich habe dich lieb.« Darauf sagte der Unhold wieder zu ihr: »Schau, was du tun sollst, damit du deinem Sohne entrinnst, und damit wir beide zusammen bleiben. Du stellst dich krank und sagst, daß du einen Traum gehabt habest, er solle dir ein Ferkel von der Sau holen, die jenseits in der andern Welt sitze, und sag ihm, wenn er es dir nicht holen will, wirst du sterben. Aber wenn er dir's holen will, sag' ihm, daß du gesund wirst.« Sie ging ins Haus und band sich ein Tuch um den Kopf und stellte sich krank. Als der Sohn nach Hause kam und sie mit verbundenem Kopfe sah, fragte er sie: »Was hast du denn gemacht,



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Mutter?« Sie antwortete: »Ich bin krank, mein Sohn, ich werde wohl sterben. Aber siehe, ich habe einen Traum gehabt, ich soll ein Spanferkel essen, ein Ferkel von der Sau, die sich auf der andern Welt befindet.« Darauf fing der Sohn an zu weinen, daß seine Mutter sterben müsse. Und er ging hinaus und begab sich zu seiner Geliebten und sagte ihr: »Liebes Mädchen, meine Mutter wird wohl sterben, doch sie hat einen Traum gehabt, daß ich ihr aus der andern Welt ein Ferkel holen soll.« Das Mädchen sagte: »Geh, aber sei klug; wenn du zurückkommst, komm gleich zu mir. Nimm mein Pferd, das zwölf Flügel hat, aber laß dich ja nicht von der Sau fassen, denn sie wird dich und das Pferd fressen.« Und der junge Held nahm das Pferd und brach auf. Er kam dort an. Und als gerade die Sonne im Mittag stand, ging er zu den kleinen Schweinen, nahm eins an sich und entfloh. Da hörte die Sau das Ferkel quieken und wollte nach dem Kaisersohn schnappen. Und gerade an der Erdspalte, in dem Augenblicke, als das Pferd wieder ins Diesseits springen wollte, da holte die Sau das Pferd ein und fraß den halben Schwanz des Pferdes, und glücklich kam der junge Held wieder zurück.

Das Mädchen ging hinaus, nahm das Ferkel, verbarg es und setzte ihm ein anderes hin. Da ging der Held zu seiner Mutter ins Zimmer und gab ihr das Ferkel. Sie bereitete das Essen und aß und sagte, daß es ihr wohlgetan habe. Doch nach drei bis vier Tagen wurde sie wieder krank. So hatte es sie der Drache gelehrt. Als der Knabe kam, fragte er sie: »Was hast du denn wieder, Mutter?« — »Schau, wieder bin ich krank geworden und habe einen Traum gehabt, du sollst mir einen Apfel holen vom goldenen Apfelbaum aus der anderen Welt.« Wieder ging der Knabe zum Mädchen. Wie es ihn so betrübt sah, fragte es ihn: »Was hast du denn?« — »Schau, was ich gemacht habe, wie es mir ergeht. Meine Mutter ist wieder krank geworden. Sie hat einen Traum gehabt, ich solle ihr einen Apfel aus der anderen Welt bringen.« Da wußte die Tochter, daß seine Mutter darauf ausginge, seinen



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Kopf zu essen, d. h. ihm nach dem Leben trachtete, und sie sagte dem Knaben: »Nimm mein Pferd und gehe. Aber sei klug und laß dich nicht vom Apfelbaum fassen. Und wenn du zurückkommst, so komme gleich zu mir.« Da brach der Knabe auf, erreichte das Ende der Welt, ließ sich durch die Erdspalte hinunter und kam zum Apfelbaum, als es gerade Tag war und die Apfel schliefen. Er nahm sich einen Apfel und schlich sich hinaus. Doch die Blätter fühlten es und fingen an zu zittern. Da lief der Apfelbaum immer hinter ihm her und wollte ihn greifen und ihn töten. Doch der Knabe gelangte glücklich wieder in die diesseitige Welt und eilte zum Mädchen. Da nahm das Mädchen ihm heimlich den Apfel weg und verbarg ihn und legte ihm einen anderen dafür hin. Der Knabe blieb noch ein Weilchen und ging dann zu seiner Mutter. Als die Mutter ihn sah, fragte sie ihn: »Hast du ihn, mein Sohn?« — »Ja, ich habe ihn.« Sie nahm den Apfel und aß ihn und sagte, daß sie nun nichts mehr wolle und ihr nichts mehr fehle.

