Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


10. Die Stiefmutter

Es lebte einmal ein Türke, der hatte eine Tochter. Die Tochter fragte ihn eines Tages: »Vater, warum nimmst du keine Frau und heiratest, damit sie für uns sorgt und uns wäscht? Denn wir werden von Läusen ja noch ganz aufgefressen.« — »Ei nun, liebes Kind, wenn ich ein Weib nehme, wird sie dir dann nicht dein Essen ins Gesicht werfen? Und dann kann ich nicht dagegen auftreten.« Aber er verheiratete sich doch.

Ein Tag, zwei Tage vergingen. Da sagte das Weib: »Wenn du deine Tochter fortschickst, will ich dein Weib sein, wenn nicht, will ich dich nicht haben.« Das Weib backte einen Kuchen, und Vater und Tochter gingen in einen Wald. Dort verließ der Vater seine Tochter und machte vorher ein Feuer, daß sie sich wärmen konnte. »Bleibe hier sitzen, meine Liebe, ich will nur noch mehr Brennholz suchen«, so belog er sie.

Die Verlassene blieb dicht am Feuer sitzen und aß ihr Brot. Da kam ein Bär heran, der tappte beständig mit seiner Tatze nach ihr. Das Mädchen sagte: »Geh fort von mir, erlaube dir keine Freiheiten, denn ich habe Kummer. Mein Vater ist nach Brennholz gegangen und ist noch nicht zurückgekehrt.« Wieder ging der Bär mit seiner Tatze auf sie los. »Geh«, sagte



Zigeuner Maerchern-048 Flip arpa

das Mädchen, »erlaube dir keine Freiheiten, sonst werde ich ein brennendes Scheit nach dir werfen und dich verbrennen.« Wieder ging der Bär mit seiner Tatze auf sie los. Da nahm das Mädchen ein brennendes Scheit, schleuderte es gegen ihn und setzte den Pelz in Brand, daß er krachte wie eine Nuß, die aufgebrochen wird.

Endlich brach der Tag an. Die Holzhauer kamen, um ihre Karren mit Brennholz zu beladen. Aber was sahen sie? Das Mädchen! »Heda, Mädchen«, riefen sie, wie hast du geschlafen? Und du bist am Leben geblieben? Keiner im ganzen Dorf wagt es, durch den Wald zu gehen, wegen des Bären.« — »Ha, niemand wagt es? Seht her, ich habe seinen Pelz verbrannt, und er ist wie eine Nuß geborsten«, sprach sie. Da kamen sie herzu, und als sie es sahen, nahmen sie alle das Mädchen mit sich in das Dorf, und alle Bulgaren beschenkten sie, weil sie den Bären getötet hatte.

Nun ging das Mädchen heim. Als ihre Stiefmutter sie sah, sagte sie zu ihrem Mann: »Hast du so deine Tochter fortgebracht? Warum ist sie wiedergekommen?« — »Ich hatte sie fortgeschickt, du kannst es glauben. Gehe, frage das ganze Dorf, ob ich lüge!«

Der Abend kam. »Höre zu«, sagte das Weib, »solange du nicht deine Tochter fortschickst, so daß sie niemals wiederkommen kann, will ich nicht dein Weib sein. Nur wenn du sie fortschickst, ohne daß sie sich wieder zurückfindet, will ich dir gehören.«

Sie backte einen Kuchen und ließ ihn absichtlich fortrollen. Der Kuchen rollte und rollte bis zu einer verlassenen Mühle.

In der Mühle blieb das Mädchen. Gerade als es sich niedersetzte, um sein Brot zu essen, kam eine Henne ganz nahe zu ihm heran. Aber das Mädchen sprach kein Wort und warf der Henne beständig Krumen hin. Die Henne nahte sich wieder dem Mädchen, doch wieder blieb es still; und immerfort warf es ihm Krumen zu. Doch plötzlich verschwand die Henne wieder. Da erschien vor dem Mädchen ein Hahn, und in der-



Zigeuner Maerchern-049 Flip arpa

selben Weise warf es ihm Krumen zu, aber es sprach auch zu ihm kein einziges Wort. Wieder schritt der Hahn auf das Mädchen zu, und abermals warf es ihm in derselben Weise Krumen hin.

