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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


6. Der getreue Kahl kopf

Es lebte einmal ein Mann, der baute einen Dreimaster, nahm sich Schiffsmannschaft und fuhr alsdann vom weißen Meer zum schwarzen Meer. Eines Tages ging er an Land, um Trinkwasser zu schöpfen, da sah er vier oder fünf spielende Knaben. Unter ihnen befand sich ein kahlköpfiger Junge. Er rief den Kahlkopf zu sich und fragte ihn: »Wo ist hier der Brunnen?« Der Knabe zeigte ihn, und der Mann schöpfte Wasser. »Kommst du mit mir?« fragte er dann den Knaben. Der gab zur Antwort: »Ich möchte schon, aber ich habe noch eine Mutter.« — »Nun, so wollen wir zu deiner Mutter gehen.« Da gingen sie miteinander zu des Knaben Mutter. »Willst du mir deinen Jungen mitgeben?« fragte der Schiffsherr die Frau. »Ja, ich gebe ihn dir.« Der Mann zahlte ihr den Lohn für einige Monate und nahm den Knaben mit. Dann gingen sie in See und fuhren bis zu einem großen Dorfe. Hier rasteten sie, um Trinkwasser einzunehmen.

In dem Dorfe aber wohnte ein König. In jenen Tagen nun war der Sohn des Königs auf seinem Spaziergang einem Derwisch begegnet, der ein Gemälde feilbot. Es war das Bild seiner Tochter. Der Königssohn kaufte es, denn dieses Mädchenbild war über die Maßen schön. Der Derwisch, ihr Vater, hatte an dem Bilde seiner Tochter sieben Jahre gemalt. Der Königssohn aber ließ das Bild am Brunnen aufstellen. Vielleicht könnte von denen, die dahin kämen, um Wasser zu trinken, einmal jemand sagen: »Ich habe dieses Mädchen schon gesehen!« Auch der Schiffsherr schöpfte dort Wasser. Und als er aufblickte, sah er die Schöne und staunte: »Welch eine Schönheit!« Als er wieder auf seinem Schiff war, erzählte er seinen Leuten: »Im Dorfe dort ist ein wunderschönes Mädchenbild, ich habe noch nie ein gleiches gesehen.« Der Kahlkopf sprach: »Ich werde sie mir ansehen.« Er ging hin, doch als er das Bild sah, begann er zu lachen und rief: »Das ist ja die Tochter des Derwischs! Woher habt ihr nur ihr



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Bild?« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da wurde er ergriffen und zum Schlosse geführt. Der Kahlkopf aber hielt sich schon für verloren, als man ihn ergriff. Nach zwei Tagen fragten ihn andere Leute nochmals: »Kennst du jenes Mädchen?« — »Ich kenne sie; wir sind in einem Dorfe aufgewachsen. Ihre Mutter ist jetzt tot. Als wir klein waren, legte sie uns beide an ihre Brust.« Da sprachen die Leute: »Wenn du nun vor den König gebracht wirst, so fürchte nichts!« Und bald darauf führte man ihn zum König. Der fragte ihn: »Du kennst jenes Mädchen, mein Sohn?« — »Ja, ich kenne sie, wir sind zusammen aufgewachsen.« — »Kannst du sie hierher bringen?« Der Kahlkopf entgegnete: »Ich werde sie herfuhren, allein du mußt mich mit einem Dreimaster, gefüllt mit Goldstücken, ausrüsten. Dann gib mir dazu noch zwanzig Sänger mit Spielleuten. Auch deinen Sohn werde ich mit mir nehmen. Es wird aber sieben Jahre währen, bis ich wiederkomme. « Sie versorgten sich also für sieben Jahre mit Brot und Wein. Dann gingen sie in See und gelangten zur Heimat des Mädchens. Bei Tagesanbruch ließ der Kahlkopf das Schiff dicht am Hause des Mädchens vorüberfahren, denn ihr Haus lag dicht am Meer. Der Kahlkopf sprach: »Ich werde jetzt an Deck steigen und oben auf und ab gehen. Doch von euch darf sich keiner blicken lassen.« Er stieg also nach oben und ging auf dem Schiff auf und ab. — Als die Tochter des Derwischs sich vom Schlummer erhob, da beschien die Sonne das Schiff und zugleich aber auch ihr Wohnhaus. Sie trat heraus und rieb sich die Augen. Sie sah dort einen Mann auf und ab gehen; sie neigte sich vor und erkannte unseren Kahlkopf. Was mochte er hier suchen? »Was willst du hier?« rief sie ihm zu. »Ich bin deinethalben gekommen. Es sind so viele Jahre vergangen, seit ich dich zuletzt sah. Ich bin hierher gekommen, um dich wiederzusehen. Willst du nicht ein wenig aufs Schiff kommen? Wo ist denn dein Vater?« — »Weißt du nicht, daß mein Vater mein Bild gemalt hat? Er will es jetzt ver



