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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


8. Der Tschordilendschis 1

Es lebte einmal ein König, und dieser König hatte drei Söhne und drei Töchter. Als die Zeit nahte, daß er sterben mußte, gab er seinen Söhnen den Auftrag, sie sollten ihre Schwestern jedem zur Ehe geben, der um sie werbe, niemandem dürften sie sie verweigern. Dann starb der König. Die drei Brüder sagten: »Wir wollen unsere Pferde satteln



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und eine Reise antreten.« Der jüngste Bruder aber riet: »Laßt uns erst unsere Schwestern verheiraten, dann wollen wir gehen.«

Da kam für die älteste Schwester ein Wolf. Der älteste Bruder sagte: »Ich gebe sie nicht her.« Der zweite Bruder sagte: »Ich gebe sie auch nicht.« Der jüngste Bruder aber sagte: »0 Brüder, unser Vater hat einen Befehl hinterlassen; ich will ihn nicht brechen.« Und der jüngste Bruder gab seine Schwester dem Wolf. Für die zweite Schwester kam ein Adler. Der älteste Bruder gab sie nicht, der zweite Bruder gab sie auch nicht, aber der jüngste Bruder gab sie dem Adler. Für die jüngste Tochter kam ein Bär. Der älteste Bruder verweigerte sie ihm, der zweite Bruder verweigerte sie ihm ebenfalls, aber der jüngste Bruder gab sie dem Bären. »Nun ist die Zeit für uns gekommen, nun soll jeder von uns ein Pferd besteigen und hinaus in die Fremde ziehen.« Der älteste Bruder sagte: »0 Brüder, laßt uns gehen, vielleicht tat unser jüngster Bruder Unrecht.« Da bestiegen sie ihre Pferde, und sie ritten und ritten, bis sie an eine Wiese kamen. Dort stiegen sie ab, einer von ihnen richtete das Zelt auf, der andere sammelte Stücke von halbverbranntem Holz, damit sie Kaffee bereiten könnten. Als sie sich niedergesetzt hatten, um ihr Abendbrot zu essen, kam ein Mann, Tschordilendschis mit Namen, und bat: »Ach, ihr Brüder! Seid mir Vater und Bruder! Gebt mir ein Stück Brot. Drei Tage und drei Nächte habe ich nichts gegessen.« Der älteste Bruder sagte: »Ich befinde mich auf einer Reise. Ich habe nur genug für mich selbst zu essen mitgebracht.« Der zweite Bruder gab ihm auch nichts. Der jüngste Bruder aber sprach: »Gebt ihm heute meinen Anteil, ich will heute nichts essen.«

So kam der Abend. Einer sollte Wache halten. Der älteste Bruder stellte den Tisch vor sich, steckte die Laterne an und hängte sie zu seinen Häupten auf, damit sie ihm leuchte. Dann legte er das Messer vor sich hin und nahm ein Buch und las. Da kam ein Ungeheuer auf ihn zu und sagte: »Stehe auf und



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sage mir, wohin diese Landstraße führt, denn ich habe mich verirrt.« Der Jüngling antwortete: »Ich kenne diese Landstraße und diesen Berg auch nicht. Seitdem ich das Licht der Welt erblickte, bin ich auf Wanderschaft.« Doch das Ungeheuer sagte: »Stehe auf und zeige mir den Weg, sonst werde ich dich auffressen.« Da sagte er: »Entweder wirst du mich fressen, oder du wirst es nicht können.« Und das Ungeheuer stürzte sich auf ihn, um ihn zu verschlingen. Der Junge aber zog sein Messer und schlug dem Ungeheuer den Kopf ab. Die beiden Ohren nahm er und steckte sie in seinen Sack. Als der Tag anbrach, ging er zu seinen Brüdern und weckte sie; aber er erzählte ihnen nichts von dem Ungeheuer.

