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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON CHUDADÂD UND SEINEN BRÜDERN'

O glücklicher König, diese meine Geschichte erzählt von dem Königreich von Dijâr Bakr', in dessen Hauptstadt Harrân' ein Sultan von erlauchter Herkunft lebte, ein Schirmherr des Volks, der seine Untertanen liebte, ein Freund der Menschen. der berühmt war, weil er alle guten Eigenschaften besaß. Nun hatte Allah der Erhabene ihm alles verliehen, was sein Herz nur begehren konnte, doch mit einem Kinde hatte Er ihn nicht gesegnet; denn wiewohl er anmutige Gemahlinnen und schöne Nebenfrauen in großer Zahl in seinem Harem hatte, so war ihm doch kein Sohn beschert worden, und deshalb



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sandte er unablässig Gebete zum Schöpfer empor. Eines Nachts aber erschien ihm im Traume ein Mann von schöner Erscheinung und heiligem Aussehen, gleich einem Propheten; der sprach ihn an und sagte: ,Mächtiger König, deine Gebete sind endlich erhört. Erhebe dich morgen, wenn der Tag anbricht, und verrichte ein Frühgebet von zwei Rak'as und sende deine Bitten empor; dann eile zum Obergärtner deines Palastes und verlange von ihm einen Granatapfel; von dem iß dann so viele Kerne, wie dir gut dünkt. Dann verrichte noch einmal ein Gebet von zwei Rak'as, und Allah wird dein Haupt mit Huld und Gnaden überschütten.' Als nun der König bei Tagesanbruch erwachte, entsann er sich des Traumgesichts und dankte dem Allmächtigen, verrichtete seine Gebete und flehte knieend um Segen. Darauf erhob er sich und begab sich in den Garten; und nachdem er einen Granatapfel von dem Obergärtner erhalten hatte, zählte er fünfzig Kerne davon und aß sie, einen für eine jede seiner Frauen. Dann ruhte er nacheinander eine Nacht bei jeder, und durch die Allmacht des Schöpfers offenbarte sich nach Erfüllung der Zeit bei allen, daß sie empfangen hatten, außer bei einer, die Firûza' geheißen war. Darum hegte der König einen Groll gegen sie, indem er bei sich sprach: ,Allah erachtet diese Frau für gering und unselig, und Er will nicht, daß sie die Mutter eines Prinzen werde, und darum ist der Fluch der Unfruchtbarkeit ihr zuteil geworden.' Er wollte sie hinrichten lassen, aber der Großwesir legte Fürbitte für sie ein und bat ihn, er möge bedenken, daß Firûza vielleicht doch guter Hoffnung sei und trotzdem nicht die äußeren Anzeichen davon an sich trüge, wie es mancher Frau ergehe; wenn er sie also töten ließe, so möchte er vielleicht einem Prinzen mit der Mutter das Leben nehmen.



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Der König erwiderte: ,So sei es! Töte sie nicht, aber sorge dafür, daß sie nicht länger am Hofe noch inder Stadt bleibt, denn ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen!' Darauf sagte der Minister: ,Es soll geschehen, wie deine Hoheit befiehlt. Möge sie der Obhut des Sohnes deines Bruders, des Prinzen Samir, anvertraut werden!' Der König folgte dem Rate seines Wesirs und entsandte die verabscheute Königin nach Samaria, zugleich mit einem Schreiben folgenden Inhaltes an seinen Neffen: ,Wir vertrauen diese Herrin deiner Obhut an; behandle sie ehrenvoll, und solltest du an ihr Zeichen bemerken, daß sie guter Hoffnung ist, so denke daran, daß du uns alsbald und ohne Verzug davon Nachricht gibst!' So reiste denn Firûza nach Samaria, und als ihre Zeit erfüllt war, schenkte sie einem Knäblein das Leben und ward Mutter eines Prinzen, dessen Antlitz so hell erstrahlte wie der leuchtende Tag. Da sandte der Herr von Samaria einen Brief an den Sultan von Hann mit der Botschaft: ,Ein Prinz ist geboren aus dem Schoße Firûzas; Allah der Erhabene gebe dir Dauer des Glücks!' Durch diese Nachricht wurde der König von Freude erfüllt, und alsbald antwortete er seinem Neffen, dem Prinzen Samir: ,Jede von meinen neunundvierzig Frauen ist mit einem Sprößling gesegnet, und es erfreut mich über die Maßen, daß auch Firûza mir einen Sohn geschenkt hat. Laß ihn Chudadâd' heißen und hüte ihn sorgsam; und was du nur immer brauchst für die Feierlichkeit seiner Geburt, soll dir ohne Rücksicht auf die Kosten ausgezahlt werden!' Da übernahm Prinz Samir mit der allergrößten Freude die Sorge für den Prinzen Chudadâd, und sobald der Knabe das Alter erreichte, Unterricht zu empfangen, bestellte er für ihn Lehrer in der Reitkunst, im Bogens.



