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Die deutschen Volks-Bücher

wiedererzählt von Gustav Schwab II


Die schöne Melusina

Mit Bildern von Adolf Ehrhardt



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Zu Poitiers in Frankreich war ein Graf, namens Emmerich, ein gelehrter Herr, und besonders in der Wissenschaft des Himmelslaufes und zukünftiger Dinge vielerfahren. Derselbe war auch gar reich an Gütern und pflog großer Ergötzlichkeit mit Jagen. Er hatte nur einen Sohn und eine einzige Tochter, die er beide inniglich liebte. Der Sohn hieß Bertram, die Tochter Blaniferte. Die letztere war eine sehr schöne und züchtige Jungfrau und in allem mit Tugend wohlgeziert. Nun gab es in dieser Landschaft überaus große Wälder, und namentlich fand sich in der Gegend, wo Graf Emmerich lebte, ein Holz, welches der Kürbisforst hieß. In diesem lebte zu der nämlichen Zeit ein berühmter Graf von gutem Geschlechte, aber arm an Habe und mit vielen Kindern gesegnet. Doch ersetzte er solchen Abgang an zeitlichen Gütern durch viele andre seinem Stande wohlgeziemende Tugend; denn er war ein weiser, verständiger Herr von gar redlichem Gemüte, der mit seinem jährlichen Auskommen bescheiden und ohne Pracht haushielt und mit guter Zucht seiner Kinder pflegte, weswegen er denn auch von jedermann geehrt und wertgehalten wurde. Dieser Graf war auch aus dem Geschlechte derer von Poitiers, führte in seinem Wappen gleichen Schild und Helm wie jener und war mithin dessen leiblicher Vetter.



***
Der Graf Emmerich von Poitiers nun erwog bei sich, daß sein Vetter, der Graf von dem Forste, sehr arm und mit vielen Kindern beladen sei; er dachte deswegen darauf, ihn teilweise zu erleichtern und ihm unter die Arme zu greifen, damit er seine zeitliche Nahrung besser haben und seine Kinder dereinst standesmäßiger aussteuern könnte. Es fügte sich darauf, daß der reiche Graf von Poitiers in seiner Residenz einst ein großes Bankett zurichtete und seinen Vetter, den armen Grafen von dem Forst, dazu berufen ließ. Dieser fand sich zu der Festlichkeit mitsamt seinen drei Söhnen , welches junge wohlgezogene Herren waren, mit aller Höflichkeit ein. Hier wurde ihnen alle nur ersinnliche Ehre und Freundlichkeit erwiesen; da erhub sich in dem Herzen des Grafen Emmerich eine solche Flamme der Liebe und Zuneigung gegen diese drei Jünglinge, am allermeisten aber



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gegen den Jüngsten, welcher Raimund hieß, daß er sich nicht länger mehr bergen konnte, sondern dieses Gefühl seinem Vetter, dem Grafen von dem Forst, eröffnete mit der herzfreundlichen Anrede: "Lieber Vetter, ich sehe wohl, daß Ihr mit Kindern sehr überhäuft seid. Darum ist mein Wunsch, Ihr wollet geruhen, mir einen Eurer Söhne an Kindes Statt zu überlassen, welcher zu allem Guten erzogen und wohlversorgt werden soll." Der redliche alte Herr stellte ihm auf ein so geneigtes Anerbieten frei, welchen von den dreien er sich auswählen wollte. Also erbat sich Graf Emmerich den Jüngsten, Raimund, der ihm am allerbesten gefiel. Dafür bedankte sich der Graf vom Forste aus ganzem Gemüt und übergab ihm den schönen, jungen, wohlgestalteten Herrn, seinen jüngsten Sohn, mit höchstem Vergnügen.


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Nachdem das herrliche Bankett geendet war, welches drei Tage lang gewährt hatte, nahm der alte Graf wieder Abschied von seinem Vetter; willens, sich wieder nach Hause zu begeben, seinen jüngsten Sohn Raimund also zurücklassend, wiewohl es nicht ohne nasse Augen und heimliche Betrübnis bei dem alten Vater ablief. Das junge Herrlein aber hätte sich keine bessere Aufnahme wünschen können; auch erwies er sich in seinem Dienste vor allen andern angenehm und wußte sich höchst beliebt zu machen; daher wurde er nicht nur von seinem Vetter als ein Freund recht innig geliebt, sondern dieser befahl auch allen Haus- und Hofgenossen, ihn aufs achtsamste zu behandeln, damit ihm ja von niemand Leid zugefügt würde.


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Als nun einmal Graf Emmerich seiner Gewohnheit nach auf der Jagd war und die Seinigen einem wilden Schweine nachjagten, da ritt auch Raimund demselben nach; das Schwein aber eilte, sich vor den Hunden zu retten, und zog so den ganzen Schwarm der Jäger nach sich. Auch Raimund war darunter, da er seinen Herrn nicht verlassen wollte, zumal es später Abend und verführerisches Mondlicht war. Solange das Schwein verfolgt wurde, hielt er aufs getreueste aus. Dieses hatte inzwischen viel Hunde teils getötet, teils verwundet; und nach und nach hatten sich alle Diener von dem Grafen verloren, so daß keiner von ihnen wußte, wo derselbe hingekommen wäre, außer Raimund, der bei ihm war. Als nun dieser solches bemerkte und sich beide in der äußersten Verlassenheit fanden, begann Raimund endlich, seinen Herrn Vetter wohlmeinend also anzureden: "Gnädiger Vetter, wir sind von allem unsrem Volke abgekommen, haben Hunde und Jäger verloren; es will sich wegen eingebrochener



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Nacht nicht wohl tun lassen, so weit zurückzureiten; auch können wir unser Gefolge nicht wohl wiederfinden. Darum rate ich, daß wir in dem nächsten Bauernhof einkehren, wo wir diese Nacht Herberge haben können." Der Graf antwortete ihm: "Du redest recht und rätst sehr wohl, getreuer Raimund; denn die Sterne stehen bereits am Himmel, und der Mond scheint gar helle!" Also fingen sie an, quer durch das Holz zu reiten, und fanden zuletzt nach vieler Mühe einen schönen Weg, von welchem dem Raimund deuchte, daß er sie nach Poitiers leiten werde. Der Graf, welcher hoffte, einige seines Volkes wiederzutreffen, sprach: "Laß uns eilen, unser Poitiers wird uns auch noch bei später Nachtzeit unversperrt aufnehmen!" So ritten sie den Weg, Graf Emmerich voran, Raimund als sein Diener hinter ihm drein.


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Indem nun diese beiden also dahinritten, fügte sich's, daß der Graf, dem als einem guten Himmelskundigen der Lauf der Gestirne ziemlich bekannt war, unter den andern Sternen einen ganz fremden Stern gewahr wurde. Darüber seufzte er aus Herzensgrund und brach in folgende, tief heraufgeholte Worte aus: "Ach, Gott, wie sind doch deine Wunder so mannigfaltig, wie kann die Natur ein so widerwärtig Spiel mit sich selbst treiben, daß sie einen Menschen entstehen läßt; der durch Übeltun zu so großen zeitlichen Ehren erhöht werden soll, während es doch sonst unziemlich ist, wenn sich jemand um der Missetat willen hoch ehren lassen will." In solcher Verwunderung über den seltsamen Himmelsaspekt sagte er zu Raimund abermal tief seufzend: "Komm herzu, Sohn, ich will dir groß Wunder und eine bedenkliche Vorbedeutung am Himmel zeigen, dergleichen nicht leicht gesehen wird!" Raimund, als ein lernbegieriger Jüngling, fragte, was denn das wäre. "Siehe", sagte Graf Emmerich, "ich sehe am Himmel, daß in dieser Stunde einer seinen Herrn töten und ein gewaltiger Herr werden wird, mächtiger, als je einer seines Geschlechts gewesen ist!"


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Raimund schwieg still und redete kein Wort; indessen fand er ein Feuer, das hatten die Herren, die im Gefolge des Grafen gewesen, im Holze gelassen; deswegen stieg er vom Pferde und klaubte kleines Holz zusammen, womit er das Feuer unterhielt; denn es war kalt. Der Graf, sein Vetter, stieg auch ab und wärmte sich, aber es war ihm zum Tode. Denn in diesem Augenblick hörten sie durchs Holz etwas daherbrechen: Raimund griff schnell zu seinem Schwerte, desgleichen der Graf zu seinem Spieße. Kaum



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hatten sie sich zur Wehr gefaßt gemacht, da kam ein großes Schwein auf sie daher mit wildem Grunzen; das rückte knirschend und schnaubend in voller Wut immer näher auf sie zu. Raimund bat seinen Vetter inständig , daß er doch, um sein Leben zu retten, sich auf einen Baum flüchten und ihn allein mit dem Schweine kämpfen lassen möchte. Aber den Grafen , als einen entschlossenen Helden, verdroß solches, daß er so wider seine Gewohnheit vor einer Bestie fliehen und ihr furchtsam ausweichen sollte; er beschloß bei sich und schwur, standzuhalten und des Himmels Willen über sich ergehen lassen. Er sagte auch seinem Raimund, daß er ihn ferner mit solchen Zumutungen verschonen möchte; zugleich setzte er seinen Spieß an und ging dem Schwein entgegen, sich ihm widersetzen; er versetzte dem Tier auch wirklich einen Fang, aber das Schwein schlug den Stoß, der zu schwach war, mit einem Satze ab und warf seinen Feind ergrimmt zur Erde hin. Nun rückte geschwind auch Raimund mit seinem Spieße hervor, um der Bestie den Refi zu geben und seinen Vetter zu erretten; allein er fehlte zu allem Unglück, und im großen Eifer glitt ihm der Spieß an dem Schweine ab, und während er in Hitze nachdruckte, fuhr der Speer dem auf dem Boden liegenden Grafen tief in den Leib hinein . Raimund zog ihn zwar gleich wieder heraus, verfolgte das Schwein und fällete es auch: bis er aber zurückkehrte, fand er den Grafen schon in



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seinem Blute schwimmend und tot. Mit höchster Betrübnis floh er von dem Orte und machte sich auf weitere Flucht gefaßt.

So hatte Raimund ohne Vorsatz seinen allerbesten Freund, den Beförderer seines Glückes, ums Leben gebracht. Er wehklagte, rang die Hände, kehrte die Augen gen Himmel, welche nicht anders flossen als wie zwei Tränenquellen, ritt jedoch mittlerweile allgemach fort und führte mit sich selbst ein her leidiges Jammergespräch. Bald klagte er über die Mißgunst seines widrigen Geschickes, bald über den unseligen Stoß seines Speeres; bald verfluchte er die Stunde, darin er zu seinem Herrn gebracht worden, und bald hub er an, über seine unglückschwangere Geburtsstunde zu klagen. Solche Gedanken halfen ihm seine Betrübnis noch mehr vergrößern. "Du unbarmherziges Glück", seufzte er, "hast du denn alle Herzensplagen auf einmal über mich ausgeschüttet? Warum habe ich doch alle meine Hoffnung so ganz auf dich vielmehr als auf den gütigen Himmel selbst gesetzt? Du Betrügerin aller Menschen, du reichest für ein Quentchen Wohlfahrt und ergötzlicher Freude, damit du uns alberne Jünglinge köderst, einen ganzen Zentner Herzeleid hernach; du lässest uns nach dem Schatten der Reichtümer und der eiteln Wollust schnappen und hernach das Wesen unsers Wohlstandes selbst verlieren! Nun hast du mich zu einem armen Bettler gemacht, der gedachte, ein begüterter, reicher Herr zu werden! Dem, der mir sein Herz gegeben, habe ich sein Leben und mir selbst alle Hoffnung und zugleich die Freudigkeit meines Gewissens genommen. Ach Vetter, lieber Vetter! Warum hast du so oft die Hände deines Mörders geküßt? Warum durfte ich nicht vor dir sterbens Nun wird mich die Rache und der Argwohn aller Leute verfolgen! Alle Bäume im Walde werden mich anfeinden und ihre Aste von mir abkehren, die Luft wird mich nicht mehr anhauchen, die Sonne ihr fröhliches Licht mir mißgönnen , und nimmer werde ich solche Tat an meinem Wohltäter dem gerechten Himmel abbitten können."



***
Mit solchen und vielen andern Klagen ließ er sein Pferd gehen, wohin es selbst wollte und ihn das Verhängnis führen würde. So kam er zu einem Brunnen, der Durstbrunnen genannt. Bei diesem standen drei Jungfrauen von überaus schöner Gestalt, die er vor Leid und Jammer ganz übersehen hatte. Von diesen trat die schönste und jüngste zu ihm an den Weg hervor und sprach: "Mein Freund, Ihr seid ziemlich unbescheiden für einen Ritter, daß Ihr den Frauen keine Höflichkeit zu erzeigen wisset, sondern ohne Gruß und Anrede vorbeireitet!" Raimund antwortete



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hierauf gar nicht und trieb seine Klage fort wie vorher, bis die Jungfrau endlich das Pferd beim Zügel ergriff und zu ihm sprach: "Fürwahr , Ihr wisset nicht; was Euer Stand erfordert; wenn Ihr, so stillschweigend vorüberzueilen, gedenket."

Da nun Raimund die wunderschönen Nymphen mehr ins Auge faßte, erschrak er und wußte nicht, ob er lebendig oder tot sei, oder ob ein Gespenst mit ihm rede. Indem nun die Nymphe Melusina — denn so hieß die Jüngste von ihnen, die sein Pferd hielt —bemerkte, daß er wie von einem tödlichen Gesicht überrascht und aus Schrecken ganz verfärbt und gar erblaßt war, fing sie an, ihn noch mehr zu versuchen, und beschuldigte ihn noch heftiger großer Unfreundlichkeit, weil er nicht mit ihr redete. Dem Raimund aber, obwohl er noch voll betrübter Gedanken war, fiel die unvergleichliche Schönheit der Nymphe immer mehr und mehr ins Angesicht; und die Augen begannen ihm bereits recht aufzugehen. Er sprang daher schnell vom Pferde zur Erde und sprach: "Ach, erhabene Göttin, ich bitte in tiefster Demut, daß Eure Wohlgewogenheit mir meinen Fehler vergessen und Eure holden Blicke deswegen nicht entziehen wolle. Ich bin ohnedem in solcher Betrübnis wie in einem Labyrinthe verfangen, daß ich nicht weiß, wie ich mich aus demselben herauswinden soll. Deswegen war ich mit sehenden Augen blind, dazu von solcher Schönheit entzückt und entgeistet und zugleich von meinem innerlichen Unmute ganz betäubt. Damit ich aber auch wegen meiner Unhöflichkeit Buße tun und die schuldige Strafe dafür erleiden möge, so befehlet Eurem Diener, Allerschönste, was er zu vollbringen hat, daß er Ihrer holden Blicke wiedergenieße!" — "Nicht also, mein Raimund", hub die holdselige Nymphe an, "stehet zuvor von der Erde auf: ein so edler Ritter hat nicht Ursache, so gebogen auf derselben zu liegen! Die Reue über einen so kleinen Fehler und die Ursache desselben ist schon Strafe genug! Wir sind Euch alle insgesamt gewogen, tapferer Gallier!" Raimund, solches hörend und, daß sie seinen Namen nannte, erstaunte noch mehr; denn er wußte nicht, wie dieses zuging. "Göttergleiche Jungfrau", sprach er",nun merke ich recht, daß Ihr von dem gütigen Himmel abgeschickt seid, mich aus meiner Unruhe zu erlösen und aufs neue zu erquicken. Denn kein Mensch ist in der Gegend, der meinen Namen weiß, und auch der Eurige ist mir unbekannt; auch halte ich Euch viel mehr für ein Engelsbild in menschlicher Gestalt als für einen natürlichen Menschen. Könnt Ihr deswegen , schöner Engel, dieses Gemüt mit einigem Trost erfrischen, so wie ich von Eurer Lieblichkeit schon einige Erquickung spüre, oh, so fahret fart,



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meine halberstorbenen Kräfte durch solche Anmut neu zu beseelen und Euren Diener glückselig zu machen."

"Stillet Euren Kummer, betrübter Raimund!" — fing die liebliche Nymphe wieder an —"lasset Euer liebes Herz solchen Unfall nicht allzusehr kränken: ich kenne Eure Not und Klage; wollet Ihr aber meiner Lehre folgen, so will ich dafür sorgen, daß Eure Wohlfahrt wieder neu grüne und Ihr an Gut, Ehre und Glück nimmermehr Mangel leidet! Lieber Raimund, alles, was Euch Euer Vetter aus dem Stand der Sterne geweissaget hat, das muß durch die Gnade des Himmels an Euch vollbracht werden, der alle Dinge leitet." Als nun Raimund hörte, daß sie von der Gnade Gottes sprach, gewann er allgemach wieder neuen Trost in seinem bekümmerten Hergen, daß die Nymphe doch kein Gespenst und keine ungläubige Heidin war, sondern von christlichem Stamme sein mußte. Er sprach demnach zu ihr: "Schönste Gebieterin! Ich werde mit aufmerksamem Ohr und gehorsamem Herzen Euren getreuen Beirat anhören, und mein ganzes Gemüt soll Eurem Willen demütig unterworfen sein: nur lasset mich zuvor Eure Neigung und Euer Wohlwollen verspüren dadurch, daß Ihr mir eröffnet, woher Ihr meinen Namen und das unselige Ereignis kennet, damit ich, aus allem Zweifel gehoben, die mildselige Schickung des Himmels um so mehr zu erkennen und zu loben, Ursache habe, da sich derselbe zu meinem Troste eines so wunderbaren Werkzeuges bedienen wollte."

