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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


9. Die Geschichte von Batim

E s lebte einmal ein König, der hatte ein Pferd. Außer einem Diener, dem seine Pflege oblag, durfte niemand das Pferd besehen. Es war kein wirkliches Pferd, sondern der Sohn einer Menschenfresserin.

Und der König hatte vier Töchter; eines Tages kamen die Töchter auf den Balkon heraus, setzten sich und stickten. Der Stall junge trat in den Stall, ging zu dem Pferde und gab ihm Leblebi 1 mit Nüssen zu essen und einen Eimer voll Scherbet . Aber als er hineinging und die Stalltür öffnete, sah die älteste Tochter des Königs das Pferd, und das Pferd verliebte sich in sie. Der Knabe gab dem Pferde Scherbet, aber es wollte nicht trinken, er hielt ihm nochmals Scherbet hin, aber es weigerte sich wieder, davon zu trinken. Da ging der Diener zum König und sagte: »0 König, bei deiner Herrschermacht, ich biete deinem Pferde immer wieder Scherbet an, aber es will nicht trinken.« Der König fragte den Diener: »Hat irgend jemand das Pferd gesehen, als du zu ihm gingst?« — »0 König, bei deiner Herrschermacht, alle deine Töchter waren auf dem Balkon, wahrscheinlich hat es eine von ihnen gesehen.« — »Dann rufe meine Töchter!«

Der Diener rief die Töchter, und sie kamen zum Könige. Er legte in ihre Schürzen vier Stück Lebiebi mit Nüssen und schickte sie fort, um das Pferd zu füttern. In diejenige, aus deren Schürze es fresse, sei es gewiß verliebt. Das Pferd sah nur die eine an. Zuerst bot ihm die Jüngste Futter, doch das Pferd fraß nicht, die zweite Tochter gab ihm etwas, aber das Pferd fraß wieder nicht, die dritte Tochter gab ihm etwas, und das Pferd nahm es auch nicht. Da fütterte es die vierte, die älteste, und das Pferd fraß, und der König gab ihm seine Tochter.

Und der König legte das Mädchen neben das Pferd in den Stall, und das Mädchen sagte: »0 Gott, mein Vater hat mich



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einem Pferde gegeben! Wie wird es sein, wenn es sich erhebt, um mit mir eins zu werden?« Da stand das Pferd auf, warf seine Haut ab und wurde ein menschliches Wesen. »Gib mir, o Gott, zwei Augen, um ihn anzublicken«, seufzte sie. Da strahlte und leuchtete der Mann in Schönheit.

Nun ging er auf das Mädchen zu und wurde eins mit ihr. Das Pferd sagte: »Höre mich an, morgen werde ich hinausgehen, ganz in grüne Gewänder gekleidet, und werde ein grünes Pferd unter mir haben. Wenn ich dann morgen um deines Vaters Palast herumstreifen werde, so werden deine Schwestern sagen: >Gott, war unser Vater nicht imstande, unsere Schwester einem menschlichen Wesen zu geben? Aber meine Schwester mußte ein Pferd nehmen.< Gib acht, vergiß dich nicht und sage nicht, daß ich dein Ehemann bin, sonst wirst du später, obgleich du mein Weib bist, Schuhe und einen Stab aus Eisen machen müssen, um nach mir zu suchen, bis du mich findest in dem Land Tschine-matschine-dscheza-davuljam 1. 1.«

In der andern Nacht aber bat er sie: »Ich flehe dich an, ihnen nichts zu sagen. Morgen werde ich ganz weiß gekleidet auf einem weißen Pferd vorüberreiten. Und deine Schwestern werden von dir sagen: >Hätte unsere Schwester einen solchen Mann genommen, wir würden Bravo zu ihr sagen. Aber sie nahm ja ein Pferd.«

Als ihr Ehemann nun vorüberritt, spotteten ihre Schwestern über sie, weil sie ein Pferd zum Ehemann genommen hatte. Da sagte sie zu ihnen: »Was wollt ihr denn? Jener, der in weißen Gewändern und mit einem weißen Pferde vorüberreitet, ist mein Gemahl.« 1 Name eines fernen Wunderlandes, das nur nach langer, gefahrvoller Reise erreicht werden kann. Der Name ist zusammengesetzt aus türkisch Tschin-u-Matschin = »Großdiinaic, türkisch-arabisch dscheza »Strafe, Vergeltung, Belohnung« [arab. daru 'l-dschaza bedeutet »Jenseits«!], und davulja, das wohl eine zigeunerische Mehrzahlform von türkisch davul »Pauke« sein wird. Tschin-u-Matschin als Bezeichnung eines Märchenreiches begegnet auch in arabischen Erzählungen.