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schießen und in allen Künsten und Wissenschaften, die zu lernen Königssöhnen geziemt, sodaß er in allen Kenntnissen vollkommen ward. Mit achtzehn Jahren war er von herrlicher Gestalt, und seine Stärke und Tapferkeit waren so groß, daß niemand in der ganzen Welt sich ihm vergleichen konnte. Und da er nun fühlte, daß er von ungewöhnlicher Kraft und männlichem Wesen erfüllt war, so wandte er sich eines Tages an seine Mutter Firûza und sprach zu ihr: ,Liebe Mutter, gib mir Urlaub, auf daß ich Samaria verlasse und auf der Suche nach dem Glück ausziehe, zumal auf dem Schlachtfelde, wo ich meine Kraft und Kühnheit erweisen kann. Mein Vater. der König von Harrân, hat viele Feinde, von denen es manche gelüstet, Krieg wider ihn zu führen, und es wundert mich, daß er in solcher Zeit mich nicht beruft, um mich in diesen wichtigsten aller Dinge zu seinem Helfer zu machen. Da ich sehe, daß ich solchen Mut und solche gottgegebene Kraft besitze, so geziemt es mir, nicht müßig zu Hause zu sitzen. Mein Vater weiß nicht von meiner Stärke und denkt wirklich überhaupt nicht an mich; trotzdem gebührt es mir, daß ich in solcher Zeit vor ihn hintrete und ihm meine Dienste anbiete, bis auch meine Brüder fähig sind, zu fechten und gegen seine Feinde Fehde zu führen.' Darauf erwiderte seine Mutter: ,Mein lieber Sohn, dein Fernsein ist mir leid; doch in der Tat, es geziemt dir, deinem Vater gegen die Feinde zu helfen, die ihn von allen Seiten angreifen, falls er nach deiner Hilfe verlangt.' Chudadâd aber antwortete seiner Mutter Firûza: ,Ich bin wahrlich nicht imstande noch länger zu warten; ferner habe ich solch eine Sehnsucht in meinem Herzen, den Sultan, meinen Vater, zu sehen, daß ich sicher sterben werde, wenn ich nicht hingehe, ihn zu besuchen und ihm die Füße zu küssen. Ich will als ein Fremdling, der ihm ganz unbekannt ist, in seinen