So kam wieder ein Abend. Als die Brüder sich setzten, um ihr Abendbrot zu essen, kam von drüben der Tschordilendschis. »Ach, ihr Brüder! Ich habe drei Tage nichts gegessen. Gebt mir doch heute abend etwas zu essen.« Der älteste Bruder gab ihm nichts, der zweite Bruder gab ihm auch nichts, aber der jüngste Bruder sagte: »Gebt ihm heute abend doch meinen Anteil, ich will nichts essen.« Da sprach der älteste: »0 mein Bruder, wenn du diesem Burschen von deinem Brote gibst, wird er uns einen Schabernack spielen.« Doch der jüngste Bruder sagte: »Ich werde ihm schon einen Schlag versetzen und ihm den Mund stopfen.«

Die Nacht brach an. Diesmal wollte der zweite Bruder wachen. Er stellte auch den Tisch vor sich, zündete die Laterne an, hängte sie zu seinen Häupten auf, legte sein Messer vor sich hin, legte auch ein Buch vor sich hin und las. Da kam von drüben ein Ungeheuer mit zwei Köpfen zu ihm und rief: »Stehe auf und nenne mir diese Landstraße und diesen Berg, denn ich habe mich verirrt.«

»Seitdem ich geboren wurde, bin ich auf Wanderschaft und kenne weder diese Landstraße noch den Berg, die hier vor mir liegen.« Das Ungeheuer sprach: »Entweder stehe auf und zeige sie mir, oder ich werde dich fressen.« Da sagte der Jüngling: »Entweder wirst du mich fressen, oder du wirst es



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nicht können.« Da warf sich das Ungeheuer ihm entgegen, er aber zog sein Messer und schnitt ihm beide Köpfe ab. Die vier Ohren nahm er und steckte sie in seinen Sack. Als der Tag kam, ging er zu seinen Brüdern und weckte sie, und sie plauderten zusammen.

Wieder wurde es Abend und sie setzten sich nieder, um ihre Abendmahlzeit einzunehmen. Siehe da, der Tschordilendschis kam noch einmal. Der älteste Bruder gab ihm nichts, der zweite Bruder gab ihm auch nichts, aber der jüngste Bruder bat: »0 Brüder! Gebt ihm heute meinen Anteil. Ich will nichts essen. Laßt ihn essen.« Doch die Brüder sagten: »Lieber Bruder, du willst diesem Burschen von deinem Brot geben, aber er wird uns einen Streich spielen.« Aber der jüngste Bruder sagte: »Na, dann würde ich ihm aber einen Schlag versetzen und ihm den Mund stopfen.«

Die Nacht kam, diesmal wollte der Jüngste wachen. Er steckte seine Laterne an, hängte sie zu seinen Häupten auf, stellte den Tisch vor sich hin, legte das Messer vor sich hin, nahm ein Buch und las. Siehe, da erschien ein dreiköpfiges Ungeheuer und sagte: »Stehe auf und bezeichne mir die Landstraße und den Berg.« Er antwortete: »Seit meiner Geburt bin ich auf Wanderschaft gewesen, ich weiß auch nicht, was dieses für eine Landstraße und für ein Berg ist.« Das Ungeheuer drohte: »Entweder stehe auf und weise mich zurecht, oder ich werde dich fressen.« Doch der Knabe sagte: »Entweder wirst du mich fressen oder du wirst es nicht können.« Und das Ungeheuer stürzte sich auf ihn, um ihn zu fressen. Da zog der Jüngling sein Messer, schnitt die drei Köpfe ab, nahm die sechs Ohren und steckte sie in seinen Sack. Aber indem er das Messer zog, durchschnitt er die Schnur, an der die Laterne hing, und die Laterne fiel zu Boden und erlosch. Nun dachte er: »0 Himmel! Wenn ich ein Streichholz hole, werden meine Brüder aufwachen und werden sagen: »Ist es nicht der Kleine, der etwas gesehen hat, das ihn erschreckte? Er ist sicher ängstlich geworden und hat die



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Laterne ausgelöscht.« Er blickte rundum, da sah er vor sich einen Feuerschein. Er nahm die Laterne und ging dem Feuer entgegen, um die Laterne wieder anzustecken.

Da kam er zu einer alten Frau und sagte zu ihr: »Du Alte, was tust du hier?« Sie antwortete: »Sieh, mein Sohn, die Nacht halte ich fest und dem Licht laß ich freien Lauf.« Er sprach: »Laß doch die Nacht frei und halte das Licht fest.« Da ließ die alte Frau die Nacht frei und hielt das Licht fest, so daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Er band die alte Frau an einen Baum und sagte: »Hier, Alte, werde ich dich an den Baum binden, während ich meine Laterne anstecke.« « Und er ging, um seine Laterne anzustecken.

