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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


12. Der liebe Gott und die verstoßene Stieftochter

1

Es war ein alter Mann, der hatte eine Tochter. Sie war noch klein und konnte ihren Kopf noch nicht waschen, darum war er von Läusen ganz zerfressen. Die Tochter fragte: »0 Vater, warum nimmst du keine Frau, damit sie uns waschen kann, wir werden ja von den Läusen ganz zerfressen.«

Da nahm der Vater eine Frau. Diese hatte aber schon eine eigene Tochter, und so kam, was kommen mußte. Das Weib sagte zu ihrer Stieftochter: »Höre mich an, du schlechtes Frauenzimmer, nimm diese weiße Wolle, gehe zum Fluß hinunter und wasche sie, bis sie schwarz wird. Ehe die Wolle nicht schwarz ist, darfst du nicht nach Hause zurückkehren, sonst töte ich dich.«

Die Tochter ging von dannen, machte einen Kuchen aus Mist und ging hinunter zum Flusse. Sie blieb und wusch die Wolle einen Abend, zwei Abende, drei Abende. Je mehr sie die Wolle wusch, um so weißer wurde sie, aber schwarz wurde sie nicht. Auf einmal stieg der liebe Gott herunter und fragte das Mädchen: »Was tust du, mein Kind?« — »Schau, Vater, ich wasche die Wolle.« — »Nun, warum wäschst du sie?« — »Sieh, ich habe eine Stiefmutter, sie hat mich hergeschickt, um die Wolle zu waschen. Ehe ich sie nicht statt weiß schwarz gewaschen habe, darf ich nicht heimkommen, sonst, sagte sie, würde sie mich töten.« So sprach sie zu dem Alten. Der liebe Gott ging von dannen. Was sieht er in dem Feuer? Einen Dungkuchen, der zu Asche verbrannt war. Den schlägt Gott mit seinem Stabe, macht einen Kuchen daraus und bearbeitet ihn, bis er größer wird, dann tritt er wieder zu dem Mädchen heran. »Kind! Nimm deinen Kuchen heraus und iß ihn.« — »Aber, Vater, er ist noch nicht gebacken.« — »Gehe nur hin, mein Kind«, sagte der liebe Gott, »er ist gebacken.« Als es nun hingeht, was sieht das Mädchen? Einen feinen, schön aufgegangenen Kuchen. Sie setzt sich nieder, um zu essen,



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und ißt den ganzen Kuchen bis auf das letzte Krümchen auf. Da nähert der liebe Gott sich ihr und spricht: »Kind, lause mich.«

Der liebe Gott neigt sich in des Mädchens Arme, und das Mädchen laust ihn und streichelt ihn. Der liebe Gott fragt: »Was hast du gefunden, Kind?« Und das Mädchen sagte: »Silber, Vater.« Da spricht Gott: »Kind, warte, ich will mich umwenden, damit du mich auch von dieser Seite untersuchen kannst.« Der liebe Gott dreht sich auf die andere Seite, und das Mädchen sucht wieder. Gott fragt: »Was entdeckst du, Kind?« — »Gold, Vater.« Und Gott sagt: »Mein liebes Kind, da du nun in Silber und Gold wandelst, magst du wie eine Kerze brennen und scheinen.« Da glänzte das Mädchen und glitzerte von Silber und Gold. Nun erhob sich der liebe Gott und berührte mit seinem Stabe die Wolle, und statt weiß wurde sie schwarz. »Nimm jetzt deine Wolle, mein Kind, und gehe heim.« Was sieht das Mädchen? Der liebe Gott hatte die Wolle schwarz gemacht. Nun nimmt das Mädchen die Wolle und geht nach Hause.

Da die Stiefmutter sieht, wie das Mädchen in Schönheit strahlt und von Silber und Gold funkelt, erhebt sie sich von ihrem Sitz und fordert das Mädchen auf, sich zu setzen. Sie sagt zu ihrer eigenen Tochter: »Sieh, Kind . . . du kannst sie essen . . . und ihren Kot. Sieh, dich habe ich immer mit Butter und Eiern ernährt, aber für sie machte ich Brot aus Dung, um sie zu ernähren. Schnell, du Hure, gehe auch hin.« Die Mutter gibt ihr weiße Wolle und bereitet für sie Eier mit Butter zu; damit ging nun auch ihr Kind zum Fluß.