Doch nach einer Woche sagte ihr der Unhold, sie solle sich wieder krank stellen und solle Wasser aus den hohen Bergen verlangen. Wieder wurde sie krank, und als der Knabe sie wieder krank sah, weinte er und fragte: »0 du lieber Gott, meine Mutter wird mir sterben, immer wieder wird sie krank.« Er ging zu ihr und fragte sie: »Was hast du denn, Mutter?« — »Ach, ich werde wohl sterben, mein Sohn, aber ich werde wieder aufstehen, wenn du mir Wasser von den hohen Bergen bringst.« Da hielt es den Jungen nicht länger. Er eilte zum Mädchen und sagte zu ihm: »Ach, meine Mutter ist wieder krank geworden. Sie hat einen Traum gehabt, ich solle ihr Wasser von den hohen Bergen bringen.« Das Mädchen sagte: »Geh, mein Lieber. Doch diesmal habe ich Angst, daß dich die Wolken und die Berge dort greifen und dich töten könnten. Aber nimm mein Pferd, das 22 Flügel hat, und wenn du dort ankommst, so verweile erst und halte dich einen halben Tag in der Nähe auf. Gerade zur Mittagszeit



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setzen sich die Berge und die Wolken zu Tisch und essen. Aber du eile in dieser Zeit und nimm einen Krug, schöpfe schnell Wasser und fliehe.« Da nahm der Knabe den Krug und machte sich auf zu den Bergen und verweilte, bis die Sonne gegen Mittag stand. Er nahm das Wasser und floh, aber die Wolken und Berge hatten ihn gesehen und eilten hinter ihm her. Doch sie konnten ihn nicht mehr erreichen. Der Knabe kam zum Mädchen. Es nahm heimlich den Krug mit Wasser und setzte ihm dafür einen anderen hin, ohne daß er es wußte. Da erhob sich der Knabe und ging nach Hause und gab seiner Mutter das Wasser. Sie wurde wieder gesund. Da ging der Knabe in den Wald auf die Jagd. Doch die Mutter begab sich zum Drachen und sagte zu ihm: »Er hat mir auch das Wasser gebracht. Was soll ich mit ihm bloß noch anfangen?« — »Schau, was du anfangen sollst. Setze dich zu ihm und spiele Karten mit ihm. Aber sag ihm, er solle sich dabei binden lassen, so hättet ihr auch mit seinem Vater gespielt.« Als der Knabe nach Hause kam, sah er seine Mutter in guter Laune. Ihm schien es ein gutes Zeichen und es freute ihn. Als sie bei Tische saßen und aßen, da sagte sie zu ihm: »Lieber Sohn, als dein Vater noch lebte, was machten wir denn da? Nachdem wir gegessen und uns erhoben hatten, spielten wir Karten mit gebundenen Händen.« — »Wenn du willst, Mutter, so spiele doch mit mir.« Sie setzten sich, um zu spielen. Dann holte seine Mutter Seidenstricke und band ihm beide Hände so fest, daß das Seil in seine Hände schnitt. Da fing der Knabe an zu weinen und sagte zu seiner Mutter: »Mutter, lockere die Fesseln, ich sterbe sonst.« Sie aber sagte: »So wollte ich es gerade mit dir machen, auf diesen Augenblick habe ich schon lange gewartet«, und sie rief den Unhold: »Komm heraus, Drache, eile herbei und töte ihn.« Da kam der Drache heraus, griff ihn, zerschnitt ihn in Stücke, steckte ihn in einen Sack und band ihn auf sein Pferd, das er verjagte. Zum Abschied gab er dem Pferde die Worte mit: »Pferdchen, trage ihn als Toten, wohin du ihn als Lebendigen



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getragen hast.« Doch das Pferd kannte den Weg zu der Geliebten des Helden. Es eilte gerade zu der Geliebten. Als das Mädchen das Pferd erblickte, da fing es an zu weinen, nahm den Sack mit den Gebeinen vom Pferd und setzte Stück auf Stück, und wo es nicht reichte, da zerschnitt es ein Ferkel und setzte ihm Fleisch vom Ferkel ein. So brachte es jedes einzelne Stück an seine Stelle. Dann holte es jenes Wasser und übergoß ihn, daß es zusammenhielt und die Gelenke sich fügten, tröpfelte ihm den ausgepreßten Saft jenes Apfels in den Mund und machte ihn wieder lebendig. Da erhob sich der Knabe und begab sich zu seiner Mutter nach Hause, schlug einen Pfahl in den Erdboden, wickelte sie in eine Schilfmatte mit dem Drachen zusammen und legte Feuer an die Matte, daß beide verbrannten. Von dort ging er wieder zurück zu seiner Geliebten und machte Hochzeit und feierte drei Monate lang, Tag und Nacht. Und von dort bin ich gekommen und habe es euch erzählt.


Copyright: arpa, 2015.

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