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kaufen. Ich erwarte seine Rückkehr.« — »Komme herüber, wir wollen ein Weilchen miteinander plaudern.« Das Mädchen kleidete sich an. Der Jüngling ging alsdann zu den Schiffsleuten und sprach: »Verbergt euch, so daß keiner gesehen wird. Doch sobald ich sie in die Koje nehme und mit ihr plaudere, müßt ihr die Schiffstaue durchschneiden.« Das Mädchen kam in die Koje. Sie setzten sich nieder und plauderten. Währenddessen aber fuhr das Schiff ab.

Da ließ der Jüngling den Königssohn aus seinem Versteck hervorkommen. »Wer ist dieser?« fragte erstaunt das Mädchen und setzte hinzu: »Ich möchte jetzt wieder gehen!« — »Bist du närrisch, meine Schwester? Komm, wir wollen noch ein wenig von diesen Süßigkeiten kosten!« Er gab dem Mädchen davon, und sie ließ sich betören. Nun meinte der Kahlkopf: »Jetzt sollen dir die Musikanten etwas spielen.« Er ging und holte die Musikanten, und sie begannen zu spielen. Das Mädchen sprach nochmals: »Ich muß fort, denn mein Vater kommt.« — »Bleibe noch ein wenig hier, damit dir die Jungen noch etwas spielen.« Während aber jene Musik machten, hörte sie nicht, daß das Schiff schon wieder in Fahrt war. »Nun aber muß ich gehen!« sagte sie schließlich und ging an Deck und sah, wo ihr Haus lag. »Mein Bruder«, rief sie, »was hast du mir getan?« — »Was soll weiter werden? Schau, jener Mann, der neben dir sitzt, ist der Sohn des Königs, und ich bin gekommen, um dich für ihn zu holen!« Das Mädchen aber weinte. »Was soll ich tun?« rief sie aus. »Soll ich mich ins Meer stürzen?« So klagend ging sie zum Königssohn und setzte sich zu ihm. Die Musik spielte, und Speise und Trank gab's im Überfluß. Der Kahlkopf aber war allein oben, als Kapitän stand er regungslos auf seinem Posten, während die anderen sich's wohl sein ließen. Sie waren wohl zwei oder drei Tage schon unterwegs. Da kamen eines Tages beim Morgengrauen drei Vögel auf das Schiff geflogen. Außer dem Kahlkopf war niemand an Deck. Zwei der Vögel begannen zu fragen: »Vogel, Vogel, was gibt es