Sie geht hin und wäscht einen Abend, zwei Abende, drei Abende in dem Fluß. Plötzlich steht der liebe Gott vor ihr. »Wie geht's, mein Kind?« Aber voll Arger sagt sie: »Solch ein alter Esel, der sich da um mich kümmert!« Noch einmal fragt er: »Wie geht's?« Wieder sagt das Mädchen: »So ein alter Esel kümmert sich um mich!« Da spricht Gott zu ihr: »Warte nur, Kind, Gott kann dich zur Hälfte in eine Eselin



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und zur Hälfte in ein Weib verwandeln, und alle Esel, die es gibt, sollen dir folgen, so daß du deinen Kopf nicht erheben kannst wegen der Esel.« Das Mädchen geht heim. Was sieht da die Mutter? Zur Hälfte eine Eselin und zur Hälfte ein menschliches Wesen, und alle männlichen Esel hinter ihr her. Die Mutter treibt die Esel fort und bringt das Mädchen ins Haus.

Die Mutter näht nun einen Rock genau wie den der anderen Tochter, so daß auch sie in Silber und Gold schimmert und glänzt.

2

Des Königs Sohn hört davon und wird krank vor Liebe. Ach, er will sterben! Der König fragt ihn: »Mein Sohn, was fehlt dir? Hast du nicht genug zu essen, oder hast du kein Geld mehr?« — »Ich will weder Euer Geld noch Euer Essen. Aber ich bin verliebt . . . Da lebt irgendwo die Tochter einer alten Frau, nach ihr sehne ich mich, laß sie zu mir bringen.«

Die Frau erfährt, daß des Königs Sohn die Stieftochter haben will. Die Frau steht auf, kleidet ihre eigene Tochter an, und diese funkelt und glänzt in Silber und Gold. Ihre Stieftochter aber verbirgt sie unter einem Trog. Da kommt auch schon der König mit seinem Wagen angefahren. Sie führt ihre Tochter heraus und setzt sie in einen Wagen.

Ein Hahn kräht: »Kikeriki, die schöne Tochter ist unter dem Trog, und die Eselin sitzt in der Kutsche.« Und der Hahn kräht wieder: »Kikeriki, die schöne Tochter ist unter dem Trog, und die Eselin sitzt in der Kutsche.« Da spricht eine alte Hexe: »0 König, hört, wie der Hahn kräht!« Der König lauscht, um es verstehen zu können. Wieder ruft der Hahn: »Kikeriki, die schöne Tochter sitzt unter dem Trog und die Eselin im Wagen.« Der König hört es. Was sieht er, wie er den Trog emporhebt? Das Mädchen, wie es glänzt und funkelt. Wenn sie weint, so vergießt sie Perlen, wenn sie lacht, fallen Rosen aus ihrem Munde. Der König nimmt sie



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und setzt sie in den Wagen, und sie fahren miteinander zum Schlosse.

Sie fahren und fahren. Unterwegs aber macht die Stiefmutter eine Schüssel voll Lokum 1, jedoch ganz versalzen. Davon gibt sie ihrer Stieftochter. Sowie die davon ißt, stirbt sie fast vor Durst, weil es so sehr versalzen war. »Komm, Mutter, gib mir ein wenig Wasser, damit ich trinken kann.« Die Stiefmutter sagt: »Kind, komme her, damit ich dir eins deiner Augen herausnehmen kann, dann will ich dir zu trinken geben.« Das Mädchen sagt: »Komm, Mutter, wenn du mir sonst böse bist, nimm eins meiner Augen heraus, wenn du es gern möchtest.« Und noch einmal bittet das Mädchen: »Komm, Mutter, gib mir etwas Wasser, ich sterbe sonst vor Durst. Du gabst mir das gesalzene Lokum, und nun willst du mir kein Wasser zu trinken geben?« Da sagt die Mutter: »Komm, damit ich dir dein Auge herausnehme, dann will ich dir zu trinken geben.« Das Mädchen sieht, was sein Los ist. Sie gibt also ihr Auge preis, und die Stiefmutter reißt es heraus. Jetzt gibt diese ihr einen Tropfen zu trinken. Das Mädchen sagt: »Bitte, Mutter, du hast mir mein Auge herausgenommen, nun gib mir wenigstens so viel zu trinken, daß ich meinen Durst löschen kann.« Die Stiefmutter sagt: »Komme her, daß ich dir noch das andere Auge ausreißen kann, und ich will dir genug zu trinken geben.« Das Mädchen sagt: »Warum, Mutter, bist du so böse auf mich, daß du auch dieses Auge haben willst und ich ohne die beiden blind sein werde?« — »Eh, mein Kind, wie du willst . .« Das Mädchen merkt, daß ihr nichts anderes übrigbleibt. Also gibt sie auch ihr zweites Auge hin, und die Stiefmutter reißt es aus. Sie reicht ihr den Becher, und das Mädchen trinkt, bis der Durst gelöscht ist.