Was sah er da? Einundvierzig Diebe lagen um das Feuer herum, und über dem Feuer stand ein Kessel, und darin kochten sie vier Hammel. Er steckte seine Laterne an und lief eilends davon. Er lief und lief, bis er die Hälfte des Weges hinter sich hatte, da fiel ihm ein: »Herrgott, dieses Feuer ist für mich unerlaubt!« Und er blies und löschte die Laterne aus. Dann ging er zurück und weckte alle auf. Als die Diebe ihn sahen, fragten sie: »Was suchst du hier? Niemand kommt sonst her. Bist du einmal tapfer, daß du dich hierher wagst!« »Seht meine Tapferkeit!« rief er, hob mit seinen zwei kleinen Fingern den Kessel von dem Dreifuß und setzte ihn auf die Erde, dann hob er ihn wieder mit seinen zwei kleinen Fingern empor und stellte ihn auf den Dreifuß zurück. Die Diebe sagten: »Ha! Wir sind ja Männer, aber du bist auch ein Mann. Wir kämpfen, um drei schöne Mädchen zu erlangen. Vierzig Jahre lang gelang es uns nicht, sie zu bekommen. Nun bist du erschienen, ein Mann wie du, und hier sind wir, auch Männer, nun wird es uns glücken, sie zu erlangen.«

Und sie machten sich zum Fortgehen bereit und gingen und gingen, bis sie an ein großes Gebäude kamen. Da fragten die Diebe untereinander: »Wie können wir sie herausholen?« — »Wie wir sie bekommen werden?« meinte der Jüngling, »ich will es euch sagen. Bringt mir vierzig Nägel.« Darauf hämmerte



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er alle Nägel in die Mauer bis oben zur Spitze. »Kommt nun! Zuerst werde ich mich von innen hinablassen, ihr müßt mich aber vorher an ein Seil binden, dann lasset auch ihr euch einer nach dem anderen hinunter.« So geschah es. Der Jüngling aber tötete einen nach dem anderen, alle vierzig. Der Häuptling blieb bis zuletzt übrig, dann tötete er ihn auch.

Nun ging er hin, öffnete die Tür und blickte hinein. Da sah er eines der Mädchen schlafen. Er trank Wasser, aß Lokum 1 und nahm das Mädchen für seinen ältesten Bruder mit. Dann kam er zu einer anderen Tür, öffnete sie und fand die zweite Schwester. Er aß wieder Lokum, trank Wasser und nahm dieses Mädchen für seinen zweiten Bruder mit. Darauf ging er zu der jüngsten Schwester, öffnete die Tür, trat hinein, trank Scherbet 2 , küßte sie zwischen die Augenbrauen und nahm sie für sich selbst. Nun sagte die älteste Schwester: »Was suchst du hier? Hierher kommt sonst niemand; wenn meine Tante dich sieht, wird sie dich auffressen.« Und die drei Schwestern sagten: »Sieh zu, daß du uns von hier so bald wie möglich fortbringst, sonst wird unsere Tante kommen und wird dich auffressen.« Da rief der Knabe: »Heidi! Ich will meine Brüder aufwecken. Zieht euch sofort an, ich werde gleich zurückkehren. «

Er begab sich nun geradeswegs zu der alten Frau. Als sie ihn sah, sagte sie: »Beeile dich, mein Lieber, denn mich friert, ich sterbe fast vor Kälte.« — »Ich werde dich losbinden, aber du mußt ganz langsam die Nacht einziehen und das Licht freilassen, denn du hast die Nacht zu schnell eingezogen und das Licht zu schnell befreit, tue es ganz allmählich. Solltest du es Tag werden lassen, so werde ich dich zu finden wissen und töten, wohin du auch gehst.« Dann ging er zu seinen Brüdern und weckte sie. »He, Brüder! Packt schnell zusammen, wir wollen unsere Pferde besteigen und zusammen davonreiten. Ich habe drei Schwestern gefunden, die wollen

1 türkisches Konfekt. 2 Limonade.



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wir uns holen!« Sie ritten und sie ritten, bis sie zu den Schwestern kamen. Der jüngste Bruder stieg ab, nahm das älteste Mädchen und setzte sie hinter seinen ältesten Bruder auf das Pferd, nahm auch das zweite Mädchen, setzte sie hinter seinen zweiten Bruder auf das Pferd und nahm schließlich sein Mädchen, die Jüngste, und setzte sie hinter sich, und sie ritten wieder von dannen.