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Dienst treten, ohne ihm zu sagen, daß ich sein Sohn bin; ich will ihm als einer seiner Dienstmannen aus fremdem Lande gelten und ihm mit solcher Hingabe folgen und dienen, daß er mir, wenn er erfährt, daß ich wirklich sein Kind bin, mir seine Gunst und Zuneigung schenkt.' Auch Prinz Samir wollte nicht dulden, daß er von dannen zöge, und er verbot es ihm; dennoch verließ der Prinz eines Tages Samaria ganz plötzlich unter dem Vorwande, daß er zu Jagd und Hatz ausreite. Er bestieg ein milchweißes Roß, dessen Zügel und Steigbügel aus Gold waren und das einen Sattel und Schabracken aus blauem Atlas trug, die mit Juwelen besetzt und mit Fransen aus hellen Perlen verziert waren. Sein Säbel hatte einen Griff aus einem einzigen Diamanten, die Scheide aus Sandelholz war mit Rubinen und Smaragden besetzt, und sie war an einem Gürtel voller Juwelen befestigt, während sein Bogen und sein reich verzierter Köcher ihm zur Seite hingen. So ausgerüstet und von seinen Freunden und Vertrauten begleitet, traf er bald wohlbehalten in der Stadt Harrân ein; und als sich die Gelegenheit bot, erschien er vor dem König und wartete ihm auf bei der Staatsversammlung. Da der König seine Schönheit und sein stattliches Aussehen bemerkte, oder vielleicht auch, weil sich die natürliche Zuneigung in ihm regte, geruhte er seinen Gruß zu erwidern; dann rief er ihn huldvoll an seine Seite und fragte ihn nach seinem Namen und seiner Herkunft. Darauf erwiderte Chudadâd: ,Hoher Herr. ich bin der Sohn eines Emirs in Kairo. Die Lust zum Reisen hat mich getrieben, meine Vaterstadt zu verlassen und von Land zu Land zu wandern, bis ich schließlich hierher gekommen bin; und da ich gehört habe, daß du wichtige Dinge betreibst, so hege ich den Wunsch, dir meine Tapferkeit zu beweisen.' Der König war über die Maßen erfreut, als er diese festen und



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mannhaften Worte vernahm, und er gab ihm sogleich das Amt eines Befehlshabers in seinem Heer. Chudadâd aber gewann sich schnell durch sorgsame Aufsicht über die Truppen die Achtung seiner Hauptleute, die er alle zufrieden zu stellen suchte, und auch die Herzen der Krieger durch seine Kraft und seinen Mut, sein gütiges Wesen und seine freundliche Gesinnung. Er brachte ferner das Heer und seine ganze Ausrüstung und das Kriegsgerät in eine so trefflich geordnete Verfassung, daß der König entzückt war, als er eine Musterung über sie abhielt, und den Fremdling zum Oberbefehlshaber ernannte und ihn zu seinem besonderen Günstling machte; und als die Wesire und Emire, die Statthalter und die Vornehmen bemerkten, daß er in hoher Ehre und Achtung stand, zeigten auch sie ihm nichts als Wohlwollen und Zuneigung. Allein die anderen Prinzen, die nun in den Augen des Königs und der Untertanen nichts mehr galten, wurden neidisch auf seine hohe Stellung und Würde. Chudadâd aber gefiel dem Sultan, seinem Herrn, immerdar zu allen Zeiten, wenn sie miteinander sprachen, durch seine Klugheit und Besonnenheit, seine Einsicht und Weisheit und gewann seine Achtung immer noch mehr; und als die Feinde, die einen Raubzug in das Reich geplant hatten, von der Manneszucht im Heere und von Chudadâds Waffenrüstungen hörten, gaben sie jegliche feindliche Absicht auf. Nach einer Weile übertrug der König an Chudadâd auch die Obhut und die Erziehung der neunundvierzig Prinzen, da er sich ganz auf seine Weisheit und sein Geschick verließ, und so wurde Chudadâd, obwohl er im gleichen Alter stand wie seine Brüder, dennoch ihr Meister durch seine Einsicht und seinen Verstand. Sie aber haßten ihn deshalb nur noch um so mehr; und als sie sich eines Tages berieten, sprach einer zum anderen: ,Was hat unser Vater da getan, daß er