Sie fahren immer weiter, bis sie zu Dornsträuchern kommen. Dort stößt sie das Mädchen aus dem Wagen und wirft es zwischen die Dornen. Dann reisen sie weiter in die Stadt



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des Königs. Einen Tag, zwei Tage bleiben sie beim König, essen und trinken.

3

Es war ein Türke, der hatte zwanzig Söhne. Täglich wollen sie vor Hunger sterben, sie töten immerzu Sperlinge und andere Vögel und verzehren sie, anstatt Brot zu essen.

Bei Tagesanbruch geht der alte Türke auf die Jagd. Was sieht er? In den Dornsträuchern sitzt ein Mädchen, das scheint und strahlt von Silber und Gold. Der Türke nähert sich ihr. Beim Gehen schlürft er mit den Füßen. Das Mädchen hört es, da sie auf dem Rücken liegt. »Wer bist du, der sich mir naht? Wenn du ein junger Mann bist, sei mein Bruder, wenn du ein alter Mann bist, sei mein Vater, wenn du eine alte Frau bist, sei meine Mutter, wenn du ein junges Mädchen bist, sei meine Schwester.« Der Türke tritt zu ihr hin. »Ich bin ein alter Türke.« — »Ich bitte dich, nimm diese Perlen und diese Rosen. Der König gibt ein Hochzeitsfest; dahin gehe, um sie zum Verkauf anzubieten, und rufe aus: >Ich verkaufe Perlen, ich verkaufe Rosen!< Aber wenn man sie mit Geld bezahlen will, nimm kein Geld, sondern sage: >Ich bekam sie für Augen, ich gebe sie für Augen.«

Die Stiefmutter kommt heraus. »Heda, alter Mann, komm her! Was verkaufst du?« Der Türke erwidert: »Ich verkaufe Perlen, ich verkaufe Rosen!« Des Mädchens Stiefmutter fragt den Türken: »Wieviel Geld verlangst du für die Perlen?« Der Türke sagt: »Ich verkaufe nicht für Geld. Ich nahm sie für Augen, ich verkaufe sie für Augen.« Sie nimmt die Perlen und nimmt ein Auge aus der Tasche und gibt es ihm. »Aber was willst du für die Rosen haben?« — »Auch sie bekam ich für Augen und gebe sie nur für Augen.« Die Tochter sagt zu ihrer Mutter: »Mutter, gib auch das andere Auge, der schlechten Person Auge, und kaufe mir auch die Rosen.« Sie gibt auch das andere Auge und kauft die Rosen. Der Türke nimmt die beiden Augen und geht zu dem Mädchen zurück.



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Hoch oben fliegen drei Gänse. Die ältere Gans sagt: »Hallo, jenes Mädchen ist blind und liegt auf dem Rücken. Sie soll wissen und hören, daß ich eine Feder auf sie niederfallen lassen will. Und sie soll es vernehmen, daß sie um sich herumtasten soll. Ich will die Feder dicht neben sie fallen lassen, dann soll sie suchen und die Hand ausstrecken und um sich herumtasten und jene Feder nehmen und fortgehen. Und drüben ist eine Quelle. Zu dieser Quelle soll sie hinaufgehen und sich dreimal verneigen und die Feder in die Quelle tauchen - es ist Wasser von der Quelle Zemzem 1. Dreimal soll sie die Feder in das Wasser tauchen und ihre Augen auswaschen. Und sie werden doppelt so schön werden, wie sie gewesen sind.«

Das Mädchen hörte alles mit an. Da kam der Türke. »Bist du da?« fragte das Mädchen den Türken. »Sieh dich um, liegt eine Feder bei mir?« Der Türke suchte und fand sie und sagte: »Ja, gerade neben dir liegt die Feder.« Er nahm sie und gab sie dem Mädchen. »Richte mich nun auf und führe mich«, bat das Mädchen. »Merke auf, drüben ist eine Quelle, führe mich zu ihr.« Der Türke führte sie zu der Quelle hinauf. »Nun gehe«, sagte das Mädchen zu dem Türken, »und bleib stehen - sieh dorthin.« Sie verließ ihn in einer Entfernung von einer halben Stunde. Das Mädchen stieg zur Quelle hinauf. Sie legte sich nieder und tauchte die Feder einmal ein und strich sich damit einmal über ihre Augen. Wieder beugte sie sich nieder und tauchte die Feder zweimal ein und fuhr sich damit über die Augen.