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denn, Vogel?« Der dritte erwiderte: »Die Tochter des Derwischs ißt und trinkt mit dem Sohn des Königs und ahnt nicht, was für ein Verhängnis ihr bevorsteht.« — »So erzähle es uns«, baten die anderen Vögel. »Sobald sie ankommen werden, wird ein kleines Schiff herzufahren, um sie an Land zu bringen. Dies Boot wird aber kentern, und die Tochter des Derwischs und der Königssohn werden ertrinken. Doch jeder, der dies hört und sie vorher warnt, wird bis zum Knie in Stein verwandelt werden.« Der Kahlkopf hörte alles, doch außer ihm hörte es keiner. — Am folgenden Tage kamen die Vögel abermals in der Frühe zusammen und begannen sich zu unterhalten. Zwei von ihnen fragten den dritten: »Vogel, Vogel! Was gibt es, Vogel?« — »Hört nur: Die Tochter des Derwischs und der Königssohn, die jetzt noch essen und trinken, wissen nichts von dem Schrecklichen, das ihnen droht. Sobald sie landen und unter das Tor des Schlosses treten, wird das Tor einstürzen und wird sie zerschmettern und töten. Doch wer es hört und es ihnen ausplaudert, wird bis zum Rücken in Stein verwandelt werden.« — Auch am folgenden Tage kamen die drei Vögel wieder. Und wieder hörte der Kahlkopf ihr Gespräch: »Vogel, Vogel, was gibt es Neues, Vogel?« Der gab den beiden andern zur Antwort: »Wehe, die Tochter des Derwischs ißt und trinkt und weiß nicht, was ihr zustoßen wird. Am Abend ihrer Hochzeit wird ein Drache mit sieben Köpfen kommen und den Königssohn und das Mädchen verschlingen. Doch wer es hört und verrät, wird bis zum Kopf in Stein verwandelt werden.« Da sprach der Kahlkopf zu sich selbst: »Ich werde verhindern, daß Landungsboote kommen.« Doch als er dem Schlosse zusteuerte, kamen auch schon die Landungsboote heran, um das Mädchen aufzunehmen. »Zurück! Ich wünsche die Boote nicht«, rief er. Da drehten die Boote, und er fuhr mit vollen Segeln an Land. Die es sahen, sprachen: »Warum will er denn das Schiff mit Gewalt zerstören?« Auch der König sprach: »Beim Landen geht es in Trümmer.« Und wirklich, das Schiff zer



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schellte. Doch der Jüngling sprach: »Habe ich dir nicht damals, als du mir den Auftrag gabst, das Mädchen zu holen, erklärt, daß ich immer nach eigenem Gutdünken handeln wolle? Ich lasse mir also von niemand dreinreden.« Nun schritt er mit dem Königssohn und dem Mädchen bis zum Tore. »Reißt es nieder!« befahl er. »Warum sollen wir es zerstören?« sprachen die Hofleute. »Habe ich euch nicht gesagt, daß ihr euch nicht in meine Angelegenheiten zu mischen habt?« Da rissen sie das Tor nieder. Dann gingen alle in den Palast, aßen und tranken, lachten und plauderten. Den Kahlkopf aber quälte die Sorge. Es wurde Nacht. Die Beiden wurden getraut. Nun erklärte der Kahlkopf dem jungen Paar: »Da, wo ihr schlafen werdet, werde auch ich schlafen.« Der König aber wollte es nicht zulassen und sprach: »Hier, wo die Neugetrauten ruhen werden, kannst du doch die Nacht nicht verbringen!« — »Wie lautete denn unsere Vereinbarung?« fragte der Jüngling. »Tu, wie du willst!« erwiderte der König. Da gingen sie alle drei ins Schlafgemach und legten sich nieder. Der Kahlkopf aber legte sich mit dem Schwerte in der Hand zur Ruhe und zog sich die Decke über den Kopf. Um Mitternacht hörte er, daß ein Drache kam. Er zog sein Schwert, schnitt ihm die Köpfe ab und legte sie unter das Kopfkissen. Der Sohn des Königs aber erwachte und sah das Schwert in seinen Händen und schrie: »Der Kahlkopf wird uns töten!« Da kam sein Vater und fragte ihn: »Warum schreist du so, mein Sohn?« — »Dieser Jüngling will uns töten!« erwiderte er. Da fesselten sie dem Kahlkopf die Arme.