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einen fremden Kerl zu seinem Vertrauten gemacht und zum Herrn über uns gesetzt hat? Wir können nichts mehr tun ohne die Erlaubnis dieses unseres Lehrmeisters, und unsere Lage ist ganz unerträglich; wir wollen darum etwas ersinnen, um uns von diesem Fremdling zu befreien oder doch wenigstens ihn in den Augen unseres Vaters, des Sultans, gemein und verächtlich zu machen.' Einer hub an: ,Wir wollen uns zusammentun und ihn an einer einsamen Stelle totschlagen.' Doch ein anderer entgegnete: ,Nicht so! Wenn wir ihn töten, so nützt uns das nichts; denn wie könnten wir die Sache vor dem König verborgen halten? Er würde unser Feind werden, und nur Allah weiß, welches Unheil dann über uns käme. Nein, wir wollen ihn vielmehr um Erlaubnis bitten und auf die Jagd ziehen und dann in einer fernen Stadt bleiben; nach einer Weile wird der König sich über unser Ausbleiben wundern, danach wird er sich tief grämen, und schließlich, wenn er zornig und argwöhnisch wird, so wird er diesen Gesellen zum Palast hinausjagen oder gar vielleicht hinrichten lassen. Dies ist der einzige wirklich sichere Weg, sein Verderben herbeizuführen.' Die neunundvierzig Brüder stimmten darin überein, daß dieser Plan der klügste sei; dann gingen sie alsbald gemeinsam zu Chudadâd und baten ihn um Erlaubnis, eine Weile im Lande umherzureiten und auf die Jagd zu ziehen, indem sie ihm versprachen, sie würden bei Sonnenuntergang heimkehren. Er ließ sich überlisten und erlaubte ihnen zu gehen; darauf ritten sie fort zur Jagd, allein sie kehrten weder an jenem noch am nächsten Tage zurück. Der König aber, der sie vermißte, fragte am dritten Tage Chudadâd, wie es käme, daß keiner seiner Söhne zu sehen wäre; und der antwortete, sie hätten vor drei Tagen von ihm die Erlaubnis erhalten, auf Jagd zu reiten, und wären noch nicht heimgekehrt. Darüber



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machte sich der Vater schwere Sorgen; und als noch mehrere Tage verstrichen waren und die Prinzen immer noch nicht erschienen, wurde der alte Sultan sehr erregt in seinem Innern, so daß er seinen Unwillen kaum noch zurückhalten konnte; und er berief Chudadâd und fuhr ihn in hellem Zorn an: ,O du pffichtvergessener Fremdling, was ist das für eine Kühnheit und Vermessenheit von dir, daß du meine Söhne auf die Jagd reiten ließest und nicht mit ihnen rittest? Jetzt liegt es dir ob, dich aufzumachen, um nach ihnen zu suchen und sie zurückzubringen; sonst ist der Tod dir sicher.' Als Chudadâd diese harten Worte vernahm, ward er bestürzt und erschrak; doch er machte sich bereit, bestieg sofort sein Roß und verließ die Stadt, um nach den Prinzen, seinen Brüdern, zu suchen; so zog er von Land zu Land, gleichwie ein Hirte, der eine verirrte Ziegenherde sucht. Da er nun keine Spur von ihnen entdeckte, weder in bewohntem Lande noch in der Wüste, wurde er über die Maßen bekümmert und betrübt, und er sprach in seiner Seele: ,Ach, meine Brüder, was ist euch widerfahren, und wo mögt ihr jetzt wellen? Vielleicht hat irgendein mächtiger Feind euch gefangen genommen, so daß ihr nicht entrinnen könnt! Doch ich kann nie mehr nach Hann zurückkehren, wenn ich euch nicht finde, denn das würde dem König bitteren Kummer und Gram bringen.' Nun bereute er es immer tiefer, daß er sie ohne sein Geleit und seine Führung hatte ziehen lassen. Schließlich, wie er so nach ihnen suchte von Tal zu Tal und von Wald zu Wald, kam er plötzlich zu einer weiten und geräumigen Flur, in deren Mitte sich ein Schloß von schwarzem Marmor erhob; er ritt langsam darauf zu, und als er dicht unter den Mauern war, erblickte er eine Maid von unvergleichlicher Schönheit und Anmut, die in tiefer Trauer an einem Fenster saß und keinen anderen Schmuck an sich hatte



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als ihre eigenen Reize. Ihr schönes Haar hing in losen Locken herunter; ihr Gewand war zerfetzt, und ihr Antlitz war bleich und verriet Trauer und Kummer. Doch sie sprach ihn mit gedämpfter Stimme an, und als Chudadâd aufmerksam lauschte, hörte er, wie sie diese Worte sprach: ,O Jüngling, flieh diese unselige Stätte, sonst fällst du in die Hände des Ungeheuers, das hier wohnt! Ein schwarzer' Menschenfresser ist der Herr dieses Schlosses, der ergreift alle, die das Schicksal zu dieser Flur sendet, und sperrt sie in dunkle und enge Zellen ein, um sie sich als Speise aufzubewahren.' Da rief Chudadâd ihr zu: ,Meine Herrin, sage mir, ich bitte dich, wer bist du, und wo ist deine Heimat?' Und sie antwortete: ,Ich gehöre zu den Töchtern Kairos und bin eine der edelsten unter ihnen. Vor kurzem, als ich auf dem Wege nach Baghdad war, machte ich auf dieser Ebene Halt, und da begegnete ich jenem Mohren; der erschlug alle meine Diener, und nachdem er mich mit Gewalt fortgeschleppt hatte, sperrte er mich in diesen Palast ein. Ich mag nicht länger leben, ja, es wäre tausendmal besser für mich, wenn ich stürbe; denn diesen Mohr gelüstet es nach mir, und wiewohl ich bisher den Liebkosungen dieses unreinen Schurken entgangen bin, so wird er doch morgen, wenn ich mich wieder weigere, sein Begehren zu erfüllen, mich ganz sicher schänden und ums Leben bringen. So habe ich denn alle Hoffnung auf Rettung fahren lassen; aber du, weshalb bist du hierher gekommen, um zu verderben? Flieh, ohne Zögern und Zaudern! Denn er ist ausgegangen, um Wanderer zu suchen, und er wird recht bald zurückkommen. Überdies, er kann weit und breit sehen und alle erkennen, die diese Steppe durchziehen.'



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Kaum hatte die Maid diese Worte gesprochen, als der Neger schon in Sicht kam; er war ein Teufel der Wildnis, ein riesiger Recke, gruselig von Gesicht und Gestalt, und er ritt auf einem starken tatarischen Rosse und schwang im Reiten eine schwere Klinge, die niemand führen konnte außer ihm. Als Chudadâd dies Ungetüm erblickte, ward er ganz bestürzt, und er betete zum Himmel, daß er jenen Teufel besiegen möchte; dann aber zog er sein Schwert und erwartete das Nahen des Negers mutig und standhaft. Der Mohr freilich dachte, als er näher kam, der Prinz sei zu winzig und zu schwach, um mit ihm zu kämpfen, und er beschloß, ihn lebendig zu fangen. Wie Chudadâd bemerkte, daß sein Feind nicht streiten wollte, versetzte er ihm mit seinem Schwert einen so gewaltigen Hieb, daß der Neger vor Wut schäumte und einen so lauten Schrei ausstieß, daß die ganze Ebene von seinem Klageruf widerhallte. Dann erhob sich der Räuber wutentbrannt aufrecht in seinen Steigbügeln und holte mit seinem gewaltigen Schwert zu einem Streich gegen Chudadâd aus; und wenn der Prinz nicht so geschickt ausgewichen und sein Renner nicht so gewandt gewesen wäre, so hätte der Schwarze ihn in zwei Teile gespalten wie eine Gurke. Obgleich das Schwert durch die Luft sauste, tat der Hieb doch keinen Schaden, und im Nu versetzte Chaudadâd ihm einen zweiten Streich und schlug ihm die rechte Hand ab, so daß sie mit dem Schwerte, das sie hielt, auf den Boden fiel; der Mohr aber verlor das Gleichgewicht und stürzte aus dem Sattel, daß die Erde von dem Anprall erdröhnte. Da sprang der Prinz von seinem Rosse, trennte rasch den Kopf des Feindes von seinem Rumpfe und warf ihn beiseite. Nun hatte die Maid durch das Gitterfenster hinabgeschaut und dabei inbrünstig für den tapferen Jüngling gebetet; wie sie aber den Neger erschlagen und