Das tat sie dreimal. Die Augen waren doppelt so schön wie die früheren Augen. Sie rief nun den Türken: »Komm nun herauf zu mir.« Da schenkte sie ihm zwei Hüte voll Münzen und Napoleons zur Belohnung dafür, daß er ihr die Augen gebracht hatte. Und der Türke ging von dannen.



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Nun begab sie sich vor das Tor des Königsschlosses. Dort verwandelte sie sich in einen Birnbaum, und die Zweige brachen fast unter der Fülle der Birnen. Was sah der König, als er morgens aufstand? Vorne am Gitter einen Birnbaum, der unter der Fülle der Birnen zu brechen schien. Als die Stiefmutter das sah, sagte sie zu ihrer Tochter: »Kind, sicher ist das die Hure, sie nahm ihre Augen, als ich dir die Perlen und die Rosen kaufte. Ich gab die Augen, und nun ist sie wieder geheilt.«

Die Tochter stellte sich nun krank. Die Mutter sagt: »Kind, ich will Kuchenteig rollen und die Kuchen unter dich in dein Bett legen. Sobald der Abend hereinbricht, wird dein Gatte kommen. Du mußt dich über die Kuchen wälzen. Krsch! Krsch! Sie werden unter dir zerbrechen, und du mußt seufzen. Wenn dein Mann dich fragt, mußt du sagen: >Ich habe eine Erscheinung gehabt. Wenn du den Birnbaum fällen läßt und gibst mir von der Wurzel zu essen, so werde ich genesen.<«

Der Königssohn ist damit einverstanden, den Birnbaum zu fällen. Das Mädchen merkt es, flieht und verwandelt sich in eine Pappel gerade vor dem Königsschloß. Er aber schlägt den Birnbaum nieder und geht zu seinem jungen Weibe. »Nun, bist du wieder gesund?« — »Ach«, seufzt die Frau, »ich bin noch nicht genesen, ich bin noch sehr krank. Ich habe aber eine Erscheinung gehabt. Wenn du die Pappel fällst und ich davon esse, so werde ich wieder gesund.« Der Königssohn geht, haut die Pappel um und spaltet sie in Stücke.

Eine alte Zigeunerin sitzt gegenüber. »Warum gehe ich nicht hin und nehme von dem Pappelholz, um meine zerbrochene Türe auszubessern?« Die alte Zigeunerin nimmt also ein Stück von dem Holz und nagelt es an ihre Tür.

Es wurde Abend. Das Mädchen ging hin, um sie zu sprechen: »Dank, alte Frau, daß du jenes Holz genommen und mein Herz, mein Leben erhalten hast. Ich, alte Frau«, sagt das Mädchen, »geize nicht. Was du auch haben möchtest, Zucker, Kaffee, alles, alles werde ich dir bringen.«



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Eine Nacht, zwei Nächte vergehen. Die alte Frau fragt sie beständig: »Nun, Kind, wo befindet sich dein Herz hauptsächlich?« Denn sie, die Mutter der Tochter, hatte der alten Frau aufgetragen, zu fragen, wo ihr Herz und ihre Kraft sich befinde. Das Mädchen antwortet: »Du, Alte, welchen Nutzen hast du davon, mich zu fragen, wo mein Herz und meine Stärke ist? Ich will es dir sagen, aber warte, erst muß ich veranlassen, daß für mich dem Palaste des Königs gegenüber eine Gruft errichtet wird.« Das Mädchen steht auf, baut sich eine Gruft, rundum ganz aus Glas; wenn sie weinte, strömte sie Perlen aus, wenn sie lachte, streute sie Rosen. Der Abend kam. Sie kommt zu der alten Frau. »Heda, Alte, du verlangst zu wissen, wo mein Herz und meine Stärke sind. Komme mit mir dorthin, ich werde es dir sagen.« Sie gingen zur Gruft. Das Mädchen stieg hinein und sagte: »Ich werde dir sagen, wo mein Herz ist, aber ich werde dann augenblicklich sterben, und du bist schuld daran.« Das Mädchen sagte: »Mein Herz ist jenes Holz. In dem Augenblick, in dem du irgendwie daran stößt, werde ich sterben, und wenn jemand den kleinen Zeh meines Fußes berührt, werde ich augenblicklich sterben.« Das Mädchen sprach so und fiel tot nieder.