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Als es Abend wurde, kamen sie wieder zusammen. »Was nun«, sprach der Ehemann, »sagte ich dir nicht, du möchtest nichts erzählen? Ach Weib! du mußt nun Schuhe und einen Stab aus Eisen machen und im Lande Tschine-matschinedscheza-davulja nach mir suchen, bis du mich findest.« Brrrr, flog das Pferd fort zu seiner Mutter. Als die Mutter ihn sah, rief sie: »Oh, mein Batim ist zurückgekehrt!«

Da stand das Weib auf, machte sich Schuhe und einen Stab aus Eisen und wanderte zu dem Lande Tschine, um ihn zu suchen. Zehn Jahre mußte sie wandern, und im elften Jahre fand sie ihn endlich. Sie kam an einen Springbrunnen und setzte sich nahe bei ihm nieder, und täglich holte ein Diener in einem Gefäß Wasser für jenen Jüngling, den Batim, aus dem Springbrunnen. Das Mädchen fragte: »Für wen willst du das Wasser in dem Gefäß holen?« — »Für einen Jüngling, Batim nennen sie ihn«, antwortete er. »Bringe es her, damit ich aus dem Gefäß Wasser trinken kann«, bat sie, aber sie wollte nicht trinken, sondern sie ließ ihren Ring in das Gefäß fallen. Aber Batims Diener sah den Ring nicht in dem Gefäß.

Batim nahm das Gefäß, um Wasser zu trinken. Was sah er da? Seines Weibes Ring in dem Gefäß, und er rief seinen Diener: »Wer war bei dem Springbrunnen?« — »Eine junge Frau.« — »Rufe sie, daß sie zu mir kommen möge.« Und der Knabe rief: »Heda, Batim ruft dich!« »Nun, sagte ich dir nicht, du möchtest deinen Schwestern nichts davon sagen, daß ich dein Ehemann bin, als ich vorüberritt?« fragte er. »Ach, ich warf mich weg und verriet es ihnen.« — »Meine Mutter wird nun kommen und dich fressen.« Da gab ihr Batim einen Schlag und verwandelte sie in eine Nadel und steckte sie an seine Brust.

Als seine Mutter kam, rief sie: »Hei, junges Fleisch ist zu mir gekommen!« Hierauf sprach Batim: »Mutter, was willst du tun, nun du es erraten hast?« — »Was ich tun werde, Junge? Zuerst werde ich sie auffressen, dann werde ich sie ausspeien.« — »Mutter«, fragte Batim, »wenn ich sie zu dir



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bringe, wirst du sie dann auch angreifen?« — »Junge, ich werde sie nicht angreifen.« — »Schwöre einen Eid bei meinem Leben, Mutter, damit ich dir glauben kann.« — »Wenn ich sie angreife, Junge, so magst du sterben!« So schwur sie einen Eid bei seinem Leben. Da gab Batim der Nadel, seinem Weibe, einen Schlag und verwandelte sie in ein menschliches Wesen. »Ha! du kleine Hure! Was für junges Fleisch ist da zu mir gekommen? Aber was kann ich machen, denn ich habe einen Eid beim Leben meines Batim geschworen. Höre mich, du Hure! Bis morgen verlange ich, daß du weinst, so lange weinst, bis jener Kessel vollständig mit Tränen angefüllt ist. Wenn du ihn nicht mit Tränen gefüllt hast, bis ich komme, so werde ich dich sogleich auffressen.«

Da ging das Mädchen zu dem Kessel und stand davor und weinte. Doch soviel sie auch weinte, konnte man kaum sehen, daß der Kessel von den Tränen auch nur angefeuchtet war. Da kam der Jüngling Batim zu ihr und fragte: »Warum weinst du?« Sie sprach: »Was kann ich dafür, daß ich weine? Deine Mutter hat gesagt, sie wünsche, daß ich den Kessel mit meinen Tränen gefüllt habe, bis sie zurückkommt.« — »Oh, du Kindskopf, nimm den Eimer und fülle den Kessel mit Wasser.« Da füllte sie ihn mit Wasser. »Geh, hole mir eine Schachtel voll Salz.« Sie holte das Salz, schüttete es in den Kessel und rührte es um, bis das ganze Salz schmolz. Sie nahm ein wenig und schmeckte es, und es war genau so salzig wie Tränen.