Hierauf begegnete die Nymphe ihm aufs neue mit tröstlichem Zuspruch: "Zweifle nicht, lieber Raimund", sprach sie, "daß ich dein Glück und deine Ehre erneuern werde; frage nicht mehr so inständig nach meinem Wissen, und woher mir dein Name bekannt sei, sondern glaube vielmehr, daß der Himmel es also füget. Sieh mich demnach für kein verstelltes Engelsbild, sondern vielmehr für eine gute Christin an; was ich bin, bin ich durch die Gnade des Himmels; ich glaube alles, was einem Christen zu glauben zusteht: daß ein Wunderkind von einer keuschen Jungfrau geboren worden und der Sohn Gottes genannt wird, daß er in der Zeitlichkeit für alle Menschen gelitten, als Gott und Mensch wahrhaftig auferstanden und wieder gen Himmel gefahren sei. Dies alles weiß und glaube ich. So verbanne denn allen Kleinmut und alle Traurigkeit aus deiner geängsteten Brust und gib nicht zu, daß ferner ein Zweifel dein Gemüt besitze. Betrachte das Glück, das bereits vor deinen Augen schwebt!"

Durch solchen Zuspruch fingen die muntern Lebensgeister dem guten Raimund wieder aufzusteigen an, und der lebhafte Purpur seines Gesichtes



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schimmerte aufs neue durch seine Wangen. "Schönste, liebenswürdigste Nymphe", sprach er laut, "alle meine Kräfte, all mein Wollen soll nach Euren Befehlen wie der Schatten nach der Sonne gerichtet sein. Ich vergehe fast vor Verlangen, den Inhalt meines Glückes von Euren klugen Lippen anzuhören. Wenn Ihr mir denselben nicht bald eröffnet, so sterbe ich!" "Wohl denn, begieriger Raimund, so höret", sprach sie, "was Euch zu leisten obliegt; wenn Ihr Eures Glückes teilhaftig werden wollt. Ich verlange ernstlich, daß Ihr mir beim Himmel schwöret und bei dem Heiligsten, das er enthält, daß Ihr mich zu Eurer ehelichen Gemahlin erkieset An jedem Sonnabend sollt Ihr mich in Ruhe lassen und nichts von mir zu fragen begehren, mir auch an selbigem Tage nichts befehlen; ja, ganz und gar nicht mit mir reden, mich nicht sehen, auch nicht durch jemand anders sehen lassen, sondern mich gänzlich in Ruhe lassen, so daß ich den ganzen Sonnabend frei und unbekümmert bleiben mag. Dagegen gelobe ich Euch hinwider, daß ich die ganze Zeit meines Lebens, besonders aber am gedachten Tage nirgends hingehen will, wo es Euch nicht lieb



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und angenehm wäre, sondern mich an demselben in meinem Frauengemache ganz stille, züchtig und verschlossen halten werde."

Alles das gelobte und schwur sofort Raimund, ihr getreu und unverbrüchlich zu halten. Der Nymphe kam inzwischen sein leichtsinniges Erbieten und sein schneller Eid noch ziemlich verdächtig vor; denn sie glaubte, er verspreche mehr, als er halten würde; doch gab sie ihm dies nur ganz gelinde zu verstehen: "Ihr leistet zwar", sprach sie, "meinem Willen vergnüglichen Gehorsam, wiewohl Ihr noch nicht alles vernommen. Gleichwohl sehe ich aus Euren Mienen, daß Ihr mehr gelobet, als Ihr zu halten gedenket; sollte es aber je geschehen, daß Ihr mir untreu würdet, davor Euch der Himmel behüte, so wisset, daß Ihr selbst der einzige Urheber wäret, der einzige Schlüssel, welcher die Türe zu seinem Unglück eröffnet; denn nicht nur würdet Ihr mich unfehlbar von Stund an verlieren und nimmermehr zu Gesichte bekommen, sondern auch Euch und Euren Erben schaden und Unglück bis auf Kindeskinder zuziehen."

Als Raimund solches vernahm, schwur er ihr vermessentlich noch einmal und wollte nicht für den angesehen sein, den sie in ihm argwöhnte. "Wohlan", versetzte die Nymphe, "ich nehme die gute Meinung an, die Ihr mir von Euch machen wollt. Reiset hin, mein Geliebter, nach Poitiers, der Himmel begleite Euch mit seinem Schutze! Wenn Euch aber jemand fragt, wo Euer Vetter, der Graf, hingekommen, so antwortet nicht anders, als daß Ihr ihn im Wald verloren und er vielleicht irregeritten sei, wie denn auch seine andern Diener sagen und Euch beistimmen werden. Dann werden sie ihn eiligst suchen und endlich auch finden und mit großer Klage nach Poitiers bringen; der Himmel weiß, mit welcher Betrübnis ihn die Gräfin, seine Gemahlin, mit ihren Kindern samt allen Untertanen beweinen wird. Diese alle sollt Ihr dann trösten und ihren Kummer mildern helfen, dann wird ihre Neigung und ihr Dank wie ein reicher Strom auf Euch wallen, und jedes wird Euch anstatt des toten Grafen Emmerich zu seinem Herrn wünschen. Nach seiner Beerdigung werden sich seine Verwandten und die Edeln des Landes einfinden, um von seinem Sohne als ihrem jetzigen Herrn die Lehen zu empfangen. Dann sollt Ihr Euch auch in Demut melden und bitten, daß er Euch für Eure treu geleisteten Dienste ein Stück Landes bei dem Durstbrunnen schenken wolle, wäre es auch nur soviel Land und Wald, als Ihr mit einer Hirschhaut umschließen könnet. Diese ehrerbietige Bitte wird des Grafen Herz dermaßen bewegen, daß er sie Euch gewähren wird." Dann sagte die Listige weiter voll Freuden: "Eilet, mein teuerster Raimund, und säumet nicht, Brief und Siegel



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darüber zu bekommen, welche von des Grafen Hand unterzeichnet sein müssen, und trachtet ja, daß selbige schleunig ausgefertigt werden, des Inhalts, was die Gabe sei, wann und warum sie Euch verliehen sei, samt dem Jahr und Tage, an dem das alles geschehen und vollzogen ward. Nach allem dem wird Euch ein Mann begegnen, der eine Hirschhaut zu Hause trägt. Diesem handelt sie ab ohne vieles Wortemachen, lasset sie zerschneiden zu einem schmalen Niemen, so dünn er nur sein mag, jedoch an einem Stücke, bis die ganze Haut aufgebraucht ist. Alsdann gehet hin und lasset Euch das Versprechen vollziehen und fanget von dem Brunnen an. Solches wird Euch eine ganze Tagreise Landes im Umkreise bis wieder an die Stelle verschaffen, von welcher Ihr ausgegangen seid, und niemand wird Euch dies streitig machen können."

So entließ die schlaue Nymphe ihren Liebling mit listigem Rat und hieß ihn in des Himmels Geleite gehen.



***
Raimund hatte nun mit tausend Küssen von seiner liebsten Melusina zärtlichen Abschied genommen. Er ritt Poitiers zu und gedachte auszuführen, was sie ihm zu tun geraten hatte. Auch handelte er ganz nach ihrem Sinne und kam am frühen Morgen in der Stadt an. Während er hereinging fragte ein Mann: "Wie kommt es, Raimund, daß Ihr so ohne Euren Herrn erscheinet?" Raimund antwortete: "Ich habe ihn wahrhaftig seit verwichenen Abend nicht gesehen; denn er entritt mir im Wald dem Gejage nach, so daß ich ihn nicht ereilen konnte. Ich habe ihn dann verloren und bin später seiner nicht mehr ansichtig geworden." Bei dieser Verantwortung ließen sie es bleiben, und niemand war da, der an ein Unglück dachte oder etwas Widriges geargwohnt hätte. Raimund aber wußte nach der klugen Art, die ihm seine Geliebte angeraten hatte, alles auf das beste zu verbergen; nur seufzete er zuweilen bei sich, durfte es jedoch nicht merken lassen.

Inzwischen kamen alle Diener des Grafen von dem Jagen einer um den andern nach Hause geritten bis auf zwei, welche noch aus waren. Ihrer keiner aber wußte zu sagen, an welchem Orte ihr Herr sich von ihnen verloren, und wo sie ihn am vorigen Abend zuletzt gesehen hätten. Dies verursachte bei Hof ein großes Klagen, besonders bei der Gräfin und ihren Kindern. Als sie nun im uutesten Jammer begriffen waren, da kamen auch die zwei letzten Diener aus dem Gefolge herbeigeeilt und brachten ihren Herrn, den Grafen, tot mit sich, was sehr kläglich anzuschauen war und das Weinen aller Anwesenden noch vermehrte. ?luch



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dem unwuldigen Täter Raimund wurden die Augen gang naß, und das Herz klopfte ihm heimlich mit schnellen Schlägen. Die Diener erzählten, wie sie den Grafen in seinem Blute ganz blaß und entseelt bei dem wilden Schwein auf der Erde liegend gefunden; da sah man im ganzen Schlosse nichts als verzweifeltes Händeringen, besonders von seiten der vaterlosen Kinder und der Witwe. Ihre Augen ergossen gange Ströme von Tränenbächen, und ihre Gestalten sahen Leichen nicht unähnlich. Dennoch eilte man, damit der endlosen Klage in etwas gesteuert würde und der Leichnam ihnen aus dem Gesichte käme, gleich des folgenden Tages zum Begräbnis, das unter großer Trauer, jedoch in schönster Ordnung angestellt ward. Raimund, welcher nicht der am wenigsten Betrübte war und auf das heftigste mitklagte, wurde wegen seiner treu geleisteten Dienste von allen Anwesenden höchlich gelobt; besonders daß er nach seines Herrn Tode ihm noch die letzte Ehre mit vielen Tränen erweisen wollte. Dies alles aber hatte er niemand anders zu danken als seiner geliebten Melusina, die er bei dem Durstbrunnen angetroffen.

Als Graf Emmerich auf diese Weise bestattet war, fanden sich die Edeln des Landes alle bei seinem Sohne, Grafen Bertram, ein und empfingen von ihm ihre Lehen, wie dies bei einem neuen Herrn zu geschehen pflegt. Da trat auch Raimund hervor und brachte seine Bitte vor, wie er von Melusina unterrichtet war. Der Graf aber ließ sich diese demütige Bitte von Raimund wohlgefallen und versprach ihm auf der Stelle, solches zu gewähren; auch alle Räte desselben gaben einmütig ihre Zustimmung. Nach dieser allseitigen Einwilligung bat Raimund um die Ausfertigung eines versiegelten Lehensbriefes, von des Grafen Hand unterzeichnet der ihm sofort ohne Widerspruch gewährt und eingehändigt wurde.

Kaum hatte Raimund den gesiegelten und unterschriebenen Brief empfangen, so fügte sich zu seinem Glücke die erwünschte Gelegenheit, daß ein Mann eine schöne gegerbte Hirschhaut feiltrug, die er denn unverzüglich ankaufte und in ganz schmale und dünne Riemen zerschneiden ließ, soviel man immer daraus machen konnte. Nachdem auch dieses geschehen war, meldete er sich abermals bei dem Grafen und stellte die fernere geduldige Bitte, daß man ihm dasjenige Stücklein Lands, das er um die Gegend des Durstbrunnens auserlesen würde, als Lehen übergeben wollte. Der Graf bestellte sofort einige Amtleute und Räte, die mit Raimund nach dem Brunnen ritten. Da fanden sie, daß Raimund eine Hirschhaut zu den allerschmalsten Riemen zerschnitten hatte, und verwunderten sich



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höchlich über die List. Sie wußten nicht, was sie in diesem Falle zu tun hätten; denn sie dachten wohl, daß die lederne Schnur ein gut Teil Feld, Wald und Felsen umspannen würde, wie dies auch in der Tat sich zeigte. Auch erschienen von Stund an zwei hierzu bestellte unbekannte Männer; welche die zerschnittene Hirschhaut nahmen und sie beim Anfang des Riemens an einen Pfahl banden. Sie umspannten so ein großes Stück Landes von dem Durstbrunnen an bis wieder zu demselben, und in diesem großen Umkreise fand sich eingeschlossen, was man nur wünschen mochte; insonderheit floß ein schönes, reichliches Wasser durch das umfangene Land. Die Amtleute selbst konnten dem Raimund über die Klugheit seines Anschlages, von dem sie nicht wußten, woher er ihm kam, ihr Lob nicht versagen. Obgleich sie gestanden, daß sie es mit der Hirschhaut ganz anders gemeint hätten, ließen sie es doch, weil der Graf sein Wort einmal gegeben hatte, bei der Schenkung bewenden, kehrten um und ritten auf einen Ort zu, der die Kartause genannt war und nicht ferne von dem Brunnen lag. Von dannen reisten sie weiter und nach Poitiers zurück. Hier erzählten sie ihrem Herrn, dem jungen Grafen, alles, was sich begeben . Als dieser die seltsame Begebenheit vernommen, konnte er sich nicht genugsam verwundern; doch mußte er es auch geschehen lassen, zumal er sich einbildete, es müßte bei diesem Brunnen gespenstisch und geisterhaft zugehen, weil es dort der Abenteuer schon mehrere gegeben habe; woraus er schloß, daß auch dem Raimund dort etwas Wunderbares zugestoßen sei. Doch gönnte er ihm als seinem lieben Vetter und Freund, der sich auch um seinen Vater wohl verdient gemacht hatte, alles Gute mit dem Wunsch, daß es ihm dabei glücklich ergehen und kein ferneres Ubel daraus entstehen möchte. So treumeinend ist die heutige Welt nicht gesinnt.

Mittlerweile hatte sich auch Raimund selbst bei Hofe mit gar fröhlicher Miene eingestellt; er dankte seinem Vetter, dem Grafen, aufs höflichste für seine Gnade, wodurch die Verwunderung und Bestürzung aller Anwesenden nur noch vermehrt wurden, wenn sie bedachten, daß Graf Bertram so gütig und Raimund so kühn sein könnte. Raimund aber hatte seinem Herrn und Vetter mitten im höchsten Leidwesen anstatt einer ungnädigen Miene ein verwundertes Lachen abgewonnen, weil er sich mit seiner listigen Tat so wohl geholfen.

Jener, nachdem ihm sein Hofritt besser ausgeschlagen, als jemand geglaubt hätte, setzte sich nun wieder auf sein Roß und ritt mit frühem Morgen dem Durstbrunnen zu. Hier traf er seine liebe Verlobte, die unvergleichlich schöne Melusina, welche seiner Ankunft mit höchstem Verlangen



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gewartet Hatte und ihn auf das allerherzfreundlichste mit tausend holden Blicken und Grüßen bewillkommte. "Seid mir gegrüßt", rief sie, "mein Beherrscher, mein liebster Raimund! Ihr habt aufs weislichste vollzogen, was Euch zu tun oblag; dafür statte ich Euch als meinem einzigen Geliebten auf Erden den innigsten Dank ab. Folget mir nun und lasset uns dem gütigen Himmel für das gnädige Gedeihen unsers Vornehmens demütigsten Dank sagen!"Mit diesen Worten faßte sie ihn bei der Hand und führte ihn zu einer abgelegenen Waldkapelle. Als sie in diese eingetreten, erblickte Raimund einen Haufen des schönsten Volkes, Ritter und Bürgersleute , Frauen und Jungfrauen, Alte und Junge, auch Priester, die alle ihren Gottesdienst verrichteten. Er wußte nicht, ob er unter Menschen oder Geistern sich befinde; denn nachdem er sich lange umgesehen, hatte er auch nicht einen einzigen bekannten Menschen entdeckt, den er irgend anderswo gesehen hätte. So, in der höchsten Verwunderung, fragte er seine Geliebte und sprach: "Mein Kind, was für ein mir unbekanntes Volk ist dieses? Wes sind die Leute, die ich also geschmückt vor mir sehe?" — "Wundert Euch nicht, mein Geliebter", versetzte die Schöne, "es sind lauter Leute, denen Ihr zu gebieten habt, und die Euch künftig ihren Herrn heißen sollen, kurz, mein Volk und meine Untertanen sind es!" Und nun wandte sie sich zu dem Volk und gebot ihnen allen mit vernehmlicher Stimme, daß sie ihrem Geliebten Raimund hinfort gehorsam und untertan sein sollten als ihrem rechtmäßigen Herrn und Gebieter. Alle verneigten sich tief und gaben ihre Untertänigkeit sogleich zu erkennen; aller Augen waren ehrfurchtsvoll auf Raimund gerichtet, solange der Gottesdienst währte.

Da Raimund solches alles nicht ohne Staunen und Schrecken ansah, mußte er den seltenen Gehorsam heimlich, aber mit Zittern und Entsetzen, bewundern, schwieg jedoch ganz still und wußte nicht, was er hier denken oder sagen sollte. Melusina merkte, daß er in schweren Gedanken begriffen sei, und hub daher an, ihm mit leisem Zusprüche zu begegnen: "Lieber Raimund, entsetzet Euch nicht ob dem, was Euch so seltsam und fremd vorkommt. Es ist ganz kein Zweifel, daß Ihr mein eigentliches Wesen noch nicht vollständig erkennen vermöget; es wird Euch aber nicht eher möglich werden, als bis Ihr mich zum ehelichen Gemahl ordentlich angenommen habt. Ihr habt mir zwar, in allem getreu zu sein und in der Ehe mit mir zu leben, gelobt und geschworen; aber vollzogen ist unsere priesterliche Einsegnung noch nicht; ohne diese aber wird Euch die völlige Erkenntnis meiner Person immer fehlen."



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Raimund fühlte sich durch diese Worte Melusinens wieder etwas getröstet und sagte zu ihr: "Ich bin ja bereit, meine Schöne, jederzeit Euren Willen zu tun." — "Es ist wahr, mein Raimund", erwiderte sie, "und ich kann es nicht leugnen, daß Ihr mir alle Treue und Ehre erwiesen: aber nur noch dieses eine ist not; alsdann werdet Ihr aller Glückseligkeit vollkommen genießen. Ihr müsset eine förmliche Hochzeit anstellen, ansehnliche Gäste dazu einladen, die Trauung vollziehen lassen, das Mahl abhalten und jeden Anwesenden fröhlich machen. Alsdann wird es eine ganz andere Gestalt mit unsrer Liebe gewinnen; dies muß aber, wenn Ihr anders glückselig sein wollt, ehester acht Tage, und zwar mit dem frühen Morgen geschehen."