Wie sie nun in ihrer Gruft ruhte, schimmerte und strahlte sie in Schönheit. Um sie herum nur Perlen und Rosen, und sie lag eingebettet in Rosen und Perlen.

Der Abend brach herein.

Der Tag brach an. Des Königs Sohn geht vorüber. Was sieht er? Vor ihm befindet sich eine Gruft, ganz aus Glas, darin ruht ein Mädchen, tot, aber sie funkelt und glänzt. Wenn sie weint, vergießt sie Perlen, wenn sie lacht, streut sie Rosen. Des Königs Sohn verliebt sich in das Mädchen im Grabe und er vermählt sich mit ihr in dem Glassarge. Sie aber wird von des Königs Sohn schwanger und gebärt einen Knaben. Der Knabe liegt da mit einem silbernen Apfel in der Hand und spielt. Er gleicht seiner Mutter: wenn er weint, vergießt er Perlen, wenn er lacht, streut er Rosen.



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Ein Tag, zwei Tage, eine Woche vergehen. Des Königs Sohn sagt allein zu sich selbst: »Gott, warum treibt mich die Sehnsucht nicht zu jenem Mädchen? Es ist lange her, daß ich nicht zu ihr gegangen bin.« Und er geht zu ihr. Was sieht er? In ihren Armen einen Knaben, dem sie das Leben gegeben hat; in der Hand hält er einen silbernen Apfel, mit dem er spielt. Wenn dieser Knabe weint, fließen Perlen, wenn er lacht, streut er Rosen. Des Königs Sohn tritt ein und nimmt den Knaben in die Arme.

Der kleine Knabe sagt: »Ich will nicht mit dir gehen, ich kann meine Mutter nicht allein lassen. Könnte ich aber gehen, dann wehe jenem verfluchten alten Weibe, das meine Mutter ums Leben brachte.« Des Königs Sohn fragt den Knaben: »Wie machte denn das die Alte?« — »Wie sie es tat? Du, wenn du mich und meine Mutter liebst, gehe zu der alten Frau und tritt durch ihre Kammertür. Gehe aber nicht durch die erste, gehe durch die zweite. Da befindet sich ein Stück Holz, aus einer Pappel herausgeschnitten. Bringe es hierher, und meine Mutter wird aufwachen.«

Da holte er das Stück Holz und ging wieder zu dem Mädchen. Das Mädchen sagte: »Ach, ich war sicherlich eingeschlafen.« — »Du schliefst, denn die alte Frau hatte dich umgebracht.« Das Mädchen stand auf, und des Königs Sohn umarmte sie. Dann setzte sie sich und erzählte der Reihe nach, wie es ihr ergangen war:

5

»Ich, — du weißt ja - du sandtest deinen Vater zu mir hin, daß er zu mir kommen und mich holen solle. Dein Vater kam mit Wagen, um mich zu dir zu führen, denn du hattest ihn ja dazu veranlaßt. Dein Vater kam, um mich zu fordern. Ich habe eine Stiefmutter, und sie hat eine Tochter. Kaum hatte sie gesehen, daß die Wagen kamen, als sie mich unter dem Trog versteckte und ihre eigene Tochter in den Wagen packte. Wir haben einen Hahn. Der Hahn ruft: >Kikeriki, die Hübsche



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ist unter dem Trog, und die Halbeselin ist im Wagen!< Wieder ruft der Hahn: >Kikeriki, die Hübsche ist unter dem Trog, und die Halbeselin im Wagen!< Dann zum drittenmal. >König, höre doch<, sagt eine alte Hexe, >was der Hahn kräht!< Der Hahn kräht wieder: >Kikeriki, die Hübsche ist unter dem Trog und die Halbeselin im Wagen!< Der König hört es und holt mich unter dem Troge hervor. Was sahen die Leute? Wenn ich weinte, flossen Perlen, wenn ich lachte, fielen Rosen.