Wieder brach der Tag an, und das Mädchen kam heraus vor die Mühle und setzte sich. Da kamen Bulgaren vorüber und riefen: »Ha, Mädchen, warum bleibst du hier, und warum gehst du nicht fort?« Unter den Bulgaren war ein Zigeuner, der sprach: »Was hast du hier zu suchen, und warum gehst du nicht? Diese Mühle ist verwünscht. Irgend etwas wird vor dir erscheinen und dich erschrecken.« — »Ach, was soll ich tun? Meine Stiefmutter mag mich nicht. Darum hat mich mein Vater hierher gebracht, und ich bin abends allein geblieben. Wenn ich heimgehe, dann will meine Stiefmutter nichts mit meinem Vater zu tun haben. Ich will hier bleiben, bis ich weiß, wohin ich gehen soll. Was soll ich sonst tun?«

So kam der Abend. Das Mädchen saß in der Mühle und aß sein Brot. Da kam ein Derwisch und zündete seine Tabakspfeife an. Das Mädchen kam aus der Mühle heraus und sah ihn in seinen weißen Gewändern stehen. Als seine Pfeife brannte, kam er auf das Mädchen zu und erlaubte sich bei ihr allerlei Freiheiten. Das Mädchen hielt still und sprach nicht. Der Derwisch kam wieder auf das Mädchen zu und berührte es wieder in derselben Weise mit der Hand, mit der Pfeife, mit dem Fuß, doch wiederum schwieg das Mädchen.

Da geschah, was geschehen mußte: der Derwisch verschwand. Alsdann erschien eine gackernde Henne vor dem Mädchen und gackerte fortwährend auf es los. Das Mädchen warf ihr Krumen zu, wieder und immer wieder, bis der Hahn krähte. Da, als der Hahn krähte, verschwand die Henne, und nun blieb alles ruhig. Da legte sich das Mädchen nieder und schlief. Es schlief und schlief, bis der Tag anbrach, dann stand es auf.

Nun wollte sie zu ihrem Vater gehen. »Warum sitze ich hier, wo wilde Bestien vor mir erscheinen, und gehe nicht



Zigeuner Maerchern-050 Flip arpa

fort?« Also ging sie zu ihrem Vater. Als der Vater sie kommen sah, begann er zu jammern: »Wo bist du nur gewesen, Kind? Wir dachten, du wärest verloren.« Und das Mädchen sagte: »Ach, Vater, du hast mich wegen einer Frau hinausgeworfen, und du hast so erreicht, daß ich nur noch ein halber Mensch bin. Gar wilde Bestien erschienen vor mir. Sieh, sieh nur, meine Zunge vertrocknete in meinem Munde.«

Aber ihre Stiefmutter sah sie und schrie: »Ha, du Hure, was hast du hier zu suchen?« — »Was ich suche?« sagte das Mädchen. »Ich bin dir zum Trotz zu meinem Vater zurückgekehrt.« — »Das sehe ich. Du bist mir zuleid zurückgekehrt, um deinen Vater zu haben und ihm in die Augen zu sehen!« schrie das Weib. Der Mann aber sagte: »Du hast mich dazu gebracht, mich von meiner Tochter um deinetwillen zu trennen. Wenn du magst, so bleibe du von jetzt ab bei deiner Mutter. «

Und damit nahm der Ehemann seine Tochter und verließ sein Weib. Vater und Tochter gingen und gingen, bis sie an ein Haus kamen. Was sahen sie da? Das Haus war ganz voller Kleider und anderer Dinge. »0 Kind, nun haben wir unser Glück gefunden!« —»Nun sei einmal vernünftig, Vater«, sagte die Tochter, »sollte jene Hure kommen, nimm sie nicht zurück.

Es kam, wie es kommen mußte. Das Weib kam und fragte das Mädchen: »Wohin ist dein Vater gegangen?« — »Mein Vater ist hier. Was willst du von ihm?« sprach das Mädchen und ging und rief den Vater. Als der Vater kam, sagte er: »Was suchst du hier, du Hure? Du hast verlangt, daß ich meine Tochter verstoße und du und ich Weib und Ehemann sein sollten.« Dann betrat er das Haus und sprach: »Warte, Kind, ich will das Messer nehmen und sie töten.« Das Mädchen aber meinte: »Nein, Vater, sie hat mir zuviel Unrecht getan und mich zu sehr verhöhnt. Gib mir das Messer, laß mich sie töten, damit meine Wut sich legt.« — »Ha, weißt du, was du mir getan hast?« schrie das Mädchen sie an, »bis



Zigeuner Maerchern-051 Flip arpa

zum heutigen Tage hast du versucht, mich umzubringen, aber das Schicksal hat mir gewährt, jetzt glücklich zu leben.« Und sie nahm das Messer und schnitt ihr die Kehle durch. Dies ist die Geschichte. Auf Euer Wohl!


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt