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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


2. Der Kluge und der Narr

Es waren einmal zwei Brüder, einer war klug, und einer war ein Narr. Sie besaßen nichts und suchten einen Lebensunterhalt. Da kamen sie in ein kleines Dorf. Darin lebte eine Ghule 1 in der Gestalt einer Frau. Als sie die Brüder sah, sagte sie zu ihnen: »Seid willkommen, Söhne meiner Schwester!« Zu dem Klugen sprach sie: »Hüte die Ziegen und laß deinen Bruder im Hause bleiben.« Er gehorchte, nahm die Ziegen und trieb sie auf die Weide. Nachdem er gegangen war, sagte sie zu dem närrischen Bruder: »Bringe deinem Bruder Essen, bringe ihm dreißig Brote und Eier.« Er nahm sie und wanderte los. Unterwegs gewahrte er seinen Schatten. »Was willst du von mir?« fragte er, »bist du hungrig? Hier, nimm das Brot und das Ei!« Und schon warf er sie ihm zu. Beim Weiterwandern blickte er wieder um sich. »Was willst



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du noch haben, willst du noch ein Brot und noch ein Ei haben?« fragte er den Schatten und warf sie ihm wieder zu. Dann ging er weiter. Die ganze Landstraße entlang warf er seinem Schatten Brot und Eier zu, bis er seinen Bruder fand. Und als er bei dem Bruder anlangte, besaß er weder ein Brot noch ein Ei. Der Kluge fragte ihn: »Wo ist das Brot, das du bringen solltest?« Da entgegnete der Narr seinem Bruder: »Sieh jenen Mann« — und er zeigte mit der Hand auf den Schatten -, »er folgte mir; von dem Augenblick an, wo ich das Haus verließ, ist er mit mir gegangen. Er war hungrig. Die ganze Zeit über, die ich zu gehen hatte, warf ich ihm ein Brot und ein Ei zu, bis nichts mehr übrigblieb.« Der kluge Bruder sagte: »Bleibe hier, Bruder« — er wußte nämlich, daß sein Bruder ein Narr war -, »bleibe hier, gib acht auf die Ziegen, während ich gehe, um das Essen zu holen.« Er ließ also seinen Bruder zurück und ging, um die Brote und Eier zu holen, die jener auf den Weg geworfen hatte. Als er gegangen war, kletterte sein Bruder, der Narr, auf einen Akazienbaum, unter dem die Ziegen weideten. Er sagte zu den Ziegen: »Ich werde euch Akazienschoten zuwerfen, laßt einige Schoten meinem Bruder übrig, daß er auch essen kann, wenn er zurückkommt. Wenn ihr ihm keine laßt, werde ich euch töten.« Und er pflückte die Schoten und warf sie den Ziegen hinab. Die Ziegen fraßen, denn sie waren hungrig. Als der Narr vom Baum heruntergestiegen war, sah er nach, ob sie für seinen Bruder etwas übriggelassen hatten, wie er es ihnen anbefohlen hatte. Aber er sah nichts. Bei einer großen Ziege waren zwei Schoten an der Spitze ihrer Hörner hängengeblieben. Da sagte er: »Ich töte euch alle, nur die große lasse ich am Leben, denn sie hörte auf mein Wort.« Da tötete er sie alle bis auf die große Ziege. Sein kluger Bruder kehrte zurück. Als er sah, daß die Ziegen getötet waren, fragte er den Narren: »Wer hat das getan?« Der erzählte ihm, wie es sich zugetragen hatte. Sein Bruder wurde wütend und bekam Angst vor der Ghule. Er sprach zu dem Narren:



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»Warum hast du das getan? Was wird die Ghule mit uns anfangen, wenn wir ihr unter die Augen kommen? Komm, wir wollen fliehen, bevor sie uns erblickt!« Aber der Narr wollte nicht, da floh der kluge Bruder allein.