Raimund bewilligte Melusinen all ihr Begehren, damit er doch einmal den rechten Grund dessen, was ihm noch unbekannt war, bald erfahren möchte. Er schwang sich abermals ungesäumt und mit höchster Begierde auf sein mutiges Roß und begab sich wieder nach Poitiers zu seinem Herrn Vetter. Jedermann besann sich, was diese baldige Rückkehr Raimunds an den Hof wohl bedeuten möge. Dieser wurde aber bald vorgelassen, und der Graf war begierig, sein Anliegen zu vernehmen. Siehe, da war er sein eigener Hochzeitbitter selbst und brachte seine Bitte mit folgender höflicher Rede vor: "Gnädiger Herr Vetter, geruhet, nicht unwillig dar



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über zu sein, daß ich mich so bald und unverhofft wieder bei Hofe einfinde, Euch aus besonderer Zuneigung etwas Neues zu entdecken; denn ich halte es für Schuldigkeit, Euch alle meine Heimlichkeiten zu offenbaren. Wisset denn, ich bin ein Bräutigam und komme deswegen her, Euch und Eure geliebte Frau Mutter ehrerbietig zu meinem Hochzeitfeste einzuladen , das bei dem Euch wohlbekannten Durstbrunnen begangen werden soll. Wofern ich nun die Ehre von eurer beider Gegenwart nächstkünftigen Montag früh genießen könnte, so würde ich und meine Liebste solches für ein ganz besonderes Glück halten und in steter Dankbarkeit niemals vergessen ."

Diese höfliche Einladung hatte Raimund kaum ausgesprochen, als der Graf höchst neugierig die Frage fallen ließ, wer denn wohl seine Liebste sei. "Sie ist eine edle, reiche und mächtige Dame", versetzte Raimund, "deren Herkunft ich übrigens selbst noch nicht eigentlich weiß und auch nicht eher als bis nach der Trauung erfahren werde." Graf Bertram konnte sich der Verwunderung und des Lachens kaum enthalten. Doch gab er ihm diesen höflichen Bescheid: "Liebster Vetter, wir vernehmen mit größtem Vergnügen und Wohlgefallen Euer Glück und sind entschlossen, auf Euer freundliches Ersuchen an Eurem Hochzeitfeste, wozu der Himmel sein Gedeihen geben wolle, uns einzufinden; aber sehet zu, ob Euch diese Heirat nicht übel ausschlage. Denn wenn Eure Liebste vielleicht von unedlem Geschlechte geboren wäre, so könnte sie Eurer edlen Herkunft einen Schandfleck anhängen." Raimund antwortete sogleich: "Edler Vetter, obschon ich meiner Geliebten Abkunft selbst noch nicht eigentlich weiß, so bin ich doch dessen gewiß versichert, daß sie meinem Stande gleich, wo nicht gar überlegen sei, und verlange daher nichts mehreres, als daß Ihr sie mit ihren vortrefflichen Eigenschaften persönlich kennen lernen möget." — "ES sei so, wie wir Euch schon vorhin versprochen, geliebter Vetter!" antwortete der Graf noch einmal lächelnd; "wir werden gewiß kommen und die unbekannte Braut einsehen, ob Ihr Euch auch etwas Schönes ausgelesen!" — "Zweifelt daran nicht, Vetter", versetzte Raimund, "ihre Schönheit und Sitten lassen sie wie eine Königin erscheinen; wohl möchte sie auch vielleicht eines Herzogs oder Markgrafen Tochter sein!" — "Der Himmel bestätige Euren Glauben, daß Ihr nicht betrogen seid!" sprach der Graf, "das Verlangen, diese Göttin zu sehen, macht uns die Zeit recht lang!"

So schied Raimund mit der Zusage des Grafen und höflichem Danke; er ritt davon und zu seiner Geliebten. Der gewünschte Montag kam herbei,



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und mit dem frühesten Morgen machte sich Graf Bertram samt seiner verwitweten Mutter und allem Hofgesinde von Poitiers auf, ihrem Versprechen nachzukommen und seines Vetters Ehrenfest mitbegehen zu helfen.

Unterwegs hatten sie immer die kurzweilige Sorge, daß bei dem verrufenen Durstbrunnen ein gespenstisches Gaukelspiel und Blendwerk vorgehen könnte, worüber sie dann genug lachen und den Bräutigam zu necken nicht vergessen wollten. Nun ging die Reise dem Walde zu nach Colombiers, und von da gegen den Felsen, welcher auf einer Höhe gelegen war. Kaum aber waren sie bei jenem Felsgestein angelangt, da erblickten sie schon in dem Grunde auf einer schönen, grünen, lustigen Ebene verschiedene anmutige Bäume und zwischen ihnen eine Menge trefflicher Zelte aufgepflanzt; aus denen hier und dort ein Rauch aufstieg, woran zu erkennen war, daß daselbst ein Sieden und Braten vor sich ging. Auch wurden sie sehr viel Volks ansichtig, lauter unbekannte Leute, die um die Zelte herumwandelten. Dies bestätigte sie in der Meinung, daß das alles nichts anders sein könne als eine Gespenstererscheinung, besonders auf einer solchen Einöde, wo sonst kein Mensch anzutreffen war.

In diesen Gedanken wurden sie durch die Ankunft einer Menge von jungen Rittern und Edelleuten unterbrochen, die bei sechzig Menschen, alle landfremd, aber in schönstem Schmucke und auf das beste bewaffnet, daherritten. Diese empfingen den Grafen, seine Mutter und alles, was bei ihnen war, auf das allerhöflichste im Namen ihres Herrn Raimund und begleiteten sie in zierlichern Auftritte bis vor die Gezelte. Diese gar artige Aufnahme, die sorgfältige Verteilung der Gäste in die Gezelte und die treffliche Herberge machten den Grafen Bertram nicht wenig bestürzt und brachten ihn auf ganz andere Gedanken, als die er sich eingebildet hatte. Nicht nur schön und kostbar waren die Zelte und an einem lieblichen Platz aufgeschlagen, sondern selbst die Krippen für die Pferde waren so schön eingerichtet, daß es den lustigsten Anblick gewährte. Auch hatten sich die fremden Gäste kaum in den Gezlten niedergelassen, da fand sich schon eine Anzahl schön geschmückter Frauen und Jungfrauen ein, welche im Namen der Braut die Gräfin Mutter samt allen den Ihrigen aufs artigste begrüßten. Alle Gemächer fanden sie mit Bequemlichkeiten und Zieraten auf das kostbarste eingerichtet, wie man es in dieser Einöde nimmermehr hätte erwarten sollen.

Indem kam auch Raimund mit einem Gefolge von Kavalieren daher, den Grafen, seinen Herrn Vetter, zu bewillkommen und ihn in seine Wohnung zu begleiten. Da es nun bereits Zeit zu der Trauung war und



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in die Kirche geläutet wurde, verfügten sich alle Herrschaften, in einem zierlichen Ring in bester Ordnung gestellt, nach der Kapelle, und es wurde zwischen ihnen ein mit den größten Kostbarkeiten gezierter Altar aufgerichtet . Auch die Kapelle selbst war mit Tapeten und Kleinodien auf das prächtigste geschmückt. Die Braut endlich war so wohlgetan an Schönheit wie an Kleiderschmuck, daß sie mehr einem Engelsbildnis als einem Menschen zu vergleichen war. Die Gewande schimmerten und spielten von Gold, Perlen und Edelsteinen wie der gestirnte Himmel, kurz, alles war schön und köstlich anzuschauen.

Der Graf von Poitiers samt seinem ganzen Gefolge, sobald erin die Kapelle hineintrat; wandte sich zu der Braut, umfing sie und beglückwünschte sie mit aller Ehrerbietung. Melusina und ihre Jungfrauen erwiderten diesen Gruß mit tiefer Verneigung. Nachdem nun alle in der rechten Ordnung sich gesetzt hatten, ließ sich eine vortreffliche Musik von allerlei lieblich klingenden Saitenstücken, Flöten und Posaunen hören, und die Fremden hatten mit höchstem Staunen nur genug zu hören und zu sehen, solange sie sich in der Kapelle befanden, so daß sie selbst unter sich bekennen mußten, dergleichen Hochzeitaufzüge niemals gesehen zu haben.

Nach geendigter Messe wurde zur Trauung geschritten und die Braut in ihrem Schmucke von zwo Jungfrauen, sowie Raimund von zween Rittern zu dem Altar begleitet und allda beide eingesegnet. Da stand die Braut mit Raimund unter einem köstlichen Thronhimmel. Nach verrichteter Trauung führte sie der Graf von Poitiers und ein anderer vornehmer Herr zur besondern Ehre dem Gezelte zu. Hier wurde das Handwasser in goldenen Schalen herumgetragen und jedem Gaste auf die Hände gegossen , dann setzte man sich zu Tische; die gräflichen Gäste wurden zuoberst; nächst dem Brautpaare, in goldene Sessel gesetzt. Die köstlichsten Gerichte wurden aufgetragen und bei allem eine Pracht angewendet; daß es fast königlich anzusehen war.

Nachdem die Vorgerichte genossen waren, stand Raimund mit einigen seiner vornehmsten Ritter von der Tafel auf, und indem man eben die andern Trachten aufs herrlichste daherbrachte, fing er selbst mit ihnen an, bei Tische zu dienen. Der Gerichte waren so viele, daß man nicht wußte; wo man sie hinsetzen sollte; in eitel goldenen Pokalen wurden Weine von der köstlichsten Gattung kredenzt und mit diesen so vertraulich umgegangen, als wäre es bloßes Bier; ja, selbst Diener und Knechte hatten nichts als edle Weine zu trinken, an denen sie sich vergnüglich abweiden konnten. Auf die Tafel folgte ein ergötzliches Turnier. Die Ritter in herrlichem



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Putz und Geschmeide stellten sich, in zwei Partien geteilt; auf den zubereiteten Plan; der eine Haufen wollte für Melusina, der andere für Raimund, beiden zu besondern Ehren streiten. Die Frauen im köstlichsten Schmucke von Edelsteinen (wiewohl keine schöner und geschmückter war als die Braut) schauten bei diesen herrlichen Ritterspielen zu. Jedermann erwartete voll Neugier, wer siegen würde. Jedermann tat sein Bestes, aber Raimund selbst trug das Allerbeste davon, und dies war ein ganz herrliches Kleinod von Diamanten. Darüber wurde ihm zur großen Freude seiner Geliebten ein munteres Lebehoch zugerufen.

Am späten Abende, nach gänzlicher Beendigung des Ehrenfestes, wurde das Brautpaar mit vielen Fackeln und Windlichtern zu seinem Zelte begleitet . Dieses war von lauterer Seide, mit dichten Goldstreifen und bunten Vogelgestalten herrlich durchwirkt; das Lager und die Decken von Seide, mit lauter goldenen Lilien gestickt, so daß der Glanz die Augen blendete. Die Priester segneten das Paar noch einmal, und alle Hochzeitsgäste



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verabschiedeten sich. Um das Zelt herum aber ertönte eine liebliche Musik von allerlei Instrumenten wie mit halben Stimmen, so daß die Töne noch anmutiger ins Gehör fielen. Die jungen Diener und Bursche blieben wach während der ganzen Nacht und bezeigten sich dem getrauten Paare zu Ehren mit Singen und Springen gar lustig. Melusina aber sprach zu ihrem Gemahl: "Ich bin jetzt deine Hälfte, wie du die meinige zu nennen bist. Und das laß uns bleiben, bis uns der Tod trennen wird. Nur sei nicht lüstern, nach meiner Herkunft zu forschen oder dein Gelübde , mich Sonnabends nicht zu sehen, an mir zu brechen, wenn du nicht selbst der Urheber deines äußersten Verderbens sein und mich selbst von Stund an verlieren willst." Raimund umarmte seine Gemahlin und schwur ihr alles, wie er es schon zweimal gelobt hatte, auch zum dritten Male. Dann kehrte der stille Schlafgott bei ihnen ein und schloß unter der Bedachung des Augenlides die kristallenen Fenster ihres Angesichts.



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Am andern Morgen sammelten sich die Gäste wieder, und sie empfingen von allen den freundlichsten Gruß. Darauf ging die Fröhlichkeit wieder an, und so währten die Hochzeitfreuden fünfzehn Tage lang. Zuletzt kam auch der Abschiedstag herbei, an welchem sämtliche Gäste aufbrachen. Anstatt aber, daß sie für die genossene Ehre die Braut beschenken sollten, siehe, da eröffnete Melusina einen mit Elfenbein ausgelegten großen Schrein, in welchem die allerkostbarsten Kleinodien von Gold, Perlen und Edelsteinen in unzählbarer Menge verwahrt waren, die man zuvor nie gesehen hatte. Damit beschenkte sie die meisten ihrer Gäste, vor allen den Grafen, seine Mutter und ihre Hoffrauen. Darüber brach ihrer aller Bewunderung immer mehr und mehr aus. Welch ein wunderglückseliger Herr doch Raimund sein müsse, dachten sie, daß er eine so gute Heirat getroffen habe. Hierauf verabschiedeten sich die Gäste mit dem höflichsten Danke, besonders von der schönen Melusina, und diese mit Raimund tat ein gleiches. Zwar hätte Graf Bertram gar gerne gefragt, welchen Ursprungs die junge Frau doch sei, weil er sie immer noch nicht für etwas recht Natürliches halten wollte. Allein er fürchtete den Zorn, in welchen Raimund über solchen Verdacht geraten könnte; deswegen unterließ er es, und so schieden alle in Liebe voneinander, jedoch ohne daß die aus Poitiers wußten, bei wem sie gewesen und woher Raimunds reiche Staut wäre. Von Raimund und seinen Rittern wurden sie bis vor den Saum des Waldes begleitet. Dann ritt dieser wieder zurück und erzählte seiner Gemahlin vom letzten Abschiede. Diese empfing ihn mit tausend Küssen und



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vertröstete ihren Geliebten, weil nun diese Unruhe vorbei wäre, wollte sie nächstens einen denkwürdigen Bau und durch diesen ihres Gemahles Gedächtnis susten, was Raimund sich ganz wohl gefallen ließ.

Acht Tage waren verflossen, da kamen eine Menge Werkleute von allerlei Handwerken bei dem Durstbrunnen an, die fällten alles Holz ringsumher, soviel innerhalb des Hirschriemens begriffen war, und schlugen es zu kleinen Trümmern mit Ausnahme dessen, was zum Bauholze nützlich schien. Dann machten sie gar tiefe Gräben um die hohen Felsen herum; auch bezahlte sie Melusina alle Tage mit barem Gelde, daher sie ihr Werk um so williger vollbrachten. Sie legten ein tiefes und starkes Fundament und setzten die ersten Grundsteine auf den harten Fels. Durch solchen Fleiß hatten sie in kurzer Zeit großmächtige Türme und dabei eine über die Maßen hohe und dicke Ringmauer gesetzt. Innerhalb derselben bauten sie zwei gute und starke Schlösser. Um das unterste machte man einen hohen Zwinger, welcher sehr fest war.

Als nun die Leute des Landes ein so unsäglich großes und starkes Werk in so gar kurzer Zeit aufgeführt sahen, konnten sie sich nicht genug darüber verwundern. Und weil das Schloß zu aller Gegenwehr hinlänglich gerüstet war, so nannte es Melusina nach ihrem Taufnamen und sprach: "Lus inta soll dies Schloß heißen und hoffentlich ewig diesen Namen führen."

Nun fügte sich's, daß Melusina mit der Zeit eines jungen Herrleins genas, gar eines muntern Söhnleins, den nannte sie Uriens, und er kam in der Folge zu großen Ehren. Doch war er keineswegs schön von Angesicht, sondern hatte eine seltsame Gestalt; er war gar kurz und breit, flach unter den Augen, überdies war das eine Auge rot, das andere grün; er hatte dabei einen weiten Mund und lang hängende Ohren; aber an Armen, Beinen und allen andern Gliedern war er sonst gerade und wohlgewachsen , auch zierlicher Gebärden.

Hierauf ließ Melusina das gange Schloß einrichten. Die Gänge, die Erker, alles wurde unter Dach gebracht. Dann ward es mit Leuten und Kriegszeug also besetzt, daß es schwer zu gewinnen oder zu stürmen war. Die Gräben waren ungeheuer tief, Mauern und Türme sehr hoch und stark; die Tore waren mit mächtigen Riegeln und einem starken Schloßturm versehen. Daneben ließ sie heidnische Türmer dareinlegen, die des Schlosses Tagwächter waren und die ankommenden Fremden mit einer bestimmten Losung verkündigen mußten.

Noch dasselbe Jahr gebar Melusina einen zweiten Sohn, der Gedes genannt wurde und eine so brennende Röte unter seinem Angesicht hatte,



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daß sie gleichsam einen Widerschein gab, sonst aber war er ganz schön und von wohlgestaltem Leibe. Darnach baute sie wieder ein Schloß, das sie Favent nannte, und den Turm Mervent. Dann erbaute sie der Mutter Gottes zu Ehren ein schönes Kloster, welches sie Mallières nannte. Zuletzt endlich ließ sie das Schloß und die Stadt Portenach ausbessern und erneuen.

Alle diese Gebäude waren fertig; da gebar Melusina abermals einen Sohn, welcher gar schön war: nur stand ihm das eine Auge um ein weniges höher als das andere. Dieser Sohn hieß Gyot. Selbiges Jahr baute Melusina wieder ein Schloß, Larochelle genannt, und zu Soniets ließ sie eine herrliche Brücke anlegen. Dann gebar sie wiederum einen Sehn, Antonius geheißen, welcher einen Löwengriff an seiner Wange mit auf die Welt brachte, auch sehr behaart war und lange scharfe Nägel an den Fingern hatte. Dieser war nun so scheußlich, daß wer ihn nur ansah, sich schon vor ihm fürchten mußte. Doch vollbrachte er nachgehends zu Luxemburg große Taten, so daß alle Welt darüber staunte. Hierauf gebar sie wieder einen Sohn; selbiger hatte nur ein Auge, welches ihm mitten auf der Stirne stand; dieser wurde Reinhard genannt. Doch sah er mit dem einen Auge viel besser, als wenn er deren zwei gehabt hätte. Als derselbe wuchs und zu seinen Jahren kam, vollführte er, nicht weniger als die andern, herrliche Taten.

Es folgte nun auch der sechste Sohn, den man Geoffroy mit dem Zahne hieß, weil er einen großen Zahn mit auf die Welt brachte, der ihm wie ein Eberzahn aus dem Munde hing. Dieser wurde überaus starken Leibes und zeigte auch mehr als seine andern Brüder fremde und wilde Sitten.

Es blieb aber auch bei diesem sechsten Sohne nicht, sondern ein siebenter folgte, welcher Freimund geheißen ward; dieser war sehr schön von Leib und Angesicht, hatte jedoch auf der Nase ein haariges Mal, als wäre ihm ein Stück von einer Wolfshaut eingesetzt. Der wurde vernünftig und weise, aber lebte nicht lang. Bald aber nach diesem kam der achte Sohn, welcher drei Augen hatte, von denen eins ihm auf der Stirne stand. Er wurde um seines abscheulichen Aussehens willen Horribil genannt und zeigte schon in zarter Kindheit böse Sitten; sein ganzes Gemüt war auf nichts anderes bedacht, als Arges zu stiften. Diesem folgte der neunte Sohn, den man Dietrich nannte; an dem war nichts Besonderes zu sehen, und er wurde ein sehr tapferer und kühner Ritter. Der zehnte Sohn beschloß die Reihe, er hieß nach seinem Vater Raimund und wurde in der Folge auch Graf vom Forst.



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Der älteste Sohn, Uriens genannt, war indessen herangewachsen und ins männliche Alter getreten; ihm stand sein Herz und Gemüt nach nichts sehnlicher als nach hoher Kriegsehre. Deswegen nahm er einige Segel- und Ruderschiffe und ließ sie mit allem Nötigen ausrüsten, so daß sie wohl den Namen Galeeren führen durften. Auch bestellte er zu dieser Fahrt viel Volkes, und zwar die Besten und Wehrhaftesten aus dem Lande seiner Mutter. Als sein jüngerer Bruder Gyot dieses sah, bekam er Lust; mit ihm fahren, wiewohl er noch jünger als sein Bruder Gedes war, welcher auch an dieser Reise ein Belieben gefunden hatte. Der mutige Uriens aber hatte größere Neigung zu seinem Bruder Gyot, so daß er sich diesen zum Reisegefährten wählte und den Bruder Gedes für diesmal zurückließ . Melusina freuete sich über den löblichen Vorsatz ihrer Söhne und hoffte auch, daß es ihnen auf dieser Reise glücklich ergehen würde. Sie rüstete sie deswegen mit Habe, Geld und Zubehör reichlich aus und ließ sie also in des Himmels Geleite dahin fahren.



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So steckten sie ihre Segel mit Freuden auf und stießen vom Strand, kamen aber in kurzem wieder zu Lande, und dies war das Königreich Zypern . Daselbst trafen sie die beste Gelegenheit, ritterliche Taten zu erweisen; denn der König von Zypern war in seiner Stadt Famagusta von dem mächtigen Heidensultan selbst mit mehr als hunderttausend Mann belagert. In der Stadt herrschte große Hungersnot, und der König sah nichts anders vor sich, als den Heiden unterwürfig und vom christlichen Glauben hinweggedrungen zu werden, und dies verursachte großes Jammern und Wehklagen in der Stadt. Aber der Schutz des Himmels, der die Seinigen nicht hilflos läßt, ließ sich plötzlich spüren; denn kaum hatte Uriens die Kunde vernommen, als er sich mit seiner Flotte nach der Stadt hinwendete und sein köstlich in Seide gesticktes Panier flattern ließ.


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Die Heiden wurden die Ankunft dieser neuen Gäste bald gewahr; auch die in der Stadt vernahmen, daß fremdes Volk herbeikomme; sie konnten aber so schnell nicht wissen, ob es Christen oder Heiden wären. Der Sultan aber, sowie er die mächtige Herankunft der christlichen Schiffe inneward, begann, sein Volk zusammenzuziehen. Da glaubte der König von Zypern, die Heiden wollten die Flucht ergreifen, befahl den Seinigen, sich zum Streite zu rüsten, und steckte die rote Blutfahne aus. Die Trompeter fingen an, fröhlich zu blasen, die Tore wurden aufgeschlossen, und zog also das ganze Volk mutig gegen die Heiden hinaus. Nur die Prinzessin Herminia, seine schöne Tochter, ließ der König in der Stadt zurück.



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Da erhub sich ein strenger Kampf: die Heiden widerstanden mit großer Macht; viel fromme Christen wurden erschlagen; ja, der König von Zypern selbst wurde durch das vergiftete Geschoß eines Heiden tödlich verwundet, so daß man kaum hoffte, ihn lebendig von dem Schlachtfelde hinwegzubringen. Daher mußten die Zyprier, gedrängt von den Heiden, zwar mit bewehrter Hand, aber doch nicht ohne großen Verlust wiederabziehen . In der Stadt Famagusta erhub sich eine große Klage um die Toten und Verwundeten. Die Kinder weinten und schrien um ihre Väter, die Weiber rauften sich mit großem Geheul die Haare aus. Viele liefen in der Stadt herum und schlugen die Hände zusammen; am kläglichsten aber gebärdete sich die Prinzessin Herminia, des verwundeten Königes Tochter; denn sie hatte aus dem Berichte der Arzte schon geschlossen, daß das Leben ihres Vaters nicht mehr lange dauern würde und seine Wunden unheilbar seien.

Unterdessen war Uriens mit seinem Bruder Gyot und der Heerschar, die mit ihnen auf den Schiffen war, gelandet und jählings auf die Heiden losgerückt. Sie fielen in die Reihen derselben voll Heldenmut, und Uriens selbst verwundete und erlegte deren mehrere mit eigener Hand; auch Gyot focht nicht weniger männlich, so daß die Heiden endlich ein großer Schrecken ankam und sie auf den Rückzug zu denken anfingen. Doch wurde auch dieser von ihnen nur unter hitziger Gegenwehr angetreten. Da sah man mit Erstaunen, wie ritterlich der Sultan von Babylon noch stritt und einen Christen um den andern zu Boden warf. Solches ersah nun Uriens, drang auf ihn ein und versetzte ihm einen so mächtigen Streich mit dem Schwerte, daß ihm das Haupt bis auf die Zähne gespalten wurde und er vom Rosse elendiglich in den Staub dahinsank. Als dies seine Völker, die Heiden, gewahr wurden, entsetzten sie sich über die Maßen und nahmen von Stund an die Flucht. Der tapfere Uriens und sein Bruder eilten ihnen nach, erlegten ihrer ohne Erbarmen eine unglaubliche Menge und trugen so den Sieg davon.

Wie die Schlacht zu Ende war, nahmen Uriens und Gyot samt all ihrem Volk von der Heiden Lager und Gezelten Besitz und ruhten daselbst vergnüglich aus. Hierauf fertigte der todkranke König von Zypern durch einen mächtigen Landesfürsten und etliche seiner Räte eine Gesandtschaft an Uriens ab mit dem höflichen Ersuchen, doch zu ihm in seine Stadt Famagusta und an seinen Hof zu kommen; läge er nicht an einer tödlichen Wunde darnieder, so würde er selbst ihm, als dem Obsieger seiner Feinde, einen Besuch in seinem Lager abgestattet haben. Uris nahm solches Anerbieten



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mit vielem Danke auf und entließ die Gesandtschaft mit dem Versprechen , sich einzufinden und Seiner Majestät aufzuwarten. Auch machte er sich alsobald mit seinem Bruder Gyot auf und langte an dem Hofe des Königs an. Aber das Volk in der Stadt Famagusta empfing ihn anfangs nicht sehr freundlich, sondern sah ihn wegen seines unförmlichen Gesichts recht mit Verwunderung und Erstaunen an. Ein jeder sagte, nie hätte er ein so fremdes und seltsames Antlitz gesehen. Ja, sie kreuzten sich vor Wunder und sprachen: "Der hat wohl die Gestalt, viel Land und Leute zu überwinden und zu bekommen, weil man sich vor ihm fürchten mußt"

Indessen kamen sie in des Königs Palast und fanden diesen, geschwollen und ohnmächtig von den Wunden des vergifteten Geschosses, in seinem Bette liegen. Uriens grüßte den König mit höflicher Verneigung und beklagte ihn sehr. Jener hingegen versetzte: "Mein Freund, Ihr habt gar tapfer gefochten und mit Eurer ritterlichen Hand große Ehre eingelegt, auch uns und der ganzen Christenheit damit gedient, so daß Ihr vor aller Welt billig Preis und Ehre davontraget und Eure Nachkommen um solcher Heldentat willen noch gepriesen werden sollen. Doch eins wünschen wir von Euch zu wissen, wer Ihr von Geschlecht, von wannen Ihr gebürtig seid." Uriens antwortete ihm mit tiefster Verbeugung: "Allergnädigster König und Herr! Eure Majestät beliebe zu vernehmen, daß ich von dem Stammhaus zu Lusinia geboren bin. Ich verhehle meinen Namen nicht." Der König sprach: "Von Eurem Geschlecht haben wir viel vernommen, daß alle, die daraus geboren, gar tapfere, heldenmütige Leute seien. Anjetzt aber ist unser gnädiges Verlangen, daß Ihr, tapferer Ritter, uns in einer Sache zu Willen seid und einen besondern Gefallen tun wollet. Es soll dies zu Eurer eigenen großen Ehre gereichen. Wisset demnach", fuhr der König mit einem lauten Seufzer und tiefem Atemholen fort, "daß unsere Tochter Herminia, die einzige Erbin dieses Königreichs, welches nun auch bald nach unserm bevorstehenden Hinscheid auf sie gelangen wird, weil das Gift des empfangenen Geschosses uns schon fühlbar zum Herzen eilt — daß unsere Tochter Herminia eines Schutzes und dies Reich selbst eines tapfern und heldenmütigen Thronfolgers bedarf, indem es den heidnischen Grenzen gar zu nahe liegt. Darum begehren wir von Euch, daß Ihr unsere Tochter und dieses Reich zusammen übernehmet und vor allem Anfall der Feinde beschützen wollet; denn derzeit ist in allen Landen unter allen Rittern der Welt kein glückseligerer Held als Ihr, keiner, der an Klugheit und tapfern Taten Euch gleich, keiner, mit dem unsere Tochter und unser Reich besser versehen wäre, zu finden.".



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Uriels erschrak vor großer Freude hierüber nicht wenig. Er antwortete dem König in tiefster Demut also: "Großmächtigster König, ich sage für diese hohe und unverdiente Gnade meinen untertänigen Dank und erkenne mich viel zu gering, die Erbin einer Königskrone als Gemahlin heimzuführen; noch geringer aber, ein so mächtiges Reich zu beherrschen. Jedoch eine so unvergleichliche Gnade auszuschlagen und den Schluß des Himmels zu verwerfen, würde vielmehr Vermessenheit als Demut heißen. Deswegen kann ich nicht anders als folgen und Gehorsam leisten, wenn Ihr anders mit Eurem Knechte nicht scherzet, daß ich die jetzt so betrübte Fürstin hinfüro meine Geliebte und mich selbst ihren Diener nenne." Der König, über diese kluge Antwort des Fremdlings von Herzen erfreut, versetzte: "Nun preise ich den gütigen Himmel, daß ich noch vor meinem Ende Tochter und Reich nach meinem Wunsche versorgt habet"

Hierauf hieß er den Helden Uriens abtreten, bis er den Hof- und Reichsständen seinen Willen vorgetragen hätte. Auch gebot er zur Stunde, daß alle seine Räte, insonders aber seine Tochter, die Prinzessin, herbeikommen sollten. Zu jenen sprach er alsdann: "Sehet, wir haben unser Reich mit bewehrter Hand gegen die Heiden bisher beschirmt. Nun aber sind wir durch ein vergiftetes Geschoß dermaßen verwundet, daß wir wohl fühlen, unser Leben sei dem Ende nahe. Nun bedürfet ihr sehr eines tapfern Helden zum Herrn; denn ihr seid den Ungläubigen gar zu nahe gelegen . Es fällt aber das Reich auf niemand anders als auf unsere einzige Erbin Herminia. Demnach fordern und begehren wir, daß ihr erstens von ihr eure Lehen empfahet, ihr auch als eurer gnädigen Königin und Beherrscherin des Reichs huldigt und schwöret."

Das alles geschah von Hof und Ständen nach dem Willen des Königs. Dann fuhr der todschwache Fürst fort und sprach: "Ihr wisset ferner, Liebe und Getreue, daß einem schwachen und jungen Weibe, Reiche und Länder zu regieren und vor feindlichen Anfällen zu beschützen, fast unmöglich sei. Weil wir sie nun gerne solcher Last entbürdeten und doch als Königin gewürdigt wissen möchten, in unserm ganzen Reich und allen Nachbarländern aber keinen tauglichern Ritter finden, welcher ihr Gemahl und königlicher Herrscher zu sein verdiente, außer dem Helden Uriens von Lusinia, der sich, an unsern Hof berufen, allhier befindet und diese Stadt aus der Heiden Händen mit seiner tapfern Faust errettet; auch den Sultan und sein mächtiges Kriegsvolk aufs Haupt geschlagen hat:- darum so sind wir entschlossen, mit eurer Bewilligung ihm unser einziges Kind, die Prinzessin Herminia, zu vermählen und somit ihm das



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Zepter des Reichs einzuhändigen. Erinnert euch also der schuldigen Treue, ein solches wohl zu erwägen und ihn zu ersuchen, daß er die angebotene Gnade erkennen und annehmen wolle, weil ihr wisset, daß ihr mit des gütigen Himmels Hilfe vor den Heiden durch ihn wohl gesichert sein werdet!"

Die Landesherren kamen dem königlichen Befehle freudig nach und bedeuteten dem tapfern Uriens, daß er sich mit der Prinzessin Herminia vermählen sollte; dann wollten sie ihm auf der Stelle schwören und ihn zu ihrem Könige krönen. Dies nahm der edle Ritter dankbar und mit Freimut an und entließ die Abgeordneten mit dem besten Bescheid an den todkranken König zu seinem und des Landes Vergnügen. Der König ließ den Uriens nun wieder vor sich rufen und wiederholte ihm seinen Entschluß. "Ihr seid würdig", sprach er, "das Zepter zu tragen und dieses ganze Königreich zu beherrschen; ja, alles Volk jauchzet schon vor Freuden, Euch als seinem künftigen Gebieter zu huldigen!" Uriens dankte noch einmal mit tiefer Verneigung und versprach seine willigsten Dienste. Zur Stunde wurden sodann die zwei im Angesichte des sterbenden Königs vermählt, und alsobald verschied der König.

So ward die Hochzeit mit vielem Leid und Jammer begangen, kein Tanz wurde gehalten, kein Saitenspiel ertönte; der verstorbene König aber wurde mit großem Gepränge zur Erde bestattet. Übrigens lebten Uriens und Herminia in zärtlicher Liebe miteinander, und ihrer Zeit genas ,die



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junge Königin eines Prinzen, den man den Greif nannte. Dieser Greif ward nachmals so tapfer und kühn, daß er in einem fremden Lande viel Städte und Leute und große Herrschaften gewann; den Palast zu Colliers , der sehr stark war, eroberte er, dazu eine Insel in dem Meere, wo ein großer Schatz verborgen war, nebst dem goldenen Vlies, welches Jason vorzeiten gewonnen hatte. Auch eroberte er eine Stadt im Mohrenlande und steckte auf ihren Zinnen sein Panier auf.

Nun erkrankte auch der König von Armenien, Herminiens naher Verwandter , der leibliche Bruder ihres Vaters, und es mehrte sich mit seiner Krankheit dermaßen, daß sein Ende bevorstand und die Kunde davon nach Zypern kam. Er starb und hinterließ eine einzige schöne Tochter, welche Floria hieß und noch ohne Gemahl war. Da traten die Landesherren zusammen und hielten Rat, was zu tun wäre, und infolge ihrer Beratung sandten sie eine Gesandtschaft an den König von Zypern ab und baten, weil die verstorbenen Könige von Zypern und Armenien leibliche Brüder gewesen wären, so möchte der neue König, Herr Uriens, seinen Bruder Gyot zu ihnen abschicken und ihn der Prinzessin Floria zum Gemahl gönnen; dann wollten sie ihm huldigen und ihn zum König krönen. Uriens hielt deswegen einen geheimen Rat; die Stimmen lauteten aber einhellig, er sollte seinen Bruder dahin abschicken. Darauf machte sich Gyot schnell auf die Reise und kam nach Armenien, wo er die schöne Floria antraf. Man ritt ihm mit allen Ehren entgegen und empfing ihn auf das trefflichste . Ohne vielen Verzug wurde er unter den größten Festlichkeiten zu ihrem Könige gekrönt. Von dieser Zeit an waren die zwei berühmten Königreiche wieder in zweier Brüder Händen, und beide regierten gar klug und mächtig und taten dem Heidenvolke kräftigen Widerstand. Auch zeugten die zwei königlichen Brüder viel tapfere und schöne Söhne, welche noch zu ihrer Väter Lebzeiten erwuchsen und ebenfalls den Heiden nicht wenig Abbruch taten.



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Als inzwischen Raimund und Melusina durch sichere Botschaft in Erfahrung gebracht hatten, daß ihre beiden Söhne durch so tapfere Taten zu hohen Ehren gekommen und sogar auf Throne erhoben worden wären, wurden sie sehr fröhlich und voll inniglicher Herzensfreude. Zum andachtsvollen Danke gegen diese Fügung des Himmels ließ Melusina eine herrliche Kirche aufbauen, welche der Tempel zu Unserer Lieben Frauen in Portenach genannt wurde; auch ließ sie noch viel andere Kirchlein und Kapellen errichten.



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Nach diesem vermählte sie ihren zweiten Sohn, den Gedes, an eine Tochter des Grafen von der Mark. Indessen wurde auch ihr Sohn Reinhard, welcher nur ein Auge hatte, sehr stark, wuchs gar frisch heran und entschloß sich, mit seinem Bruder Antonius, gleich seinen beiden ältern Brüdern, in die Fremde zu gehen und daselbst durch ritterliche Taten Ehre einzuholen. So zogen sie miteinander in Begleitung eines sehr schönen Gefolges und mit dem trefflichsten Kriegszeug von Lusinia ab und gingen nach Luxemburg, welches eben der Fürst von Elsaß mit großer Macht belagert hielt. Auch hätte er diese Stadt ohne Zweifel genommen, wenn ihr nicht die unerwartete Hilfe von jenen beiden jungen Helden zugekommen wäre. Jener Fürst von Elsaß war von Herkunft ein König von Böhmen, daher man ihn auch insgemein den König von Elsaß hieß. Nun wußte jedermann wohl, daß jener Angriff ein Mutwille und freventliche Gewalt war, mit welcher der Fürst von Elsaß die Herzogin von Luxemburg, die eine betrübte und hilflose Waise war, zu erschrecken sich aufgemacht hatte. Er wollte nämlich entweder sie zur Gemahlin oder Schloß und Stadt mit Gewalt von ihr haben.

Auf die Nachricht von dieser Gewalttätigkeit sandten die Brüder, von großem Mitleid bewogen, eilend einen Herold zu dem König von Elsaß, kündigten ihm wegen so ungerechten Verfahrens ernstlich den Krieg an und steckten zum Beweise dessen ihr Banner auf. Ungesäumt rückten sie gegen das feindliche Lager an, fanden aber dort alles in bester Ordnung und den Feind mit Schwertern, Spießen und Hellebarden wohlversehen. Darauf stellten sie ihre Mannschaft in Schlachtreihen, zogen mit ritterlicher Unverzagtheit auf den Feind los und griffen ihn männlich an. Aber auch die Elsasser unterließen nicht, auf das fremde Volk mit großer Gewalt einzudringen. Der Kampf hielt heftig an, doch erlegten die Lusinier die meisten Feinde, und man sah, wie sich der Sieg ihnen zuneigte. In diesem Streite hielten sich die zwei Brüder höchst ritterlich und verrichteten mit ihren streitbaren Armen die herrlichsten Taten. So wurde der Schrecken auf seiten des rheinischen Volkes überaus groß, ihre anfänglichen Siegesblicke und prahlerischen Mienen verwandelten sich merklich; die Lusinier hingegen triumphierten und sprachen einander mit lautem Rufen zu.



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Inzwischen geriet der jungmütige Held Antonius ganz in die Nähe des Königs von Elsaß und focht ritterlich mit ihm, so daß zuletzt der König sich gefangengeben mußte und ihm sein Schwert williglich darbot, .und



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wenn er das nicht bald getan hätte, würde es ihm wohl das Leben gekostet haben. Doch nahm ihn Antonius noch zu Gnaden an. Als nun das rheinische Volk seinen Herrn gefangengenommen sah und ihn nicht mehr zu Gesichte bekam, da ergriff es die Flucht. Die Lusinier aber eilten ihnen nach, und besonders Reinhard tat großen Schaden, indem er den Feinden nachjagte.


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Nachdem nun der Streit zu Ende und der Feind völlig aus dem Felde geschlagen war, schickten die zwei Brüder den König von Elsaß, ihren Gefangenen , nach Luxemburg in die Stadt und ließen ihn durch sechs ihrer Ritter der Erbin von Luxemburg zum Zeichen des Sieges überantworten. Die Prinzessin, solche königliche Beute erblickend, erinnerte sich der Drangsale , die ihr der Gefangene zugefügt, und des Übermuts, den er an ihr verübt hatte. Kein Wunder, wenn ihr die Rache, welche der Himmel an ihm genommen, und ihre eigene Errettung tief zu Herzen ging! Sie sprach daher zu den Rittern, die ihr den König brachten: "Tapfre Ritter, sehr werte Freunde! Ihr habt mir hier meinen Feind und mächtigen Verfolger in die Hände geliefert, und ich kann an ihm den Wankelmut des Glücks und die Nichtigkeit alles Menschenhochmuts erkennen. Der Himmel , welcher alle gerechte Sache zu einem erwünschten Ende führt, hat mir, einer verwaisten Fürstin, starke Geduld, euch aber heldenmütige Kräfte, solches Werk auszuführen, verliehen. So saget mir denn", fuhr die erfreute Prinzessin weichherzig fort, "wer sind die siegreichen Helden, welche unsere und des Landes Not angesehen und uns mit des Himmels Hilfe aus den Händen dieses Tyrannen errettet haben!" Da antwortete ihr ein alter Ritter: "Durchlauchtigste Fürstin, es wäre unhöflich, den Namen so tapferer Überwinder und ihre Herkunft so würdiger Bitte zu verschweigen. Wisset denn, sie stammen aus Lusinia in Frankreich und sind zwei Brüder, der eine heißt Antonius, der andere Reinhard. Ihre Losung und ihr Feldgeschrei war das Wort Lusinia."

Die Prinzessin antwortete hierauf: "So danken wir denn dem gütigen Gott und jenen zugleich, daß sie solch Erbarmen an uns erwiesen, und weil wir durch diese mutigen Helden uns angstfrei und siegreich fühlen, so soll inskünftige nichts ohne ihren Willen und klugen Beirat von uns unternommen werden. Ja, alles, was der Himmel in meine Hände gegeben hat, soll zu ihren Diensten stehen." Dann befahl sie sofort, daß man beiden Siegern die besten Herbergen in der Stadt aufs reichlichste auszieren lasse, überdies für all ihr streitbares Volk Unterkunft bei den



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Bürgern bereitet werden sollte, damit, wenn sie eingezogen kämen, alles schon zu ihren Diensten in bester Bereitschaft stünde. So wurden die sechs Ritter von ihr in Gnaden entlassen, kamen in des gefangenen Königs Gezelt zurück, wo die zwei Brüder ihr Quartier genommen hatten, und erzählten, was ihnen begegnet. Kaum hatten sie den Bericht abgestattet; als schon Abgeordnete der Herzogin in dem Zelt ankamen, um die Brüder im Namen ihrer Gebieterin zu begrüßen und zum Aufbruch in die Stadt zu vermögen. Hier sahen sie das ganze Gezelt mit einer Menge der reichsten Beute von Silber, Gold, Kleinodien angefüllt; dies ließen jedoch die beiden Sieger meist unter ihr tapferes Volk austeilen und behielten das wenigste für sich selber.



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Auf der Abgeordneten inständige Einladung wurde hierauf zum Aufbruch geblasen und der Einzug in die Stadt angeordnet. Man bestellte Führer und Vorreiter, denen sofort fünfzehnhundert andere in schönem Ritte nachfolgten. Dann kamen die beiden Sieger nebeneinander auf buntgezierten Pferden und hinter ihnen die ganze Zahl ihres Volkes mit fliegenden Sanieren in schönster Ordnung. So ging der Zug nach der Stadt. Vor dieser wurden sie mit lieblicher Musik und allerlei Saitenspiel empfangen und ihnen für die Erlösung von der Macht der Feinde sogleich bei ihrer ersten Ankunft anstatt des Dankes ein lautschallendes Lebehoch von der ganzen Bürgerschaft zugerufen. Hierauf fanden sich zwei Abgeordnete, hohe Landesfürsten, ein, welche Reinhard und Antonius mit demütiger Verneigung freundlich empfingen, sie auf die Burg begleiteten und bei der Herzogin einführten.

"Seid willkommen, ihr meine sieghaften Erlöser!" rief die denselben entgegengehende Fürstin ihnen mit den liebreichsten Mienen zu, "und auch ihr, tapfere Mitstreiter dieser heldenmütigen Anführer, seid alle aufs herzlichste aufgenommen! Seid willkommen, rastet aus von eurer Mühe und seid fröhlich; ihr sollt bei einem Ehrenmahle alle eure Beschwerden mit einem Meere der Freuden abspülen!"

Unter allerlei Unterredungen und Glückwünschen wurden allgemach die Zurüstungen zu dem Bankette fertig. Man brachte das Handwasser in einem goldenen Becken. Die Speisen wurden reichlich aufgetragen und die werten Gäste zur Tafel geführt. Obenan gesetzt wurde der gefangene König, seine beiden Sieger kamen in die Mitte der Tafel zu sitzen, ihnen gerade gegenüber saß die Herzogin selbst. Nach ihr folgten abermals drei hohe Landesfürsten und verschiedene andere Kavaliere und Edle. Da gab



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es allerlei Freudengespräche und Gesundheitstrünke. Ein jeder erzeigte sich fröhlich, vor allen die beiden überwinder des gefangenen Königs. Dieser allein untermengte seine Reden zum öftern mit einem tiefgeholten Seufzer, ohne daß es, wie er meinte, jemand merken sollte; denn es ging ihm der Verlust seiner Leute und die kostbare Beute, die er dahintenlassen mußte, noch immer zwischen aller Fröhlichkeit zu Herzen.

Als nun endlich nach lang gehaltener Tafel die Tische wieder aufgehoben wurden und das Dankgebet gesprochen war, redete der König von Elsaß folgendermaßen zu seinen beiden Obsiegern: "Meine Herren! Nachdem ich heute durch des Himmels Fügung und meines widrigen Glücksterns Verhängnis euer Gefangener geworden und in eurer Gewalt bin, so werdet ihr auf die Bitte eines Königs nicht saumselig sein, mir anzuzeigen, welches Lösegeld ihr für mich verlanget, und zugleich dieses so bestimmen,



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daß es nicht über die Kräfte meines Reiches geht, wofür ich mich meinerseits auch gegen euch auf alle Weise erkenntlich beweisen werde." Die beiden Brüder gaben ihm in aller Höflichkeit folgende Antwort: "Zwar sei der König ihr Gefangener; doch hätten sie die freie Verfügung über ihn ganz der Herzogin eigenem Belieben anheimgestellt. Wie diese nun in solch wichtiger Sache beschließen und handeln möchte, das werde auch ihnen wohlgetan heißen. Anders gedächten sie sich nicht weiter darin zu verflechten." Kaum war diese höfliche Rede beendigt, als des Königs Angesicht erbleichte, wie wenn er von einem großen Schreck befallen wäre; denn er konnte sich wohl einbilden, daß er bei der Fürstin durch seine allzuharte Beängstigung und seine Gewalttätigkeiten wenig Gnade oder gütliche Milderung des schwersten Lösegeldes verdient hätte, obschon sie mit Worten sich anscheinend ziemlich freundlich gegen ihn erzeigte.



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Aber die kluge Herzogin, welche selbst zugegen war und alle solche Gespräche zur Seite mit anhörte, brach ganz entschlossen und großmütig mit dieser sehr gnädigen Rede hervor: "Ihr meine werten Erretter, ich danke euch nicht nur für eure getreue Hilfe, sondern überlasse euch auch, nach Willkür mit eurem Gefangenen als seine Überwinder zu verfahren." Wie der König dies hörte, bekam er seine natürliche Farbe wieder. Die Brüder aber erwiderten voll Edelmut und mit lauter Stimme: "Durchlauchtigste Fürstin, wir nehmen zwar das großmütige Geschenk einer Siegesbeute , die ganz und gar Euer ist, mit ehrfurchtsvollem Danke an, erklären aber, daß wir kein Lösegeld verlangen, sondern beiderseits auch unserem Gefangenen die Freiheit zum Geschenke machen, nur mit diesem einzigen Vorbehalte, daß der König Euch kniend seinen Dank sage, für alle Beleidigungen und Bedrängnisse, die er der erhabenen Herzogin zugefügt, ernstliche Abbitte tue, und künftig solches zu unterlassen, mit einem Eidschwur und schriftlicher Versicherung samt Unterschrift und Insiegel am gelobe."


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Nicht nur der Herzogin, sondern auch dem gefangenen König selbst schien diese Forderung gang billig und annehmlich, und er tat es auf der Stelle mit Freudigkeit und zum Vergnügen aller Anwesenden, indem er mit tiefer Verbeugung und demütigem Danke Abbitte leistete. Als er sich von der Erde erhoben hatte, ging der König erst noch mehr in sich und erwog die huldvolle Behandlung, die er von den zween tapfern Helden erfahren hatte, in deren Banden er sonst hätte verbleiben müssen. Er versprach ihnen deswegen treue Freundschaft und königliches Wohlwollen,



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um für keinen Undankbaren gehalten zu werden. Dann wandte er sich an die Herzogin, dankte auch dieser und riet ihr, sich mit dem Helden Antonius zu vermählen. Diese schöne Rede nahmen nicht nur die Räte und Landesfürsten mit großem Wohlgefallen auf, sondern auch die Herzogin selbst wies sie nicht ab; sie bedankte sich und gab durch eine Liebe lächelnde Miene zu verstehen, daß sie diesen wohlwollenden Rat in reiferes Bedenken ziehen wolle.


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Nicht mit Unrecht wird die Liebe einem Feuer verglichen. Jenes Wort des Königs von Elsaß bewährte genugsam diese Vergleichung. Kaum war es gesprochen, so fing das Fünklein schon an, in dem Herzen der schönen Herzogin Feuer zu fangen und wie in der Asche dermaßen zu glimmen, daß es mehr und mehr um sich griff und endlich in volle Flammen ausbrach. Die kluge Fürstin erwog reiflich, daß des Königs Wunsch, wenn er erfüllt würde, ihrem eigenen Lande nur gedeihlich und von großem Nutzen sein könnte. Daher ließ sie, als inzwischen der Held Antonius selbst um sie geworben hatte, die Vermählung ohne weiteren Aufschub vor sich gehen, um so mehr, weil dies ihren Räten selbst willkommen war und sie es dem Lande selbst für höchst zuträglich hielten. Daher wurden eiligst alle Vorbereitungen zu der Hochzeit gemacht und diese selbst gefeiert. Der König von Elsaß mußte dabei die Stelle eines hohen Ehrengastes bekleiden, und das Fest lief mit aller Vergnüglichkeit ab, nachdem eine große Zahl hochansehnlicher Gäste acht Tage lang es hatten feiern helfen und der König von Elsaß in den zur Hochzeitsfeier angestellten Turnieren sich aufs ritterlichste gehalten, auch einen Preis davongetragen hatte.

Es waren aber kaum die Tage der Fröhlichkeit zu Ende, da folgte auf die Freude schon wieder eine Schreckenspost; denn als sich bereits alles verabschiedete und die Gäste voneinander zogen, da kam ein eilender Bote aus Böhmen bei Hofe an. Dieser fragte nach dem Könige von Elsaß und begehrte, auf der Stelle vorgelassen zu werden. Nun übergab er dem König einen schriftlichen Bericht von seinen Brüdern und bekräftigte denselben mündlich dahin, daß die Stadt Prag von dein türkischen Großsultan mit einer gewaltigen Heeresmacht belagert und von allen Seiten eng eingeschlossen sei, auch keinen Ersatz zu hoffen habe. Der jetzt regierende König in Böhmen ersuchte daher seinen Bruder um schleunige Hilfe. Der König von Elsaß erschrak heftig über diesem Schreiben; er ließ es noch einmal laut ablesen und bat die beiden Heldenbrüder, Antonius und Reinhard, Mitleiden mit diesem Jammer zu tragen und zum Kennzeichen der



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neugeschlossenen Freundschaft seinem bedrängten Bruder, ihm zur Seite, mit vereinigter Heeresmacht zuzuziehen, damit das Land Böhmen vom Ruin errettet und dem allgemeinen Chrisienfeinde gesteuert würde. Dadurch würden sie ihren Heldennamen noch weiter kundmachen und sich Ruhm in aller Welt erwerben.

Nun wollte freilich den tapfern Helden Antonius seine Gemahlin in der ersten Flitterwoche aus glühender Liebe nicht von sich lassen, doch wirkte die dringende Bitte des Königs bei ihm so viel, daß er, von innerlichem Mitleiden getrieben, ihm versprach, sein treuer Bruder Reinhard müsse auf der Stelle mit einer stattlichen Anzahl tapferer Streiter aufbrechen: sollte es dann die höchste Not erfordern, und die vereinigte Macht des Königs und seines Bruders noch nicht hinreichen, so wollte auch er auf die Kunde davon ihnen mit seiner eigenen Person und einem neuen Heere eilends kräftigen Beistand leisten, damit sie sobald als möglich Sieg und Ehre wider die ungläubigen Heiden erhalten möchten.

Da brach vor großer Freude der getröstete König von Elsaß in das Versprechen aus: sein Bruder in Böhmen, sonst ein sehr mächtiger König, habe eine einzige Tochter; weil nun derselbe ein reicher und gar alter Herr sei, so wolle er selbst es vermitteln, daß Reinhard durch seine Hilfleistung die königliche Prinzessin und nach ihres Vaters Tode die Krone von Böhmen als ein ehrwürdiger Regent aus den Händen der Stände davontrage. Die Herren von Lusinia sagten ihm dafür ehrerbietigen Dank und waren um so begieriger, Sieg und Ehre einzulegen. Von Stund an boten sie allem Volke auf, der König mit Reinhard eilte über den Rhein und hatte keine Ruhe, bis er auf böhmischem Boden war. Aber da standen die Feinde in unglaublicher Menge, so mächtig und stark, daß sie allein sie nicht bekämpfen zu dürfen glaubten. Deswegen sandten sie einen Eilboten an den Herzog Antonius ab mit der dringenden Bitte, sich auch an die Spitze seiner Heeresmacht zu stellen und den Sieg befördern zu helfen.

Infolge dieser Nachricht traf Antonius alle Anstalten, verabschiedete sich von seiner geliebten Gemahlin und brach zur Rettung der Christenheit, und besonders des Königs von Böhmen, mit einem Gefolge von mehreren tausend Streitern auf. Er hatte viele mutige Bretagner und einen guten Teil tapferer Luxemburger bei sich, so daß die beiden Brüder ohne das wehrhafte Volk des Königes allein über vierzigtausend Mann stark waren. Als nun Antonius bei den andern Hilfsvölkern anlangte, da begann den Türken etwas bänglich zu werden; sie erwarteten keinen geringen Kampf.

Indessen betete die fromme Herzogin Christina von Luxemburg fleißig



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für das Wohlergehen ihres Herrn, und in dem ganzen Lande bat alles Volk in den Kirchen um Glück für seines Königs Waffen. Auch hatte die Fürstin ihren Gemahl gebeten, ihres seligen Vaters, einst eines tapfern und siegreichen Helden, Schild, Helm und Panzerkleid nie von sich zu lassen, dabei auch sein Wappen zu führen. Sie hatte aber von Antonius hierüber den Bescheid erhalten, sie sollte ihr liebes Herz unbekümmert lassen ; denn er habe schon von seinem Vater ein angeerbtes Wappen, welches ihm nicht zu verlassen gebühre. Auch habe ihn die gütige Natur selbst gleichsam mit einem Wappen und besondern Kennzeichen, nämlich mit einem Löwengriff in seiner Wange, von der Geburt an bezeichnet, wodurch er schon von viel Tausenden unterschieden und mit Verwunderung erkannt worden. Deswegen wolle er auf seinem Helm einen Löwen zur Losung führen und auch ihrer beiden Wappen zum Andenken einen Löwen beifügen lassen.

So vertröstete beim Abschied Antonius seine Geliebte und war willens, eine schöne Palmenernte unter den Feinden abzuhalten. Sobald er sich nun auf böhmischer Grenze befand und dem Lager nahekam, auch das Gerücht von so trefflicher Mannschaft, die heranziehe, unter den Feinden erscholl , da vergrößerte sich ihr Schrecken noch mehr, und sie dachten wohl, daß es nunmehr scharf hergehen würde. Der König von Elsaß aber, als er sah, daß seine Fürbitte einen so guten Erfolg habe, war vor Freuden außer sich und eilte dem Helden Antonius auf etliche Meilen weit entgegen. Er dankte beiden Brüdern für ihre Nothilfe aufs herzlichste und äußerte alle Zuversicht auf einen glücklichen Ausgang. Nun wurden herrliche Zelte bereitet und den umliegenden Ortschaften der ernstliche Befehl erteilt, beide Herren und all ihr Volk aufs beste zu bewirten. Alles stand ihnen offen, in allen Städten, wo sie durch- oder einzogen, wurden sie mit höchster Freundlichkeit bewillkommt, und bei ihrer Ankunft jubelte das Volk ihnen zu: "Hier kommen unsere Erlöser. Seid willkommen, ihr tapfern Erretter des Reiches Böhmen ! Helfet uns, daß wir nicht in der Ungläubigen Hände geraten!"

Endlich langten sie vor Prag und im Angesichte der Feinde an. Zu allem Unglück aber waren die Ungläubigen zwei Tage vorher durch Eilmärsche der Stadt, die sie schon lange berennt hatten, noch viel näher gerückt und hatten sich den besten Platz zum Sturme ausersehen. Der König von Böhmen nun, welcher in der Stadt Prag eingeschlossen war, als er sich einerseits von so mächtigen Feinden, ja dem türkischen Sultan selbst mit einem so gewaltigen Kriegsheere beängstigt andererseits mit schutzfertigen



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Freunden —dem König von Elsaß und den zwei Herren von Lusinia, deren gesamte Macht den Türken wenig nachzustehen schien — umgeben und getröstet sah, fühlte seinen Mut wieder etwas wachsen; auch wollte er zeigen, daß er von Gemüt und Geblüt ein tapferer König sei und sich noch wohl getraue, eine Heldentat auszurichten, wie sie Königen gezieme. Als daher der türkische Kaiser einst mit großem Prahlen vor die Stadt ritt, die Belagerten herausforderte und ihnen zum Schimpf sein Panier aufsteckte, wollte der König solchem Hochmut nicht länger mehr zusehen, sondern nahm eine Anzahl seiner Reiter und streitbarsten Männer, sowohl edle als unedle, zu sich; die wappneten sich mit Schild und Helm, ließen sich das Tor öffnen und zogen, der König an der Spitze, auf des Himmels Schutz vertrauend, den Türken zum Trotz hinaus.

Alsbald entspann sich ein lebhaftes Scharmützel; sehr viele Türken stürzten zu Boden; es war eine rechte Lust, wie die Christenschwerter unter den Ungläubigen obsiegten und deren Köpfe gleich Krauthäuptern von ihren Rümpfen abhieben, als wären sie nie festgestanden. Die Türken wehrten sich aber verzweifelt, und am Ende fand es sich doch, daß die Christen zu einem solchen Ausfalle zu schwach waren. Sie zogen sich daher in guter Ordnung, nach errungenen Vorteilen, sieghaft zurück und ließen, ohne einen Mann verloren zu haben, der Türken Leichen auf der Walstatt liegen. Der König selbst, welcher bisher wie ein mutiger Löwe unter lauter Tigern und Panthertieren gefochten hatte, wollte unerachtet der Einsprache seiner Leute mit diesem Siege nicht zufrieden sein, sondern hieb, wie einem tapfern Helden zusteht, noch immer auf dem Rückzuge um sich, erlegte mehrere Feinde mit eigener Hand, wurde aber zuletzt mit einem sehr spitzen Pfeil, der vergiftet war, von einem türkischen Schützen, die man Janitscharen nennt, zwischen den Panzer getroffen und so verwundet, daß das Gift durch die Wunde in das Herz drang und er daher seines Lebens verlustig werden mußte.

So ward bei den Böhmen die Freude jählings in Leid verkehrt; und sobald sie alle es gewahr wurden, erhub sich von klein und groß eine jammervolle Klage. Die Türken aber, als sie solches sahen, wurden darüber nur noch mehr hochmütig und bildeten sich gewaltige Taten ein, die sie getan hätten und noch verrichten wollten, gedachten auch, den Belagerten alles mögliche Leid und allen Schimpf anzutun. Aber es gedieh ihnen schlecht, es begann damit nur ihr größeres Unglück; denn die Rache Gottes brach über die wütenden Hunde aus. Inzwischen zogen die Böhmen aus der Stadt, ihren erlegten König hereinzubringen, und die Barbaren streckten



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in solchem Leidwesen gar viel streitbare Ritter darnieder. Immer mehr wuchs der Verlust so tapferer Helden und machte die in der Stadt eingeschlossene Prinzessin, die der Tod ihres Vaters aufs tiefste gebeugt hatte, noch wehmütiger und herzleidsvoller, besonders als sie und alles Volk in der Stadt sehen mußten, wie die Türken vor den Toren ein großes Feuer anschürten, die Leichname der Christenhelden darauf warfen und unter Jubelgeschrei von der Flamme verzehren ließen. "Ach, trostlose Eglantina", sprach sie zu sich selbst unter Tränen und Seufzen, "wie kannst du solchen Jammer ansehen, ohne dich von der Mauer hinabzustürzen und so deinen toten Vater ins Schattenreich zu begleiten? Bekränzet man also die sieghaften Helden? Geht man so mit Kron- und Zepterträgern um? Brecht hervor, ihr Tränen, löschet, wenn es möglich ist, die mörderische



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Flamme mit eurem heißen Strome aus! Soll ich nun zur verlassenen Waise gemacht und der Thron meines Reichs seines vortrefflichen Herrschers beraubt sein? Sollen die Ungläubigen ihr Siegesbanner auf meinen Mauern aufpflanzen und ihre Waffen unter den Stadttoren anlehnend Ach, höre mich, gütiger Himmel, und laß nicht zu, daß dieses verkehrte türkische Volk über das Häuflein starkmütiger Christen herrsche!"

Also seufzte die Betrübte und mit ihr alle Einwohner der Stadt, so daß man die Wehklage weithin erschallen und im türkischen Lager selbst hören konnte.

Inzwischen hatten sich die mutigen Christen jenseits der Hauptstadt, bewogen durch das klägliche Jammergeschrei, das aus der Stadt herübertönte , endlich mit ihrer großen Heeresmacht in völlige Schlachtordnung gestellt; auch ihr ganzes Volk in drei Heerhaufen eingeteilt und kamen nun mit hitzigen Schritten auf die Feinde losgezogen. Alles war mutig und munter vor Begierde, die Stadt nur recht bald von ihren grausamen Stürmern befreien. Vorher hatten sie einen Eilboten abgefertigt, der sich mit kluger List nach Prag hereinschlich und den Bürgern die angenehme Kunde der herannahenden Errettung brachte. Sobald dieser Bote die Stadt betreten, fing er überlaut an auszurufen: "Getrost, ihr beängstigten Bürger, seid männlich und gutes Muts; ich bin ein Bote der Freuden. Der Himmel hat euer Elend angesehen, und eure tapfern Erretter gehen bereits auf den Feind los. Der König von Elsaß und der Herzog von Luxemburg mit Meinhard von Lusinia werden in kurzem die siegreichen Überwinder und eure Rächer an den Feinden genannt werden."

Diese angenehme Zeitung machte die Einwohner mitten in ihrer Betrübnis wieder fröhlichen Mutes. Der Bote erzählte ihnen auch alles, was sich Denkwürdiges vor Luxemburg begeben, wie der König von Elsaß seiner Bande erledigt worden und der tapfere Antonius nunmehr Herzog von Luxemburg sei. Hierauf begaben sie sich auf die Mauer, ein jeder mit guter Wehr versehen, und fochten so mannlich von den Zinnen herab, daß die staunenden Türken selbst den Rückzug von den Mauern nahmen, indem sie untereinander sprachen: "ES ist nicht möglich! Der Böhmen Gott streitet selbst für sie, oder sie haben einen großen Entsatz bekommen!" Während sie sich noch so untereinander wunderten, siehe, da kam ganz schnell aus der Heiden Gezelten einer dahergerannt voll Entsetzen und großen Geschreis: sie sollten auf der Stelle von dem Stürmen ablassen und sich in ihr Lager zurückziehen, wenn sie nicht alle des Todes sein wollten.



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Dazu rief er: "Ich sehe, dicht wie eine Nebelwolke, fremdes Volk zum Entsatz der Christen auf uns daherrücken. Sie werden uns gewiß wie eine Flut überfallen!"

Auf dieses Geschrei zogen die Türken eilig zurück und stellten sich in Schlachtordnung. Von beiden Seiten hörte man die Trompeter blasen. Die tapfern Christen gingen wie Löwen auf die Türken los, zertrennten ihre Reihen, fällten eine große Menge derselben, durchstachen ihnen Schild und Helme; besonders ließ sich der edle Held Reinhard von Lusinia als ein tapferer Vaterlandsverfechter vor allen andern Kämpfern sehen, und sein Bruder Antonius gab ihm an Heldenmut nichts nach. Auf solche Weise fingen die Ungläubigen an, sehr schwach, die Christen aber, immer mutiger zu werden, so sehr, daß sie einander zuriefen: "Seid Männer und erleget eure Feinde! Auf, ihr Brüder, der Sieg ist in unsern Händen!"Der Sultan, der dies hörte und die Niederlage seines Volkes anschaute, gebärdete sich wie unsinnig, griff nach den Waffen, erhob sich aus seinem Zelte und rasete selbst unter die Christen, deren er auch in seiner Wut sehr viele erlegte.

Reinhard aber, der muntere Held, als er den Sultan erblickte, griff zum Schwert und rannte auf ihn mit gesporntem Rosse los. Es geriet ihm auch so glücklich, daß er dem türkischen Kaiser den Kopf in der Mitte voneinander spaltete und so den wütenden Heidenhund in den Staub streckte. Da die Türken gewahr wurden, daß ihr Oberhaupt gefällt sei, ergriffen sie die Flucht in unordentlicher Hast. Aber Reinhard, Antonius und der König von Elsaß setzten ihnen nach, erlegten ihrer viele ritterlich auf der Flucht und erjagten den Sieg mit höchstem Ruhme. Nach ihrer glorreichen Zurückkunft erfuhr der König vom Elsaß erst, daß der Sultan seinen Bruder getötet und vieler Helden Leiber habe verbrennen lassen. Da ließ er auf der Stelle einen großen Holzstoß zusammentragen und also seine Rache vollziehen. Die Leichen sämtlicher gefallenen Türken, und darunter der Sultan selbst, wurden auf den Scheiterhaufen geworfen, auf daß sie ebenso von der Flamme verzehrt und zu Asche verbrannt würden. So endete die Türkenniederlage und wurde Prag von der feindlichen Belagerung erledigt.

Nach diesem rühmlichen Siege, als die Türken bereits fern waren, faßten die beiden Heldenbrüder festen Fuß in dem feindlichen Lager und bedienten sich, den Ungläubigen zum Spott, ihrer hinterlassenen Gezelte. Der König vom Elsaß aber begab sich in die Stadt Prag hinein und besuchte die verwaiste Königstochter, seine Nichte. Diese ging ihrem königlichen



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Oheim entgegen und bedankte sich, wiewohl in gar tiefer Betrübnis, bei dem Könige selbst und den zahlreichen Helden, die in seinem Gefolge waren. Der König dagegen sprach ihr freundlichen Trost ein und klagte zugleich mit ihr um den Verlust desjenigen, der sein Bruder und ihr und des ganzen Landes Vater gewesen war.

Hierauf wurde die Leiche des Königs mit feierlichem Glanze begraben. Alle Feldhauptleute, und was sich in dem von den Feinden verlassenen Lager befand, erschienen in gewohnter Trauerkleidung; die beiden Brüder von Lusinia wurden von allem Volke der Stadt mit Verwunderung betrachtet als zwei so löwenmutige Helden, besonders aber Antonius, der den Löwengriff auf der Wange zum Wahrzeichen mit auf die Welt gebracht hatte. An Reinhard aber wurde seine königliche Haltung und Miene bewundert und daher von dem Volke geschlossen, daß diesem majestätischen Manne wohl noch eine Krone blühen könnte. Während sie nun so die Helden anstaunten, nahm das Trauergeleite ein Ende.

Dann ließ der König vom Elsaß alle Großen des Landes und den gesamten Adel von Böhmen vor sich rufen und stellte ihnen in einer beweglichen Rede vor, was dem Vaterlande not täte. "Geliebte Herren und Edle", sprach er, "treue Freunde meines in Gott ruhenden Bruders, euch allen ist der leidige Trauerfall, der dieses Königreich zur Waise gemacht hat, wohlbekannt. Deswegen ist vonnöten, damit das Reich nicht ohne Vater sei und der Thron seines Königes beraubt stehe, auf die Wiederbesetzung bedacht zu sein. Weil nun mein glorwürdiger Bruder eine einzige Erbin als eure Gebieterin hinterlassen hat, so siehet zu raten, was ihr für das Beste des böhmischen Reiches und der Krone halten werdet."

Die Ritterschaften und der ganze Reichsadel dankten in Untertänigkeit dem Könige für diese getreue Vorsorge, mit dem Beisatze, daß sie keinen bessern Rat wüßten, als es Seiner Majestät zur eigenen freien Verfügung anheimzustellen und die Sorge für des Landes Wohlfahrt zu überlassen . Sie versicherten dies alle einstimmig und bekräftigten ihre Willfährigkeit mit einer tiefen Verneigung. "Gut", versetzte darauf der König, "weil ihr denn dies Vertrauen zu uns gefaßt habt, so finden und wissen wir keinen Tauglichern, diese Thronschwelle zu betreten und das Zepter des Reiches zu tragen, zugleich als Versorger der königlichen Erbin einzustehen , als den großmütigen und um das Reich durch erfochtene Siegesehre unsterblich verdienten jungen Helden, Grafen Reinhard von Lusinia. . Er ist es, welchen wir als neuen Zepterträger und sorgsamen Landesvater,



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wenn eure Einwilligung ihm zuteil wird, erkennen und hiermit empfohlen haben wollen."

Jauchzen und Frohlocken ertönte aus der Mitte der Landesstände auf diese willkommene Erklärung des Königs, und auch das gemeine Volk jubelte über einen so männlichen Beschluß. Die ganze Stadt erscholl von einem Freudenrufe, daß sie einen so schönen und großmütigen König haben sollten. Auch die vortreffliche Prinzessin war außer sich vor Freude, so sehr hatte die Liebe ihr Herz eingenommen. Herzog Antonius dankte hierauf zuerst für die Ehre, die seinem Bruder Reinhard widerfuhr. Dieser aber stattete ganz fröhlich seinen eigenen Dank ab und versprach feierlich , daß er jederzeit als ein sorgender Vater des Reiches sich erweisen und mit Maß und Gelindigkeit regieren wolle. Er wurde auch von jedermann wegen der Krone beglückwünscht, die sein Haupt zieren sollte, und alles wünschte, daß er nur recht bald die Regierung antreten möchte. Und so wurde nach Gottes wunderbarer Schickung Reinhard mit einem Königreich und einer schönen Königstochter als Gemahlin, das Reich aber mit einem zepterwürdigen Helden begabt.

Als alle hochzeitlichen Freuden zu Ende waren, trat Reinhard seine Regierung an, tat sich von Tag zu Tag immer mehr hervor mit liebreicher Vatertreue und Beglückung seines Landes und erwies sich als einen recht großmütigen Regenten; brachte auch eine Menge Landschaften, dazu das ferne Königreich Dänemark, in seine Gewalt, so daß jedermann von diesem heldenmütigen Fürsten nicht genug zu rühmen wußte.

Herzog Antonius von Luxemburg aber begab sich nach beendigten Hochzeitsfeierlichkeiten , als auch der König vom Elsaß Urlaub nahm und sein Kriegsvolk mehrenteils verabschiedete, zurück in seine neue Heimat, nach Luxemburg. Hier blieb er bei seiner geliebten Gemahlin, welche ihm zwei schöne Prinzen zur Welt gebar, von welchen der eine Bertram, der andere Loyers genannt wurde. Eine lange Zeit lebten sie so in Liebe miteinander. Dann unternahm der Herzog einen Krieg gegen den mächtigen Grafen von Freiburg und zog in der Folge auch gegen Östreich, wo er sich verschiedener Orte und Landschaften bemächtigte. Das alles ging ihm aufs glücklichste vonstatten. Sein älterer Sohn Bertram tat sich mit den mannbaren Jahren auch hervor und erhielt des Königs von Elsaß eine Tochter zur Gemahlin, wodurch er nach ihres Vaters Tode zum Throne gelangte. Der andere Sohn Loyers wurde auch ein wackerer Held; er ward als Mann groß in der Dordogne, baute das Schloß von Jaly und später die schöne Brücke von Mallières und verrichtete allerlei ritterliche Taten.



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Nun wollen wir uns zu Raimund und Melusina zurückwenden und von dem Schicksal ihrer übrigen Kinder Meldung tun. Jene beiden gingen ihren Söhnen mit den schönsten Tugenden als leuchtende Nuhmfackeln voran, und der Vater eroberte fast das ganze französische Land nach der einen Seite bis gegen Bretagne hin. Sein Sohn Geoffroy, der den großen Zahn mit auf die Welt gebracht hatte, erwies sich ebenfalls sehr tapfer . Denn als ein schreckliches Gerücht erscholl, daß in dem Land Garande sich ein entsetzlicher Riese aufhalte, der Land und Gegend bis an die Stadt Rochelle, die von Melusina erobert war, verwüste; da erbot sich der frischmutige Ritter Geoffroy, Lande Heil und Rettung zu verschaffen. Sein Vater hörte dies nicht gern: er fürchtete, der Riese möchte ihm zu stark sein und ihn überwältigen. Aber der junge Held beharrte auf seinem Entschlusse, ließ sein mutiges Roß satteln und zäumen und ritt in die Landschaft Garande, dem ungeheuren Riesen den Hals zu brechen.

Inzwischen war auch der jüngste Sohn Melusinens, Freimund, herangewachsen, ein Jüngling von stillem Gemüte und andächtigen Sinnen, gelehrt und ein Liebhaber des geistlichen Standes. Dieser besuchte aus freier Lust öfters das Kloster zu Mallières und empfand endlich ein lebhaftes Verlangen, in den Orden der Mönche aufgenommen werden, auch sein Leben in gedachtem Gotteshause zu beschließen. Er entdeckte diese Neigung seines Gemütes beiden Eltern, die ihm die Heldentaten seiner Brüder und die Ehrenstufen, welche diese erreicht hätten, zu bedenken gaben, und das junge Blut auf andere Gedanken zu bringen bemüht waren, daß er auch nach dergleichen Weltwürden streben sollte. Aber keinerlei Weltlust noch Liebe zu Heldentaten vermochte das junge Herz von seiner stillen Liebe zu Gott und seinem heiligen Dienste abwendig zu machen.

Da nun weder Vater noch Mutter ihren jungen Sohn Freimund bewegen konnten, von seinem Vorhaben abzustehen, ließen sie ihm endlich seinen Willen und stellten verschiedene geistliche Orte in seine Wahl, auch Domherrnstellen und Bistümer in Aussicht. Aber Freimund blieb bei seiner ersten Erklärung: er wollte nichts anders als ein Mönch im Kloster zu Mallières werden und Gott lieber in Demut als in hohen Würden dienen. Darauf folgte bald sein Eintritt in den Orden, worüber die Mönche sich sehr erfreuten, wiewohl ihnen diese Aufnahme des Grafen in ihre Mitte nicht so gedeihlich war, als sie vermeinten, sondern zu ihrem großen Herzeleid ausschlug.

Mittlerweile, während sich die beiden sonst glückseligen Eltern so heimlicherweise



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betrübten, kam ihnen, als sie gerade Favent Hof hielten, durch einen Eilboten die frohe Nachricht von dem Sieg ihrer beiden Söhne, Antonius und Reinhard, vor Luxemburg und Prag, wie der erste das Herzogtum, der andere die böhmische Krone und beide so schöne und reiche Fürstentöchter zu Gemahlinnen davongetragen. Es läßt sich kaum denken, welche Freude und Sänftigung ihrer Betrübnis diese Botschaft beiden Eltern verursachte. Sie dankten Gott von ganzem Herzen für diese Wunderschickung und waren es nun auch zufrieden, bei drei gekrönten Königen und einem Herzog einen Mönch in ihrem Geschlechte zu haben, der für sie alle beten könnte, damit die übrigen Kinder ebenfalls wohl geraten und zu so hohen Würden sprossen möchten.



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Gleichwie aber das Leid die Freude auf der Welt gemeiniglich zu begleiten oder ihr doch auf dem Fuße zu folgen pflegt, so geschah es auch hier. Und wie vorher das wunderbare Glück, so fing auch das Unglück diesmal zuerst von den Eltern an. Es hatte nämlich eines Sonnabends ganz von ungefähr der Vater Raimund seine Melusina aus den Augen verloren. Weil er ihr aber durch ein teures Gelübde versprochen hatte, an keinem Sonnabend ein Wort mit ihr zu wechseln oder auch nur nach ihr zu fragen, so machte er sich keine argen Gedanken darüber, daß er nicht wußte, wo sie war. Nun fügte es sich aber in der gedachten Zeit, daß eben der alte Graf vom Forst, Raimunds Vater, mit Tode abgegangen und der ältere Bruder Raimunds nach Lusinia kam, um diese Trauerpost zu überbringen . Der mit vielen hohen Herren ankommende Freund wurde nach Würden empfangen und ihm alle Ehre angetan.


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Weil es aber eben ein Sonnabend war, so vermißte der Graf vom Forst seine Schwägerin Melusina und bat seinen Bruder mit freundlichen Worten: "Lasset mir nach Belieben auch Eure Gemahlin erscheinen, lieber Bruder, daß wir ihr die gebührende Ehre erzeigen können!" Nun erwiderte ihm zwar Raimund mit aller Höflichkeit und aufs bescheidenste, daß es diesmal nicht möglich wäre, aber morgenden Tages geschehen solle. Der Graf wollte sich jedoch so schlechtweg damit nicht begnügen, sondern führte während der Mahlzeit seinen Bruder beiseite und sagte ihm leise ins Ohr: "Lieber Bruder, mich dünkt, Ihr seid verzaubert! Das ganze Land hegt auch diese Meinung von Euch. Wie könnet Ihr so geduldig sein und gar nicht nach dem Tun und Lassen Eurer Gemahlin fragen! Meinet Ihr, daß Ihr Ehre davon habt und nicht allmählich bei dem Volke ein Verdacht entstehe über einen so seltsamen Lebenswandel? Es ist ja bekannt



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genug, daß Eure Frau ein offenbares Gespenst ist, das nur Abenteuer mit Euch spielt!"

Zorn und Ingrimm erfüllten die Seele Raimunds bei diesen Worten, er ward blaß und wieder rot: der Schimpf, den er erfuhr, machte, daß er seine Besinnung verlor; voll Rachwut ergriff er das beste und größte Schwert und drang damit in das Geheimzimmer seiner Gemahlin. Hier Süess er aber auf eine wohlverwahrte, mit Eisen beschlagene Türe, die sich gleichsam seinem Grimme zu widersetzen und ihn zum Bewußtsein zurückzurufen schien. Aber der rasende Verdacht kehrte immer wieder, und wenn er auch nicht an das Gerede glaubte, dessen sein Bruder erwähnt hatte, so vermutete er dafür nichts Besseres und gab böslichen Gedanken an die



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Untreue seiner Gattin Raum. Er bohrte daher mit seinem spitzen Schwert ein Loch durch die Türe von Eichenholz und blickte mit finsterem Auge hinein, um sein eigenes Unglück zu schauen.

Zu seinem ungeheuern Schrecken sah er seine Gemahlin mit ganz verwandelter Gestalt in einem Wasserbecken sitzen. Das Gesicht und die obere Hälfte des Leibes war wunderbar schön, aber von der Hälfte abwärts ging sie in einen langen und mißgestalten, recht schlangenartigen Schweif aus: der glänzte wie Lasurblau, mit Silber vermengt. Raimund stand vor der Türe, ihn überlief der kalte Schweiß, die Bangigkeit wollte ihm das Herz sprengen, er konnte nichts sagen und nichts denken. Doch fiel ihm endlich das teure Versprechen ein, das er seiner Gemahlin getan und jetzt im Zorn so kaltsinnig gebrochen hatte. Er verklebte daher das Loch, das er mit seinem Schwerte gebohrt, mit Wachs und schmeichelte sich mit der Hoffnung, Melusina werde seinen Treubruch nicht wahrgenommen haben. Dann verließ er mit heimlichem Grimm und in tiefer Schwermut ganz stillschweigend das Vorgemach und verfügte sich wieder zu seinem Bruder. Aber er konnte sich nicht so verstellen, daß dieser an Miene und Farbe keine Veränderung an ihm bemerkt hätte und nicht der Gedanke in ihm aufgestiegen wäre, Raimund müsse seine Gemahlin auf irgendeiner bösen Tat ergriffen haben. Er sprach deswegen ohne Scheu zu ihm: "Lieber Bruder, ich merke wohl, daß Ihr mit Eurer Gemahlin betrogen seid!" Raimund aber, um seinen Kummer noch mehr zu verbergen, erwiderte darauf ganz entrüstet: "Ihr irret Euch; man versuche nicht, die Ehre meiner Gemahlin zu beflecken, es sei denn, daß einer Lust habe, sich eine unglückselige Stunde auf den Hals zu hürden! Ihre Frömmigkeit leidet keine solche Beschimpfung, wie Ihr Euch deren schon zuviel gegen sie erlaubt habt! Darum eilt aus meinem Angesicht und reizet nicht ferner meinen Zorn, so lieb Euch Euer Leben ist! Denn Eure Gegenwart ist mir verdrießlich und ein Pfeil in meinem Herzen!"

Der Graf, der den Raimund in seinem Gemüt so berückt sah, schwang sich in höchster Bestürzung eilends wieder zu Pferd, indem es ihm sehr leid tat, durch ein einziges Wort solchen Zorn auf sich geladen zu haben. Indessen nahm bei Raimund die schmerzliche Betrübnis darüber, daß er seinem Gelübde entgegengehandelt hatte, innerlich immer mehr überhand; denn er konnte leicht bei sich die Rechnung schließen, daß seine Melusina sich ihrer Drohung gemäß nun gänzlich von ihm verlieren und er ihrer nicht mehr ansichtig werden würde. Dies alles ging ihm sehr zu Herzen, und er brach in seiner Einsamkeit in bittere Klagereden aus: "Unglück



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seliger Raimund", sprach er zu sich selber, "warum verfluchst du nicht die Stunde deiner Geburts Nur darum bist du zu solchem Glück erhoben worden, damit du jetzt desto tiefer fallest! So soll ich mir denn durch meine eigene Schuld die größte Freude meines Lebens für die Zukunft entzogen sehen, sie, die ich wie meine Seele geliebt?" So warf er sich im äußersten Unmut auf sein Lager. Aber die Zährenflut die er vergoß, verschaffte seinem geängsteten Herzen keine Ruhe. Von Liebe und Ungeduld gepeinigt; rief er aufs neue aus: "Melusina, mein einziges Ergötzen, einziger Trost meines Lebens, du Schöpferin meines Glücks, wenn ich dich verliere, so verliert sich auch meine Freude. Soll ich aber ohne dich so einsam leben, so will ich mich lieber in die Einöde verbergen!" Und so währten seine Klagen den ganzen Tag und die schlaflose Nacht hindurch; doch, sooft er sein schon ausgeweintes Haupt umkehrte, so wollte immer die Trauer aus dem betrübten Herzen nicht weichen, bis endlich der erwünschte Sonntag zu seinem Troste wiederanbrach.

Nun ging ihm die Freudensonne wieder auf, und der Stern seines Glückes begann wieder heller zu werden; denn die Kammertüre öffnete sich, und Melusina trat mit dem gewohnten freundlichen Herzgruße vor ihn in aller ihrer menschlichen Schönheit. "Mein Geliebter", sprach sie, "welche Schwermut hält Euer Herz befangene Was ruht für eine Wolke auf Eurer Stirne? Entdecket mir Euer Anliegen, damit ich Euch helfen kann!" Wer war fröhlicher als Raimund, da er solches hörte! Er glaubte, Melusina habe keine Ahnung davon, daß er die Türe durchbohrt und sie in ihrem unnatürlichen Zustande gesehen habe. Er erwiderte daher: "Nur Eure Abwesenheit hat eine so große Sehnsucht nach Euch in mir erregt, so daß ich mich noch matt und schlaflos befinde. Aber Eure liebe Gegenwart, mein bester Arzt, wird diese Betrübnis schon von mir verscheuchen! Ich fühle gar nichts mehr, und mir ist sehr wohl!" Melusina aber wußte alles, was geschehen war. Sie mußte bei sich selber lächeln, daß Raimund seinen Fehler so gut zu beschönigen und sich anzustellen wußte, als wenn er nicht das geringste wahrgenommen hätte.



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Während dieses in Lusinia vorging, war Geoffroy auf der Fahrt nach dem Niesen und fragte allerorten seinem Aufenthalte nach, bis er endlich erfuhr, daß sich derselbe auf einem sehr festen Schloß aufhalte und sein Name Gedeon sei. Es fügte sich auch so glücklich, daß Geoffroy ohne allen Anstoß durch fleißiges Nachforschen in die Nähe des Platzes gelangte . Da sprang er vom Pferde, waffnete sich mit Harnisch, Helm,



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Schwed und herrlichem Goldschild, nahm einen trefflichen Speer zur Sand, schwang sich wieder auf sein mutiges Roß und ritt so dahin. Alle Umstehenden, welche die freudige Zurüstung des jungen Herrn mit ansahen, gönnten ihm zwar von Herzen den Sieg und sahen seinen Feuergeist genugsam aus seinen Mienen hervorblicken; doch waren sie von Herzen betrübt; und jedermann sah ganz traurig aus; denn das Erkühnen kam ihnen sehr zweifelhaft vor, wenn sie bedachten, daß der junge Ritter seiner Größe und Stärke nach nur wie ein Kind jenem Ungeheuer gegenüber anzusehen sei. Weil er sich aber nicht abhalten ließ, so hießen sie ihn unter vielen Glücks- und Segenswünschen seinem Vorhaben nachziehen . Er aber, statt durch den Jammer des Volks weich und verzagt zu werden, tröstete noch die Betrübten und sprach sie mit munterer Rede an: "Seid getrost und bekümmert euch nicht! Ich reite dahin, Ehre einzulegen , dem Lande Heil zu verschaffen, eure Furcht und euren Schrecken auszutilgen und mit des Himmels Hilfe das Ungeheuer zu besiegen." Damit rief ihm alles Volk ein segnendes Lebehoch unter des Himmels Geleite zu und sah ihm zwischen Hoffnung und Kummer geteilt nach.

So ritt Geoffroy in mutigem Verlangen bis vor die Brücke des Schlosses, in welchem der Riese war. Er sah sich zuerst vorsichtig um, wo er sich befände, dann fing er mit heller Stimme zu rufen an: "Wo hifi du, schändlicher Bösewicht, welcher mein Land also verwüstete Hier steht dein Bestrafer und der Rächer deiner Verbrechen, welcher dich mit Gottes Hilfe dem Tode auszuliefern entschlossen ist. Heute, du Bluthund, sollen dein Blut die Hunde lecken, deine ganze Macht soll sich zur Erde strecken!" Kaum hatte er diese Aufforderung beendigt, als der grausame Riese schon zuoberst im Schlosse das Fenster öffnete. Sein Haupt übertraf an Größe bei weitem den größten Büffelskopf; er sah den jungen Ritter und verwunderte sich, daß er so ganz allein und ohne Begleitung zu ihm käme; darüber begann er zu lachen, schüttelte mit spöttischen Mienen seinen Dickkopf und rief aus dem Fenster herab: "Woher so allein, du Kleiner? Suchest du deinen Tod und bist du deines Lebens müde? Fast schäme ich mich, dich aus der Welt zu fördern; doch weil du es also haben willst, so bin ich bereit, deine Vermessenheit zu strafen!"

Hierauf nun zog der Riese schnell seinen Hamisch an und stellte sich mit einem stählernen Schilde, drei eisernen Stangen und drei Hämmern, die er an die Brust steckte, vor das Schloß heraus. Seine Länge war fünfzehn Schuh; dennoch vermochte sie nicht, dem unverzagten Geoffroy nur das geringste Entsetzen einzuflößen, sondern er verwunderte sich nur, daß



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ein so ungeheures Menschenbild auf Erden leben könne; indessen machte er sich alles Ernstes, aber auch freudig auf den Streitplatz. Da fragte ihn der Riese, wer er sei. "Ich bin Geoffroy mit dem Zahn", erwiderte jener, "und bin gekommen, dich noch heute zu töten."

Gedeon, hierüber lächelnd, antwortete: "Mich jammert deines Persönchens, du Kleiner, daß ich dich mit einem einzigen Streiche töten soll. Besinne dich auf einen ansehnlicheren Menschen, mit mir zu kämpfen. Du aber rette wieder nach Haus und freue dich deiner Jugend; denn für diesmal ist dir dein Leben geschenkt." Dem Geoffroy kam diese Rede schimpflich vor; ganz entrüstet versetzte er ihm: "Es ist gar nicht nötig, daß du so ein Mitleiden mit mir habest; denn ich bin nicht hiehergekommen, daß du Erbarmen mit mir zeigest, sondern daß ich dein grausames Leben von dir fordere!" Der Riese, der solches noch immer für einen Scherz hielt, unterließ, sich in Positur zu stellen; nachdem nun Geoffroy ihn alles Ernstes hierzu wiederholt ermahnt hatte, rannte er mit einem Satze auf ihn zu und stieß dem Riesen mit dem Speer auf die Brust so heftig, daß er alsbald auf den Boden stürzte und die Erde von dem Falle erzitterte.

