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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


7. Das schwierige Rätsel

Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Sohn. Mutter und Vater liebten ihn gar sehr. Dieser Knabe ging in die Schule und erlernte alles, was es auf der Welt zu wissen gibt. Eines Tages bekam er vier oder fünf Beutel Geld und verbrachte es in Saus und Braus. Am folgenden Tage trat er in der Frühe vor seinen Vater und sprach: »Gib mir wieder Geld!« Und er bekam abermals Geld, ging damit aus und vertat alles in einer Nacht. So verjubelte er das ganze Vermögen seines Vaters. Eines Tages trat er wiederum vor seine Eltern mit der Bitte um Geld. Da sprachen die Eltern zu ihm: »Mein Sohn, wir besitzen jetzt kein Geld mehr; doch wenn du willst, so nimm diese Pfannen, verkaufe sie und nimm dir den Erlös, um dir einen guten Tag zu machen.« Der Sohn verkaufte sie und verbrauchte das Geld in zwei Tagen. Dann kam er wieder zu seinen Eltern und verlangte Geld. Sie aber sprachen: »Wir haben kein Geld, mein Sohn, aber nimm doch unsere Kleider und verkaufe sie.« Den Erlös dafür verschwendete der Junge wieder in wenigen Tagen. Dann verkaufte er das Haus seiner Eltern und verpraßte das Geld in einem Monat. Da trat er abermals vor seine Eltern hin



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und forderte Geld von ihnen. Die Eltern aber klagten: »0 mein Sohn, weder Geld noch Haus ist uns geblieben, doch wenn du willst, so führe uns zum Sklavenmarkt und verkaufe uns!« Da verkaufte der Sohn seine Eltern. Vater und Mutter aber baten ihn: »Komme doch bald einmal her und besuche uns, damit wir dich wenigstens sehen können.« Beide Eltern wurden von dem König des Landes gekauft. Der Sohn aber erstand sich von dem Gelde, das er für seine Mutter erhalten hatte, neue Kleider und mit dem Geld, das man ihm für seinen Vater gegeben hatte, ein Pferd. Als nach ein, zwei Tagen der Sohn nicht kam, begannen seine Eltern zu weinen. Als die Bedienten des Königs das sahen, liefen sie zum König und sprachen: »Die Sklaven, die du dir gekauft hast, weinen sehr.« — »So ruft sie zu mir!« Als sie kamen, fragte sie der König: »Warum weint ihr?« — »Wir haben einen Sohn, um den weinen wir.« Da forschte der König weiter: »Was für Leute seid ihr denn eigentlich?« — »Wir haben auch schon bessere Tage gesehen, o König. Doch wir haben einen Sohn, der hat unseren Reichtum verpraßt und uns verkauft; um ihn weinen wir. Ach, daß er doch hierher käme, damit wir ihn wiedersehen könnten!« Während die Eltern mit dem König sprachen, kam der Sohn zurück. Der König aber schrieb einen Brief und bändigte ihn dem Jüngling ein mit den Worten: »Bringe diesen Brief zu dem und dem Orte hin.« In dem Brief aber hatte der König geschrieben: »Schneidet dem Jüngling, der euch diesen Brief bringt, sogleich den Hals ab.« Der Sohn machte sich reisefertig, bestieg sein Pferd, verbarg den Brief an seiner Brust und machte sich auf den Weg. Er war eine weite Strecke geritten, da verspürte er einen brennenden Durst und erblickte auch einen Brunnen. »Wie soll ich trinken?« dachte er. »Doch halt, ich werde den Brief an eine Schnur binden, ihn in den Brunnen hinabsenken und mir damit ein wenig den Mund benetzen.« Er ließ also den Brief in den Brunnen hinab, zog ihn wieder empor und preßte sich die Feuchtigkeit, die daran haftete, in den Mund. »0«, dachte



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er, »wenn ich doch sehen könnte, was in dem Briefe steht.« Doch was las er? »Schneidet dem Jüngling, der euch diesen Brief bringt, sogleich den Hals ab.« Als er das gelesen hatte, stand der Jüngling vor Schrecken erstarrt.