Als es Tag wurde, ließ ihn der König vor sich bringen und sprach: »Was für ein Spiel hast du getrieben? Sieben Jahre bist du umhergezogen, um das Mädchen hierher zu führen, und jetzt wolltest du sie und ihren Gatten töten.« »Was sollte ich tun? Ich konnte nicht anders handeln!«

»Du wolltest meinen Sohn töten, jetzt werde ich dich töten!« — »Das steht bei dir!« war die Antwort des Jünglings.



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Da fesselten sie ihn und führten ihn ab, um ihn hinzurichten. Während er dahinschritt, sprach der Kahlkopf zu sich: »Nun werden sie mich enthaupten, da kann ich ebensogut mein Geheimnis jetzt offenbaren, wenn ich dann auch in Stein verwandelt werde.« Da wandte er sich an die, die ihn abführten: »Vorwärts, führt mich nochmals zum König, ich habe ihm noch zwei Worte zu sagen!« Da führten sie ihn zum König. »Warum habt ihr ihn hierhergeführt?« — »Er hat dir noch etwas zu sagen.« — »So sprich, mein Sohn!« — »Als ich die Tochter des Derwischs hierher brachte, war ich ganz allein auf dem Schiff. Dein Sohn aß und trank mit dem Mädchen. Eines Morgens kamen drei Vögel. Die sprachen untereinander: >Was gibt es Neues?< — >Die Tochter des Derwischs ißt und trinkt mit dem Königssohn; doch sie weiß nicht, daß ihr ein Unglück droht. Doch wer es hört und dann erzählt, wird bis zum Knie in Stein verwandelt werden!< Doch außer mir hörte es niemand.« Kaum hatte der Kahlkopf das gesagt, als er bis zum Knie in Stein verwandelt war. Als der König das sah, rief er: »Halt ein, mein Sohn, sprich nicht weiter!« — »Ich rede doch weiter«, sagte der Jüngling. Als er auch von dem Tore erzählte, da wurde er bis zum Rücken in Stein verwandelt. Und doch berichtete er weiter: »Die Vögel kamen zum dritten Male, und ich belauschte wieder ihr Gespräch. Das war der Grund, daß ich mit dem jungen Paar im gleichen Zimmer schlafen wollte, denn ein siebenköpfiger Drache erschien in der Nacht, um sie beide zu verschlingen. Wenn du es aber nicht glaubst, so sieh unter das Kopfkissen!« Da gingen sie hin und fanden die Köpfe. Der Kahlkopf aber schloß mit den Worten: »Ich habe ihn getötet. Dein Sohn aber sah das Schwert in meinen Händen und glaubte, daß ich ihn töten wolle. Ich aber konnte ihm mein Geheimnis nicht sagen.« Da wurde der Kahlkopf bis zum Kopf in Stein verwandelt, und man legte ihn ins Grab. Der Königssohn aber zog in die Welt. Er sagte: »Sieben Jahre hat er für mich die Mühen der Reise erduldet. Ich werde auch sieben Jahre um seinetwillen



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wandern.« Eines Tages kam er an einen Ort, wo Wasser war. Er trank davon, legte sich nieder und schlief ein. Da erschien ihm der Kahlkopf im Traum und sprach zu ihm: »Nimm von hier ein wenig Erde und wirf sie auf mein Grab. Dann wird der Stein von mir abfallen.« — Der Königssohn schlief lange, dann erhob er sich, nahm Erde und warf sie auf das Grab. Da stand der Kahlkopf auf und fragte: »Wie lange habe ich geschlafen?« — »Du bist sieben Jahre lang für mich umhergezogen, sieben Jahre bin auch ich für dich gewandert«, sagte der Königssohn und führte ihn in sein Schloß und erhob ihn zu einem hohen Amte.


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