Meine Stiefmutter warf mich auch in einen Wagen. Wir fuhren und fuhren. Unterwegs bereitete sie mir Lokum, eine ganze Schüssel voll Lokum, aber ganz versalzen, und ich aß und verging fast vor Durst. Als ich sie um Wasser bat, sagte sie zu mir: >Laß dir eins deiner Augen ausreißen, und ich will dir Wasser geben.< Ich sagte zu ihr: >Mutter, wie bist du böse gegen mich, daß du mein Auge herausnehmen willst, um mir dafür ein bißchen Wasser zu geben.< Was blieb mir übrig? Sie nahm mir das Auge heraus und gab mir ein wenig Wasser. Ich bat sie: >Mutter, gib mir wenigstens so viel, daß ich meinen Durst löschen kann.< — >Eh, laß dir dein anderes Auge auch herausnehmen, und ich will dir so viel Wasser geben, wie du haben willst.< Ich gebe das andere Auge auch hin, sie reißt es aus. Wir fahren, bis wir zu einem Dorngesträuch kommen. Sie gibt mir einen Stoß, und ich falle in das Dorngestrüpp. Sie begibt sich mit ihrer eigenen Tochter zu dir. Ihr eßt, ihr trinkt und feiert Hochzeit.

Sie zwang mich, unter den Dornen zu bleiben, und ich hörte in meiner Nähe, wo ich lag, etwas rascheln. Ich sagte zu dem, der kam: 'Wenn es ein junger Mann ist, soll er mein Bruder sein; wenn es ein alter Mann ist, soll er mein Vater sein.< Ein Türke kam zu mir. Ich erzählte ihm, daß du Hochzeit feiertest; ich weinte und ließ Perlen fallen; ich lachte und streute Rosen aus. Ich sandte ihn damit fort und hieß ihn ausrufen: >Ich verkaufe Perlen, ich verkaufe Rosen!< Meine Stiefmutter ging hinaus. Sie kaufte Perlen und fragte: >Was



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willst du dafür haben?< Der Türke sagte: >Für Augen bekam ich sie, für Augen gebe ich sie.< Er nahm mein Auge. Sie verlangte eine Rose, dafür bekam er das andere Auge.

Er brachte mir meine Augen. Drei Gänse kamen geflogen. Die älteste Gans sagte: >Heda, das kleine Mädchen soll aufmerken! Ich werde eine Feder dicht bei ihr herunterwerfen, daß sie nur um sich zu tasten braucht, um sie zu finden. Und es gibt eine Quelle, zu der soll sie gehen und die Feder benetzen und über ihre Augen streichen, dann wird sie gesunden.< Der Türke kam. Ich bat ihn, um sich herum zu suchen, um die Feder zu finden. Er fand die Feder, die die drei Gänse hatten fallen lassen, und führte mich zu der Quelle. Ich strich die Feder dreimal über meine Augen und genas. Dem Türken gab ich ein Geschenk und kam hierher.

Ich verwandelte mich in einen Birnbaum. Dein Weib stellte sich krank, sie veranlaßte dich, mich fällen zu lassen. Nun lebt da eine alte Frau. Meine Stiefmutter beauftragte sie, mich zu fragen, wo mein Herz und meine Stärke wären. Sie nahm ein Stück von der Pappel und nagelte es an ihre Tür. Sie fragt: >Sage mir, Kind, wo ist dein Herz?< Ich verrate ihr mein Herz, und ich falle hin und bin tot.«

6

Der Prinz fragte jene alte Frau: »Wer gab dir die Gedanken ein, sie zu fragen, wo ihr Herz ist?« Und sie antwortete: »0 König, vor dir kann ich nichts verbergen. Du bist der König der Zeiten. Du hast ein Weib, und sie hat eine Mutter. Immerfort gibt sie es mir ein, heute, morgen, das Mädchen zu fragen, wo ihr Herz sei. Und dieses sagte mir: >Ich will dir mein Herz offenbaren, aber ich werde sterben.< Sie nannte ihr Herz. >Mein Herz ist jenes Stück Holz. Nagle es gut an und fasse mich am kleinen Zeh meines Fußes; ich werde hinfallen und werde sterben.< Und sie fiel hin und starb.«

Der Prinz ging nach Hause und fragte sein Weib: »Komm mal her, warum bist du krank?« — »Nichts, ich habe keinen



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Schmerz.« — »Nun, du«, sagt er zu seiner Schwiegermutter, »willst du vierzig Pferde oder vierzig Messer haben?« — »Die vierzig Pferde wollen wir haben, laß die vierzig Messer den Feinden, damit wir rascher fortkommen.« Da bindet er sie an die Schwänze von vierzig Pferden, gibt den Pferden einen einzigen Schlag, und sie reißen sie in Stücke. Und in Stücke schlägt er alsdann auch sein Weib.

Das ist die Geschichte. —Auf dein Wohlsein!


Copyright: arpa, 2015.

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