Sie ritten und sie ritten, da ergriff der Tschordilendschis des jüngsten Bruders Mädchen. Der älteste Bruder sagte: »Warnte ich dich nicht, Bruder, daß er uns einen Streich spielen wird? Aber du, was sagtest du? >Na, da würde ich ihm einen Schlag versetzen und ihm den Mund stopfen!<« Da sagte der jüngste Bruder: »Los, Brüder! Nun bleibt gesund, und reitet ohne mich weiter, ich kehre um.« Und er ging zu seiner ältesten Schwester.

Als seine Schwester ihn sah, sprach sie: »He, Bruder! Du gabst mich einem Wolf, er wird gleich kommen und dich fressen.« Sie gab ihm einen Schlag und verwandelte ihn in einen Besen und warf ihn beiseite. Der Wolf kam daher und rief: »0 Weib, ich rieche Fleisch!« — »Nanu!« antwortete das Weib, »du hast eben erst Menschen gegessen, und in dem Augenblick, da du mich siehst, willst du mich auch auffressen.« Dann fragte sie ihn: »Was würdest du mit meinem ältesten Bruder tun, wenn er käme?« — »Da würde ich ihn fressen und dann wieder von mir geben.« — »Und mit meinem zweiten Bruder?« — »Ich würde ihn auch auffressen.« — »Aber den jüngsten?« — »Bei meinem Haupte, er ist mir immer willkommen!« Da gab sie dem Besen einen Stoß und verwandelte ihn wieder in einen Mann. Der Wolf fragte: »Was hast du für ein Anliegen, daß du gekommen bist?« Der Jüngling antwortete: »Höre, der Tschordilendschis hat mein Mädchen entführt.« — »He, wir wollen ihm Tag und Nacht nachstellen, und wenn ich ihn finde, werde ich ihn auffressen. Gehe du nun zu deiner zweiten Schwester, zum Adler. «



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Da ging er hin. Als seine Schwester ihn sah, begann sie zu jammern: »0 Bruder, du gabst mich einem Adler, und wenn er kommt, wird er dich umkrallen und dir die Augen ausreißen.« Und sie gab ihm einen Schlag und verwandelte ihn in eine Nadel und steckte sie an ihre Brust. Als der Adler kam, rief er: »0 Weib, ich rieche Menschenfleisch.« Das Mädchen sagte: »Holla, du hast eben Menschen zerrissen, und in dem Augenblick, wo du kommst und mich siehst, willst du mich auch zerfleischen. Wenn nun mein ältester Bruder käme, was würdest du dann mit ihm machen?« — »Ich würde ihm beide Augen auskratzen und sie in deine Hände legen.« — »Aber wenn mein zweiter Bruder käme?« — »Oh, ihm würde es ebenso ergehen.« — »Aber wenn mein jüngster Bruder käme?« — »Der ist mir immer willkommen!« Da gab sie der Nadel einen Schlag und verwandelte sie wieder in einen Mann. »Weshalb bist du hierher gekommen?« fragte der Adler. Da antwortete der Knabe: »Siehe, es trug sich so zu: der Tschordilendschis hat mein Weib entführt.« — »He, wenn du ihn nicht unschädlich machst, wird er dir Kummer bereiten. Er kann zweimal so schnell fliegen wie ich. Wenn ich ihn fände, würde ich ihm seine beiden Augen ausreißen und ihn blenden«, sprach der Adler.

Dann ging der Knabe zu seiner jüngsten Schwester, und sie rief: »He, Bruder! Du gabst mich einem Bären. Wenn er kommt, wird er dich auffressen.« Und sie gab ihm einen Schlag und verwandelte ihn in einen Apfel und legte ihn auf den Schrank. Als der Bär kam, sagte er: »Hallo! Ich rieche Menschen!« Das Weib sagte: »Du, du hast eben erst Menschen gefressen, und nun kommst du und willst mich auch fressen! Wenn mein ältester Bruder kommen sollte, was würdest du mit ihm tun?« — »Erst würde ich ihn fressen, dann würde ich ihn wieder von mir geben.« — »Und mit dem zweiten?« — »Auch ihn würde ich fressen und dann von mir geben.« — »Und mit dem jüngsten?« — »Der ist mir immer willkommen!« Da gab die Schwester dem Apfel einen Schlag und