Da kam Batims Mutter und fragte das Mädchen: »Nun, du Hure, hast du den Kessel mit Tränen gefüllt?« — »Ich habe ihn gefüllt, Mutter.« Sie ging hin, und was mußte sie sehen? »Möge derjenige, der dir das zeigte, deine und meine Ausscheidung essen!« schrie sie voll Wut.

Am folgenden Morgen sprach die Mutter wiederum: »Du Hure, hörst du mich? Morgen, ehe ich komme, verlange ich, daß du diese einundvierzig Stuben mit Federn angefüllt hast, und die Hälfte Federn soll noch übrigbleiben. Du verstehst



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mich, wenn ich es nicht so vorfinde, bis ich zurückkomme, werde ich dich fressen.« Sie ging. Da saß nun das Mädchen. Hier sah sie eine Feder und hob sie auf. Da sah sie eine Feder und nahm sie an sich; und während der ganzen Zeit weinte sie. Da kam Batim auf sie zu: »Warum weinst du?« — »Was kann ich dafür, wenn ich weine! Deine Mutter befahl mir, diese einundvierzig Zimmer ganz mit Federn zu füllen.« — »0 Närrchen, warum weinst du?« — »Wie sollte ich nicht weinen, denn sie drohte, sobald sie zurückkehre, wolle sie mich auffressen.« — »Komme heraus und rufe: >Kommt, Tauben, kommt, Sperlinge, Batim ist hier.< Wenn du so rufst, werden alle Tauben und alle Sperlinge gefiedert kommen und werden nackt davonfliegen. Dann kannst du alle Stuben füllen, und die Hälfte der Federn wird noch übrigbleiben.«

Da kam die alte Mutter und fragte: »Hast du die Arbeit verrichtet, du Hure?« — »Ich habe sie verrichtet, Mutter.« Die aber schimpfte: »Wer dir das eingegeben hat, soll deine und meine Ausscheidung essen!«

Am nächsten Morgen will die alte Mutter ein großes Fest feiern und will ihre Brüder und ihre Schwestern zu dem Fest einladen. »Höre mich an, o Hure, morgen wirst du zu meiner Schwester gehen und ihr bestellen, daß ich ein Fest feiern will.« Diese Schwester war auch eine Menschenfresserin. »Gut, Mutter«, sagte das Mädchen. »Wenn du nicht gehst, werde ich dich auffressen.« Das Mädchen setzte sich hin und weinte. Da kam Batim. »Warum weinst du?« — »Ich weine, weil deine Mutter mich zu ihrer Schwester sendet, um sie zu ihrem Feste einzuladen.« — »Höre mich«, sagte Batim, »du sollst gehen, aber wenn du siehst, daß ihre Augen offen sind, dann schläft sie; wenn ihre Augen geschlossen sind, wacht sie. Und an der linken Brust wird ein Mädchen saugen, an der rechten Brust wird ein Knabe saugen. Sobald du ankommst, nimm das Mädchen von der linken Seite und lege es an die rechte Brust; von der rechten Seite nimm den Knaben und lege ihn an die linke Brust.«



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Die Menschenfresserin hörte das Mädchen und erwachte. »Hoho, junges Fleisch ist in der Nähe«, rief sie, »aber ich kann nichts mit dir anfangen. Derjenige, der dir das verraten hat, möge deine und meine Ausscheidung essen.« Und das Mädchen ging wieder nach Hause. »Wie denn, du Hure, hast du sie eingeladen?« — »Ja, Mutter.« — »Der, der dich belehrte, mag deine und meine Ausscheidung essen. Doch höre mich, du Hure! Morgen sollst du meinen Bruder zu dem Fest einladen. Sage: >Viele Grüße von Eurer Schwester und Ihr möchtet zum Fest kommen.<«

Wieder saß das Mädchen und weinte. Da kam Batim und fragte sie: »Warum weinst du?« »Was kann ich dafür, daß ich weine? Deine Mutter sendet mich zu ihrem Bruder, damit ich ihn zum Feste einlade.« — »Fürchte nichts, nimm Zeugstücke und binde sie um deine Hände. Er fegt den Ofen immer mit bloßen Händen aus. Sobald du ankommst, mußt du sagen: >0 Herr, du hast deine Hände verbrannt.< Und du mußt sofort die Zeugstücke an seine Hände legen. Dann kann er dir nichts anhaben.«