In jenem Lande aber lebte eine Königstochter. Der Jüngling hörte von ihr. Jeder, der um sie werbe, müsse ihr ein Rätsel aufgeben. Könne sie das Rätsel lösen, so verliere der Jüngling, der es ihr aufgegeben habe, seinen Kopf, könne sie es jedoch nicht lösen, so würde sie diesen Jüngling zum Manne nehmen. Als er das gehört hatte, ritt unser Jüngling sogleich zum Königspalast. »Was führt dich hierher?« fragte ihn der König. »Ich will deiner Tochter ein Rätsel aufgeben.« — »Nun gut, kann sie dein Rätsel lösen, wird sie dir den Kopf abschlagen, kann sie es jedoch nicht lösen, so soll sie deine Frau werden.«

Da trat der Jüngling vor das Mädchen. »Gib mir dein Rätsel auf!« sagte die Königstochter. Da sprach der Jüngling: »Ich habe meine Mutter angezogen, ich bin auf meinem Vater geritten und von meinem Tode habe ich Wasser getrunken.« Das Mädchen sah in sein Buch, doch es konnte das Rätsel nicht lösen. »Gib mir drei Tage zur Überlegung«, bat sie. »Wohlan, es sei!«sprach der Jüngling, ging in seine Herberge und legte sich nieder. Die Königstochter aber wußte, daß sie das Rätsel nicht würde lösen können. Da ließ sie einen unterirdischen Gang bis zum Schlafgemach des Jünglings bauen. Eines Nachts schlich dann das Mädchen zu ihm, umarmte den Jüngling und sprach: »Ich bin dein und du bist mein, wenn du mir des Rätsels Lösung sagst.« — »Ich kann es dir noch nicht sagen, erst mußt du dich entkleiden«, sprach der Jüngling. Da entkleidete sich das Mädchen. »Sage es mir nun«, flehte sie. Erst nachdem der Jüngling Besitz von ihr genommen, erklärte er ihr das Rätsel. Da klatschte das Mädchen in die Hände, ihre Dienerinnen kamen und brachten sie nach Hause. Sie hatte jedoch das Hemd des Jünglings angezogen und er das ihrige.



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Als es Tag wurde, rief man den Jüngling. Er bestieg sein Pferd und ritt zum Palast. Die Leute, die ihn sahen, sprachen: »Es ist schade um den Jüngling, man wird ihn töten.« Der Jüngling aber ritt vor den König. »Meine Tochter hat dein Rätsel gelöst«, sprach der König. »Was hat sie gelöst, mein König? Als ich in der Nacht schlief, kam ein Vogel zu mir auf die Brust geflogen. Ich habe ihn gefangen, getötet und gebraten. Doch als ich mich daran machte ihn zu essen, flog er davon.« Da rief der König: »Er soll getötet werden, er faselt!« — »Ich fasele nicht, mein König. Ich habe deiner Tochter das Rätsel erklärt. Deine Tochter hat einen unterirdischen Gang bauen lassen und ist, als ich schlief, zu mir gekommen. Sie lag in meinen Armen. Ich habe sie genommen und hieß sie, sich zu entkleiden. Dann nahm ich sie an meine Brust und erklärte ihr das Rätsel. Darauf schlug sie in die Hände, ihre Dienerinnen kamen und führten sie weg. Doch wenn du mir nicht glaubst, so sieh, ich trage ihr Hemd und sie das meinige.« Da sah der König, daß er die Wahrheit sprach. Er gab ein Hochzeitsfest von vierzig Tagen und vierzig Nächten, und der Jüngling heiratete das Mädchen. Dann ging er zu seinen Eltern und kaufte von jenem andern Könige seinen Vater und seine Mutter wieder frei.


Copyright: arpa, 2015.

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