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verwandelte ihn wieder in einen Mann. Der Bär fragte: »Was trieb dich denn hierher?« — »So ist es mir ergangen«, antwortete der Knabe, »der Tschordilendschis hat mein Weib geraubt.« — »He! Wir wollen ihm Tag und Nacht zusetzen, und wenn wir ihn finden, wollen wir ihn in Stücke zerreißen. Aber du, weißt du auch, was du zu tun hast? Du mußt dein Pferd nehmen; schau dorthin, dort sind große Tore. Du mußt dein Pferd antreiben und so schnell wie möglich hindurchjagen, denn sonst schließen sich die Pforten und zermalmen dich und das Pferd. Drinnen auf der rechten Seite befindet sich ein Stall, und darin hängt ein Pferdekummet. Dieses mußt du abnehmen und mit den Händen in die Höhe halten. Wenn dann ein Pferd kommt, das seinen Kopf hindurchsteckt, so mußt du ihm das Kummet umhängen.« Und so geschah es.

Da sah ihn sein Mädchen. Durch eine Kopfbewegung bedeutete er ihr, zu ihm zu kommen. Dann bestieg er sein Pferd, setzte sie rasch hinter sich und ritt mit ihr davon. Sie ritten und sie ritten. Das Pferd wieherte: »Herr! Herr! Das Fräulein ist fort!« Und er fragte: »Wieviel Uhr ist es jetzt?« — »Fünf Uhr.« Da sagte der Tschordilendschis: »Bis um sechs Uhr wollen wir ihn reiten lassen.« Dann bestieg er sein Roß, gab ihm einen Schlag und holte sie ein. »Höre zu«, sprach er zu dem Jüngling, »ich habe von deinem Brot gegessen und habe dich drei Nächte lang hungern lassen. Darum vergebe ich dir. Aber wenn du zum zweiten Male kommst, werde ich dich töten.« Damit nahm er das Mädchen und brachte sie zu seinem Hause zurück. Nun ging der Jüngling zu dem Bären und sagte: »Ich hatte mein Mädchen schon befreit, da holte mich der Tschordilendschis ein und sprach zu mir: >Ich aß drei Nächte lang dein Brot und ließ dich hungern. Wenn du aber zum zweiten Male kommst, bringe ich dich um.<« Da sagte der Bär: »Gehe nicht hin und setze dein Leben nicht aufs Spiel eines Mädchens wegen.« Der Jüngling aber meinte: »Ich werde doch gehen, und wenn er will, mag er mich töten.«



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— »So gehe denn«, sprach der Bär, »aber sowie du durch das Tor eintrittst, wirst du ein Fohlen finden, und wenn du kannst, besteige es; denn sonst kannst du nichts ausrichten.«

Der Jüngling ergriff also das Fohlen beim Zügel, stieg auf, nahm das Mädchen und setzte es hinter sich. Dann gab er dem Pferd einen Streich, und sie flohen. Die alte Stute, die Mutter des Fohlens, aber wieherte: »Herr, Herr! Das Fräulein ist fort!« — »Wieviel Uhr ist es?« fragte wieder der Tschordilendschis. »Wir können nicht säumen«, entgegnete die Stute. Indem er noch einmal fragte: »Ist es wirklich wahr?« bestieg der Tschordilendschis die Stute. Bald so, bald so versuchte er, sie einzuholen, aber es gelang ihm nicht. Da wieherte die Stute ihrem Fohlen zu: »He, Junges, hab ich dir denn Böses getan - es war doch meine Milch, die du trankst -, daß du dich jetzt nicht schüttelst und den Jüngling abwirfst und ihn in Stücke schlägst?« Als das Fohlen das hörte, schüttelte es sich und zertrat den Jüngling in Stücke. Der Tschordilendschis sammelte die Stücke und steckte sie in seinen Sattelsack. Dann nahm er des Jünglings Pferd und warf ihm den Sattelsack über den Rücken. Das Pferd begab sich geradewegs zu der Schwester, der Frau des Adlers. Als die Schwester ihn sah, weinte sie. Der Adler aber flog eilends zu der Zemzem-Quelle 1. Doch als er sie erreicht hatte und niederschoß, um ein wenig Wasser zu nehmen, brach seine Schwinge. Er kehrte zurück und sprengte das Wasser über den Jüngling. »Ach!« sagte der Jüngling, »ich habe geschlafen.« — »Ja, du hast wirklich fest geschlafen! Der Tschordilendschis hielt es mittlerweile mit deiner Mutter! 2 Iß und trink nun, denn ich ging und holte Wasser aus dem Zemzemquell, und schau, wie ich mir deinetwegen die Schwinge gebrochen habe!«

Das ist die Geschichte. — Auf Euer Wohl!


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