Der Narr kehrte mit der großen Ziege nach dem Hause der Ghule zurück. Diese fragte: »Wo sind die Ziegen?« Er antwortete ihr: »Das und das geschah mit ihnen, Tante. Mein Bruder floh, denn er hatte Angst.« Sie sagte: »Schön, dann wollen wir beide gehen und die Ziegen holen, damit wir sie essen.« Beide gingen und holten sie. Als sie sie nach Hause gebracht hatten, nahm die Ghule den Narren, steckte ihn in einen Sack, band die Öffnung des Sackes zu und warf ihn auf den Boden. Dann ging sie und rief ihre Verwandten zusammen, um mit ihnen den Narren zu verspeisen. Ihre Tochter aber blieb im Hause und zündete unterdessen schon das Feuer an. Da rief ihr der Narr zu: »Laß mich heraus, ich will dir das Feuer anblasen.« Sie löste also den Strick, mit dem der Sack verschnürt war, und er blies ihr das Feuer an. Als das Wasser zum Sieden kam, ergriff er die Tochter der Ghule, warf sie ins Wasser und entfloh. Er durchschritt ein Flußbett, durch das die Ghule ihm nicht folgen konnte. Dann traf er seinen klugen Bruder und erzählte ihm, wie es ihm ergangen war. Inzwischen kam die Ghule mit ihren Verwandten nach Hause. Sie sah niemanden, suchte nach dem Narren, fand aber weder ihn noch das Mädchen. Als sie aber in den Kessel, der auf dem Feuer stand, blickte, sah sie ihre Tochter darin und schrie: »Das ist das Werk des Narren!« Sie rannte hinter ihm her, um ihn zu töten. Als sie ihn jenseits des Flusses gewahrte, lockte sie ihn mit den Worten: »Komm, meiner Schwester Sohn, komm, wir wollen das Fleisch essen.« Er aber erwiderte: »Ihr wollt mich umbringen, ich komme nicht!« Da ging sie ärgerlich nach Hause. Am Abend aber, als die Sonne unterging, verließ der Narr seinen Bruder und kehrte zu der Ghule zurück. Dort schlich er sich bei den Küken ein und tötete diese alle. Da krähte der Hahn: »Der



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Narr tötet die Küken, die in dem Hühnerstall sind!« Die Ghule fuhr aus dem Schlafe, um den Narren zu suchen und zu ergreifen. Aber sie fand ihn nicht. Der nahm die toten Küken und ging zu seinem Bruder, auch die Handmühlel nahm er noch mit sich. Als er bei seinem Bruder angelangt war, zündete er ein Feuer an und kochte die Küken, und sie aßen. Bis zum Morgen blieben sie auf diesem Platz. Die Ghule aber vermißte, als der Tag anbrach, ihre Küken und die Mühle. »Kein anderer als der Narr hat das getan!« rief sie und verfolgte ihn, um ihn zu töten. Sie sah ihn aber erst, als er schon wieder jenseits des Flußtales war, und sie schrie: »Du hast mir all dieses angetan, ohne Gnade werde ich dich umbringen.« Der Narr entgegnete: »Oder ich dich!« Da kehrte sie in ihr Haus zurück.

Der Narr aber und sein Bruder gingen in ein Dorf; sie sahen niemand darin, denn seine Bewohner befanden sich auswärts auf Arbeit. Die Brüder setzten sich also unter einen Baum, um sich auszuruhen. Nichts war zu sehen, bis auf einmal vier Soldaten angeritten kamen. Sowie diese das Tal erreichten, kamen auch die Dorfleute herbei. Aber der Narr erhob sich, als er die Leute und die Soldaten erblickte. Als sie herankamen, nahm er die Mühle und kletterte auf den Baum, der Kluge aber entfloh. Die Reitersleute hielten unter dem Baum, auf dem der Narr sich befand, und setzten sich darunter. Die Dorfbewohner brachten Essen herbei und stellten es vor sie hin. Da begann der Narr an seinen Stirnknochen zu klopfen und ließ dabei Urin und Kot auf die Köpfe der Soldaten hinab. Die Soldaten sagten: »Es regnet und donnert auf der Erde. Laßt uns fliehen.« Und sie ließen das Essen im Stiche und flohen. Nun rief der Narr seinen Bruder und sagte zu ihm: »Komm, sieh dieses Essen, komm, laß uns essen!« Der Kluge kam herbei und begann zu essen. Er fragte den Narren: »Warum ißt du nicht mit mir von diesem Essen?«



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Der Narr, der begonnen hatte, den Pferdemist aufzuessen, antwortete ihm: »Ich esse Weinlaub.«

Als sie satt waren, erhoben sie sich und gingen zur Stadt. Sie vertauschten ihre Sachen, nahmen einen Esel, beluden ihn mit zwei Kasten voll Halawil und zogen nach dem Dorfe, um das Halawl zu verkaufen. Unterwegs trafen sie die Ghule. Als die sie sah, sprach sie zu ihnen: »Seid ihr's nicht, seid ihr denn nicht die beiden Brüder, der Narr und der Kluge?« — »Wie kommst du darauf? Wir kennen sie nicht, wir sind Halawi-Händler. Wenn du etwas haben willst, kaufe von uns und lasse uns gehen.« Sie sagte: »Laßt mich kosten!« — »Steig in den Kasten und laß es dir schmecken!« Da stieg sie hinein. Als sie aber darin war, schlossen sie den Deckel, nahmen sie und gingen zu dem Tale. Dort machten sie ein großes Feuer und warfen sie samt dem Kasten hinein, so daß sie verkohlte und starb. Am andern Tage kehrten sie zu dem Hause der Ghule zurück, nahmen ihre Sachen und zogen danach in ihre Heimat. Sie waren nun reich, zufrieden und glücklich.


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