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den Prinzen siegreich sah, ward sie von Freude überwältigt und rief ihrem Befreier zu: ,O mein Gebieter, Preis sei Allah dem Erhabenen, der diesen Teufel durch deine Hand geschlagen und vernichtet hat! Komm jetzt zu mir in das Schloß, dessen Schlüssel der Neger bei sich trägt; nimm sie ihm ab und öffne die Tür und befreie mich!' Chudadâd fand ein großes Schlüsselbund unter dem Gürtel des Erschlagenen; so öffnete er denn die Tore der Feste und kam in einen großen Saal, in dem die Maid sich befand. Kaum hatte sie ihn erblickt, so eilte sie auf ihn zu und wollte sich ihm zu Füßen werfen und sie küssen; allein Chudadâd hinderte sie daran. Sie pries ihn, so hoch sie vermochte, und rühmte ihn ob seiner Tapferkeit mehr als alle Helden der Welt; und er bot ihr den Gruß, und als er sie aus der Nähe sah, deuchte es ihn, daß sie mit noch mehr Anmut und Liebreiz begabt wäre, als es aus der Ferne geschienen hatte. Darüber war der Prinz hoch erfreut, und beide setzten sich nieder zu heiterem Geplauder. Plötzlich aber hörte Chudadâd Schreie und Rufe, Weinen und Wimmern, Seufzen und Ächzen und Klagen, die immer lauter erschollen; da fragte er die Maid, indem er sprach: ,Von wo kommen diese Schreie? Wer klagt dort so jämmerlich?' Sie deutete auf eine kleine Pforte in einem verborgenen Winkel des Hofes drunten und antwortete: ,Mein Gebieter, diese Laute kommen von dort. Viele Unglückliche sind, vom Schicksal getrieben, dem schwarzen Dämon in die Klauen gefallen und sind in Zellen fest eingeschlossen; jeden Tag pflegt er einen der Gefangenen zu rösten und zu fressen.' ,Es wäre mir eine hohe Freude,' erwiderte Chudadâd, ,wenn ich das Mittel zu ihrer Befreiung würde; komm, meine Herrin, zeige mir, wo sie eingesperrt sind!' Darauf gingen die beiden zu jener Stätte, und der Prinz versuchte sogleich einen Schlüssel an dem Kerkerschloß, doch



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er paßte nicht; dann versuchte er einen zweiten, und mit diesem konnten sie die Pforte öffnen. Während sie dies taten, wurde das Jammern und Wimmern der Gefangenen immer lauter und lauter, so daß Chudadâd, von ihrer Ungeduld ergriffen und betroffen, nach der Ursache fragte. Die Maid gab zur Antwort: ,Mein Gebieter. sie haben unsere Schritte und das Rasseln des Schlüssels im Schloß gehört und glauben nun, der Menschenfresser sei nach seiner Gewohnheit gekommen, um ihnen Speise zu bringen und sich einen von ihnen zum Nachtmahl zu holen. Jeder fürchtet, er sei an der Reihe, gebraten zu werden, und deshalb sind alle in der größten Angst und schreien und rufen um so lauter.' Die Laute aus jenem versteckten Raum schienen aus der Erde zu kommen, gleichwie aus den Tiefen eines Brunnens. Und als der Prinz die Kerkertür öffnete, sah er eine steile Treppe; die stieg er hinab, und dann fand er sich in einer tiefen, engen und dunklen Grube. In ihr waren mehr als hundert Menschen mit zusammengebundenen Ellenbogen und gefesselten Füßen eingepfercht, und Licht sah er nur durch ein kleines, rundes Fenster. Er rief ihnen zu: ,Ihr Unglücklichen, fürchtet euch nicht mehr! Ich habe den Neger getötet; preiset drum Allah den Erhabenen, der euch von eurem Peiniger befreit hat; ich bin gekommen, um euch die Fesseln abzunehmen und euch die Freiheit wiederzugeben!' Als die Gefangenen diese frohe Botschaft vernahmen, kam ein Rausch der Verzückung über sie, und sie erhoben allesamt ein Geschrei der Freude und des Jubels. Dann begannen Chudadâd und die Maid, ihnen die Arme und die Füße von den Fesseln zu befreien; und ein jeder half, sobald er von der Haft befreit war, seine Mitgefangenen zu erlösen; kurz, nach einer kleinen Weile waren alle aus Banden und Kerker befreit. Darauf küßten sie alle, einer nach