Als der Bruder sie kommen sah, rief er: »Oh, was für junges Fleisch ist zu mir gekommen?! Aber was kann ich tun? Möge der, der dir das eingab, meine und deine Ausscheidung essen!« Als das Mädchen wieder nach Hause kam, fragte die Alte: »Wie, du Hure, bist du dort gewesen?« — »Ich war dort, Mutter.« — »Möge der, der dir diese Anweisung gab, meine und deine Ausscheidung essen!« schrie das alte Weib.

Am Morgen standen das Mädchen und Batim auf und liefen davon. Da kam die Mutter angelaufen und rief: »Batim, Batim.« Aber weder ein Batim noch sonst jemand war da. »Hure, Hure!« Aber keine Hure und kein Batim waren da. Und sie setzte hinter ihnen her, um sie einzufangen. Da sagte Batim zu seinem Weibe: »Drehe dich um und sieh, wer da kommt.« — »Ei, Batim, deine Mutter kommt. Mit Feuer und Rauch hat sie ihre Zunge herausgestreckt, und vor Wut kommen

Funken heraus.« Was tat Batim? Als seine Mutter kam,



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verwandelte er sein Weib in einen Ofen und sich selbst in einen Bäcker und heizte den Ofen. Da kam die Mutter vorüber. »Bäcker, hast du nicht eine Frau und einen Mann vorübergehen sehen?« Denn die Hure war ja ein Ofen und ihr Mann ein Bäcker geworden. »Siehe, ich heize den Ofen, um Brot zu backen«, antwortete er. Und sie kehrte wieder zurück.

Da machte Batim sich auf, nahm sein Weib und begab sich wieder auf den Weg. Sie flohen weiter. Als die Mutter das sah, setzte sie wieder hinter ihnen her. »Drehe dich um und sieh, ob irgend jemand hinter uns herkommt«, sagte Batim. Was sah das Weib? Die Mutter kam, bald von dieser, bald von jener Seite, und bemühte sich, sie einzufangen. Aber es gelang ihr nicht, denn Batim verwandelte sein Weib in einen Teich und sich in eine Ente. Die Mutter kam und rief: »Ach, Batim, wenn ich da hinauftrete, werde ich dir auf die Füße treten; wenn ich dort hinauftrete, werde ich dir auf den Rücken trampeln. Wenn ich noch dazu wüßte, daß die Ente jene Hure wäre, würde ich einen Stein nach ihr werfen und sie töten. Aber wenn es dagegen mein Batim ist, würde ich ihn verletzen, und er würde sterben. Was soll ich denn tun?« Und sie kehrte zurück.

Batim und sein Weib machten sich auf und flohen wieder weiter. Die Mutter bemerkte es und lief hinter ihnen her, doch die beiden konnten sie nicht sehen, weil sie gerade miteinander sprachen. Und als Batim sich endlich umsah, holte die Mutter sie schon ein. Was sollte er tun? Er verwandelte sich selbst in eine Rose und sein Weib in einen Rosenstrauch. Die Mutter kam und rief: »Ach, Batim! wenn ich den Rosenbusch abschneide, bist du es vielleicht; wenn ich die Rose abschneide, kannst du es auch sein. Wenn ich nun wüßte, daß du die Rose bist, und daß die Hure der Rosenstrauch ist, würde ich ihn mit den Wurzeln ausreißen. Aber, Junge, liebst du sie wirklich, und kannst du nicht ohne sie leben? Wo sie ist, da bist du auch. Du kannst nicht ohne sie sein. Darum



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sollt ihr beide euer Brot mit einem silbernen Löffel essen und eure Suppe aus einem goldenen Teller. Zieh in guter Gesundheit von dannen; und möge meine Milch, die du trankst, zum Segen für dich sein. Ich, die dich zuerst sah und dich großzog, ich segne dich.«

Und die Mutter kehrte um und ging. Batim und sein Weib aber blieben beieinander. Sie zogen weiter und wanderten, bis sie in eine Stadt kamen. Dort feierten sie vierzig Tage und vierzig Nächte lang ihr Hochzeitsfest. Sie aßen, sie tranken und gaben dem Hund keinen Knochen.


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