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dem andern, Chudadâds Füße, dankten ihm und beteten für sein Wohlergehen; als aber jene befreiten Gefangenen den Hof betraten, wo hell die Sonne schien, erkannte Chudadâd unter ihnen seine Brüder, die er auf so langer Wanderschaft gesucht hatte. Er staunte über die Maßen und rief: ,Preis sei dem Herrn, daß ich euch alle unverletzt und unversehrt wiedergefunden habe; euer Vater ist über euer Ausbleiben schwer betrübt und bekümmert, und der Himmel verhüte, daß dieser Teufel einen von euch verschlungen hätte!' Dann zählte er ihre Zahl, neunundvierzig, und er trennte sie von den andern; und alle fielen einander um den Hals in übermäßiger Freude und ließen nicht ab, ihren Retter zu umarmen. Darauf ließ der Prinz ein Festmahl herrichten für alle die Gefangenen, die er befreit hatte; und als sie sich an Speise und Trank gesättigt hatten, gab er ihnen alles zurück, was der Neger den Karawanen abgenommen hatte, das Gold und das Silber, die türkischen Teppiche und chinesischen Seidenstoffe, die Brokate und zahllosen anderen Dinge von hohem Wert; ferner auch ihr eigen Hab und Gut, indem er sie anwies, ein jeder solle sein Eigentum fordern. Was dann noch übrig blieb, das verteilte er unter sie zu gleichen Teilen. ,Doch wie könnt ihr', fragte er sie, ,alle diese Lasten in eure Heimat schaffen? Wo könnt ihr Lasttiere finden in dieser öden Wildnis?' Sie erwiderten: ,Unser Gebieter, der Neger raubte uns auch unsere Kamele mitsamt ihren Lasten, und die sind sicher in den Ställen des Schlosses.' Alsbald begab Chudadâd sich mit ihnen zu den Ställen, und dort fand er, gefesselt und gebunden, nicht nur die Kamele, sondern auch die neunundvierzig Rosse seiner Brüder, der Prinzen, und so gab er denn einem jeden sein Tier. Ferner waren in den Ställen Hunderte von Negersklaven; und als die jene Gefangenen befreit sahen, wußten sie, daß ihr Herr,



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der Menschenfresser, getötet war; und deshalb flohen sie voll Entsetzen in den Wald, doch niemand dachte daran, sie zu verfolgen. Nun luden die Kaufleute ihre Waren auf die Rücken der Kamele und zogen fort in ihre Heimat, nachdem sie dem Prinzen Lebewohl gesagt hatten. Chudadâd aber sprach zu der Maid: ,O du, so herrlich schön und keusch, woher kamst du, als der Neger dich raubte, und wohin willst du jetzt dich begeben? Sage es mir, auf daß ich dich wieder in deine Heimat bringe; vielleicht kennen diese Prinzen, meine Brüder, die Söhne des Sultans von Harrân, die Stätte, da du wohnst. und sie werden dich sicherlich dorthin geleiten.' Da blickte die Maid auf Chudadâd und antwortete: ,Ich wohne weit von hier, und mein Land, das Land Ägypten, ist zu weit, um dorthin zu reisen. Doch du, o tapferer Prinz, hast meine Ehre und mein Leben vor dem Neger gerettet, und du hast mir einen so großen Dienst erwiesen, daß es mir übel anstände, dir meine Geschichte zu verheimlichen. Ich bin die Tochter eines mächtigen Königs, der in Oberägypten herrschte; doch als ein tückischer Feind ihn gefangen nahm und ihn des Lebens und seines Reiches beraubte, indem er den Thron und die Herrschaft an sich riß, da floh ich, um mein Leben und meine Ehre zu retten.' Darauf baten Chudadâd und seine Brüder die Maid, alles zu erzählen, was ihr widerfahren sei, und sie beruhigten sie, indem sie sprachen: ,Hinfort sollst du in Freude und Überfluß leben. Mühe und Not sollen dir nie mehr nahen!' Als sie nun sah, daß ihr nichts anderes möglich war, als ihre Geschichte zu erzählen, begann sie mit folgenden Worten


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