Als der Riese auf diese Weise den Ernst sah, wurde er vor Scham und Zorn ganz wütend, daß ihn der kleine Ritter auf einen einzigen Stoß darniederwerfen sollte. Behend richtete er sich wieder auf, ergriff eine von seinen stählernen Stangen und holte aus zu einem Streiche auf Geoffroy, der bereits zum zweitenmal gegen ihn anrannte. Der Streich traf Geoffroys Pferd und schlug diesem mitten im Laufe die beiden Vorderbeine ab, davon das Roß zur Erde fiel und liegenblieb. Geoffroy aber achtete dies nicht, sprang behende vom Roß, ergriff mit Hast sein Schwert, eilte damit auf den Riesen zu und versetzte diesem, ehe er es sich recht versah, wieder einen so tapfern Streich, daß ihm davon die Tartsche aus der Hand fiel. Sogleich aber griff jener nach seiner stählernen Stange und versetzte dem Ritter damit einen so kräftigen Schlag auf den Helm, daß Geoffroy von dem Schalle des Schlags beinahe taub geworden und von der Wucht desselben zur Erde gezogen worden wäre. Doch erholte er sich gleich wieder, , steckte das Schwert schnell ein, eilte mit einem Sprung auf das Pferd zu, das auf dem Boden lag, und riß seinen stählernen Kolben mit solcher Geschwindigkeit vom Sattelknopf herab, daß es jener kaum gewahr wurde. Mit diesem prellte er dem Niesen unversehens auf einen Schlag die eiserne Stange aus der Hand. Solchem Anfall zu begegnen, ergriff der Riese einen von den Hämmern, welche er an der Brust stecken hatte, und warf



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ihn nach dem Ritter; der traf und schleuderte diesem gleichfalls den Kolben aus der Hand. Der Riese Gedeon, als er solches sah, bückte sich vor großer Freude, den Kolben selbst aufzuheben. Geoffroy aber, während jener sich bückte, ergriff sein Schwert wieder und hieb ihm sogleich einen Arm von der Schulter hinweg; Gedeon, darüber sehr in Schrecken, wollte sich doch den Schmerz nicht so geschwind merken lassen, sondern griff mit der andern Hand nach der einen Stange. Der hurtige Geoffroy aber entwich ihm, so daß jener vom starken Schwung auf die Knie darniederfiel und seine Götter um Hilfe zu rufen anfing. Der Ritter fürchtete sich jedoch davor nicht, nahm die Gelegenheit wahr, führte einen tüchtigen Hieb auf des Riesen Helm und spaltete Helm und Kopf zugleich. Da nahm er sich gute Weile und hieb dem Riesen das Haupt ganz ab. So wurde derselbe überwunden und das Land von seinem Verderber errettet.

Nun begann der Sieger zum ermunternden Zusammenruf in des Besiegten eignes Horn zu stoßen. Darauf eilte alsobald alles Volk zum Wiesengründe hinab, um das traurige Schauspiel zu betrachten. Denn sie meinten bereits alle, der kleine, junge Ritter werde seine Kampflust mit dem Leben bezahlt haben. Aber die Hinzueilenden fanden es ganz anders, als sie sich eingebildet hatten. Das tote Ungeheuer lag in seinem Blute hingestreckt, der Rumpf vom Haupte abgesondert. Der junge Ritter hingegen, ohne einen Blutstropfen verloren zu haben, wandelte frisch und gesund auf dem Kampfplatze herum. Alles war voll Freuden und Glückwünschens,



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man hörte keine andern Worte als nur immer: "Sehet den tapfern Helden, unseren Erretter! Dem hat der Himmel diesen Sieg verliehen ! Sehet sehet, wie frisch und mutig er umhergehet; merket ihr nicht, welch ein Feuergeist und großmütiger Sinn aus seinen Blicken und Gebärden hervorleuchtete Der ist es, den ihr dort vor euch sehet! Kommt, laßt uns dem Helden Glück wünschen!" So währte es eine lange Zeit unter dem Volk, und sogar von des Riesen eigenen Leuten erscholl ein Freudenruf über dem Anblick seiner Niederlage.

Indem nun also die Menge sich zudrängte und viele gerne wissen wollten, wie wunderbar es doch bei diesem Kampf zugegangen sei, und doch nicht so kühn waren, den jungen Obsieger mit zudringlichen Fragen anzusprechen, merkte Geoffroy dieses und sprach endlich zu ihnen: "Geliebte Freunde, ihr seht hier den Prahler und verderblichen Landesfeind, welcher mit großer Gewalt auf mich zudrang und mir sehr viel zu schaffen machte. Der Himmel war auf meiner Seite: ohne seine gnädige Beihilfe würde mir der Sieg entgangen sein. Umsonst rief er seine Götzen an; denn sie waren viel zu ohnmächtig gegen den einigen Gott. Danket anjetzo demselben mit mir, welcher mir also Fäuste und Arme gestärket, daß sie wider solche Macht bestehen konnten!" Hiermit verfügte er sich in das gewonnene Schloß. Der Siegesruf und das Freudengeschrei aber erschallte durch das ganze Land.

Das erste, was Geoffroy in dem Schlosse vornahm, war dieses, daß er einen Eilboten abfertigte, welcher seinen Eltern nach Favent die gute Botschaft von der Besiegung des Riesen überbringen mußte. Welche innerliche Freude diese Siegesnachricht in dem Vaters und Mutterherzen erregte, läßt sich mit Worten und Feder nicht beschreiben. Der Bote mußte nach reichlichem Botenlohn sogleich wieder ein Schreiben Raimunds an seinen Sohn Geoffroy mitnehmen, in welchem er ihm den elterlichen Gruß meldete, zu seinem Siege Glück wünschte und zugleich berichtete, daß sein Bruder Freimund in dem Kloster 'Mallières Mönch geworden sei. Aber diesen Brief hätte der gute Raimund besser unterlassen; denn er schmiedete mit demselben sein eigenes Unglück, wie wir hören werden.

Mittlerweile, während dem Geoffroy zu Garande alle mögliche Ehre angetan wurde, fügte sich's, daß ein eilender Bote dahergeritten kam, welcher Briefe an Geoffroy mit der Nachricht brachte daß auch im fernen Lande Norwegen in der Landschaft Norheim sich ein ungeheurer Riese aufhalte, der fast das ganze Land verheere und großen Schaden in der Gegend anrichte, weswegen er, der berühmte Riesentöter, von sämtlichen



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Landesherren daselbst ersucht würde, sich unverzüglich aufzumachen und ihnen wider jenes Ungeheuer Schutz und Hilfe zu leisten. Dafür wollten sie ihm statt des schuldigen Dankes huldigen und ihn für ihren von Gott gesandten Herrn erkennen.

Dieser Brief war für den heldenmütigen Geoffroy lustig zu lesen; er förderte den Boten mit dem mündlichen Bescheide ab, er sollte seinen Herren sagen: daß er ihnen alles Gute wünsche und nicht um großen Gutes willen, auch nicht; um Land und Leute zu gewinnen, sondern von Mitleid bewogen, sich bald bei ihnen einfinden und Leib und Leben wagen werde, auch mit Gottes Hilfe, wie zuvor, den Sieg davontragen.



***
Als der Ritter so in voller Zurüstung begriffen war und eben zu Schiffe sitzen und sich den wilden Meereswellen vertrauen wollte, siehe, da kam der Bote seiner Eltern mit Raimunds Briefe, in welchem ihm seines Bruders Freimund Eintritt ins Mönchsleben gemeldet ward, auch in dieser Sache noch guter Rat von ihm begehrt wurde. Darüber ergrimmte Geoffroy dermaßen, daß ihn der Zorn nicht nur bleich machte, sondern er auch mit den Füßen zu stampfen, ja sogar sein Mund zu schäumen anfing. Alle, die um ihn herstanden, zitterten bei dieser jähen Entstellung vor Schrecken, und doch durfte sich niemand .unterstehen, ihm nur im geringsten zu widersprechen. "Ich will", schrie er voll Wut; "dieses verführerische Volk, die Mönche zu Mallières, züchtigen, und es rächen, daß sie aus einem so jungen Ritter einen faulen und zaghaften Stubenbuben gemacht haben. Sollte er seinen Ritterorden um eine Kutte und einen Kahlkopf vertauschen und das Feuer seiner Jugend also in Trägheit verdampfen lassen? Ich schwöre, daß dieser Frevel an dem ganzen Kloster mit Feuer bestraft werden soll."

Der Norweger Bote, der noch zugegen war und alles mit anhörte, zitterte vor Furcht über solches Vorhaben, weil es die Abreise des Ritters nach Norheim verhindern könnte. Aber Geoffroy, der diese Besorgnis wohl merkte, redete ihn so an: "Ihr, Bote, ziehet nicht von hier, bis ich zuvor eine gewisse Rache genommen haben werde; alsdann will ich, den Verderber Eures Landes auszutilgen, mit Euch ziehen!" Mit diesem Trost mußte sich der Fremde zufrieden geben. Hierauf ließ sich Geoffroy in aller Eile die Pferde rüsten und ritt mit wenigen seiner Diener unverzüglich dem Kloster Mallières zu. Es war eines Dienstags, als er daselbst anlangte; der Abt samt dem gangen Konvent ging ihm demütig mit großer Freude und Ehrenbezeugung entgegen, um den Ankommenden zu bewillkommnen.



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Allein gar bald verwandelte sich das Schauspiel. Geoffroy redete sie nämlich voll Zornes also an: "Ihr Verführer und Verlocker eines jungen Ritterblutes, wer zum Henker hat euch befohlen, meinen Bruder Freimund auf die faule Klosterhaut zu legen und sein edles Gemüt der trägen Ruhe ergeben zu machen, daß er die härene Kutte gegen den blanken Degen vertauschte ? Wisset ihr auch, daß ihr für solches Verbrechen alle miteinander den Feuertod verdient habt? Und der soll augenblicklich durch diese meine Hand an euch Vermessenen vollzogen werden, an euch, die ihr so freventlich die alten Stämme der jungen Aste beraubet

Der Abt und der ganze Konvent zitterte und stand in äußersten Sorgen; denn keiner wußte vor Schrecken, was er auf die schnaubenden Worte des ergrimmten Geoffroy antworten sollte. Zuletzt erholte sich der Abt ein wenig und hub zu beteuern an, daß nur die eigene Andacht und die Begierde des Herzens seinen Bruder Freimund bewogen habe, den Orden anzunehmen, und daß Freimund dieses selbst bezeugen könne. "Dem ist so, mein Bruder", sprach dieser hervortretend, "nicht dieser Konvent, sondern mein freier Wille ist schuldig daran, daß ich auf den Gedanken geraten bin, Gott zu dienen und ein Mönch zu werden. Warum sollen die Unschuldigen die Strafe des Schuldigen leiden? Bin ich straffällig, so mag mich der Himmel bestrafen, den allein mein Verbrechen oder mein Rechttun angeht. Vergreife dich nicht an dem geweihten Orte und seinen Zugehörigen, die wir doch unablässig begriffen sind, für die Wohlfahrt des ganzen Lusinischen Hauses, und somit auch für die deinige, zu beten!"

Diese Rede machte den zornigen Geoffroy noch grimmiger: er stieg eilends vom Pferde, ließ zur Stund ' einen großen Haufen von Holz, Heu und Stroh zusammenbringen und zündete diesen mit eigener Hand an, daß der Wind die Flamme nach dem Kloster zutrieb. Alle Mönche waren in die Kirche geflohen und mußten hier unter Flammen, Dampf und Rauch jämmerlich ihr Leben enden. So hatten die mordbrennerischen Hände eines tyrannischen Bruders über hundert Mönche; den Abt und seinen Bruder Freimund nicht eingewählt, dem Feuer geopfert und der Eltern eigenen Besitz nicht verschont.

Allein auch die Reue blieb nicht aus; sie folgte vielmehr der bösen Tat auf dem Fuße. Als der Mörder den Aschenhaufen ansah und die vielen unschuldigen Leichen und nach dem Ablodern der Flammen und dem Verhallen des Wehgeschreis Gottes brennenden Zorn erwog, da erwachte, wiewohl zu spät, sein Gewissen. Er ritt in der größten Bestürzung maeder



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nach Garande zurück, wo der Bote von Norheim sein wartete. Der Bote freute sich seines Anblicks; Geoffroy selbst aber schickte sich unverweilt zur Meise an und segelte schnell Norwegen zu, um seine böse Tat desto eher zu vergessen.

Als inzwischen Geoffroys Eltern einst zu Favent in den besten Gesprächen und in herzlicher Vertraulichkeit über Tische saßen, siehe, da kam ein Bote von Mallières an, welcher gar wenig Worte machte und dadurch bald zu verstehen gab, daß sein Anbringen etwas Besonderes wäre. Er wurde vorgelassen und gefragt, was er mitbrächte. "Wenig Gutes", antwortete er und schwieg wieder stille. Ein tiefer Seufzer; den er aus der Brust hervorholte, zeigte an, daß er vor Betrübnis kaum reden könne. Endlich mußte er das Schweigen doch brechen und, was er zu melden hatte, ausrichten. "Gnädiger Herr", sagte er, "Euer Sohn Freimund ist tot; samt allen Mönchen; das ganze Kloster ist verbrannt: ich bin zum Glücke entronnen, daß ich Euch den Jammer anzeigen kann; denn weder Abt noch Mönch ist mehr übrig; das alles hat der Ritter Geoffroy verübt, der im grimmigen Zorn das Kloster vorsätzlich angezündet hat." Dann hub er an, den ganzen Verlauf der Sache umständlich zu erzählen.

Als nun Raimund den Jammerbericht zur Genüge vernommen, setzte er sich mit betrübtem Herzen zu Pferde und ritt eilig nach Mallières, um mit eigenen Augen zu sehen. Hier aber fand er nichts als Trümmer und klagendes Landvolk, das sich in Verwünschungen über seinen Sohn Geoffroy ergoß. Da drang ihm der Zorn so tief in das Herz, daß er vor innerer Herzensunruhe den Aschenhaufen nicht mehr ansehen konnte. Er setzte sich wieder zu Pferd und ritt nach Favent heim, wohin er noch am nämlichen Tage gelangte. Da verschloß er sich in seine Kammer und beweinte in der Einsamkeit das Herzeleid, das ihm sein Sohn Geoffroy angetan. Zugleich fiel ihm das Unrecht wieder ein, das er in der Übereilung des Zorns an seinem Bruder, dem Grafen von Poitiers, begangen; denn er erkannte jetzt, daß jener darin recht gehabt habe, was er ihm vorgeworfen, indem er doch an Melusina ein wahrhaftes Meerwunder und halbes Gespenst und nicht ein natürliches Weib habe, obschon er zehn Söhne mit ihr gezeuget , davon der eine jetzt so jämmerlich um sein Leben gekommen war, und zwar von des eigenen Bruders Hand.



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In solchem Unmut traf ihn seine Gemahlin Melusina, die eben die Türe des Kammergemachs aufschloß und in Begleitung vieler Ritter und Frauen eintrat, um ihren betrübten Herrn, welcher noch immer, mit den Reisekleidern



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angetan, auf dem Bette lag, in seinem gedoppelten Herzeleid zu trösten. Sie schien aber gar nicht willkommen zu sein; denn Raimund gab mit seiner finstern Miene ihr genugsam zu verstehen, daß ihre Gegenwart nicht sonderlich erwünscht war. Dessenungeachtet fuhr die tugendhafte und getreue Frau fort, ihm weiter mit herzlichem Troste zuzusprechen , und stellte ihm vor, daß man dem Willen und der Schickung des Himmels ja nicht widerstehen und seinen Schluß nicht hindern oder aufhalten könne.

Aber Raimund sah sie sehr trotzig und mit grimmigen Gebärden an, wie sie sonst von ihm nicht gewohnt war. Und zuletzt brach er in die ungestümen und unglückseligen Worte aus: "Hebe dich von mir, du böse Schlange und schändlicher Wurm; siehst du nicht, was dein Sohn Geoffroy mit dem Zahn für einen saubern Lasteranfang seines Manneslebens gemacht hat? Ach, mein Sohn, mein Sohn Freimund ist dahin, von Brudermördershand in den Tod geschickt!" Und nun warf er sich unter einem Strom von Tränen und mit Händeringen auf die andere Seite seines Lagers und würdigte seine getreue Melusina nicht mehr des Anschauens. Diese sprach ihm in tiefster Betrübnis, aber doch ganz bescheidentlich zu und erinnerte ihn an den Fehler, den er begangen, und der nicht wiedergutgemacht werden könne. "Ach, unbesonnener, ungeduldiger Naimund", sprach sie, "welche Blödigkeit hält deine Vernunft gefangen, daß du über all unser Unglück auch an mir Unschuldigen noch eidbrüchig wirst l Habe ich nicht deine Wohlfahrt gesucht, dich geliebt, getröstet und vor allem Unglück gewarnt? Und dieses will nun gleichsam zum Dache herein; denn in kurzem wirst du mich verlieren. Unglücklicher, keines Erbarmens würdiger Mensch, warum hast du dich nicht eines Besseren bedacht und mich so vor allen Umstehenden beschimpfte"

Dann wurde sie ganz stille und sank vom Eifer ihrer Rede in einer tiefen Ohnmacht auf die Erde. So lag sie bei einer halben Stunde ohne Empfindung da und wurde fast für tot gehalten. Alle Hofherren und Diener erschraken über die bedenklichen Reden, von deren Inhalt bisher niemand etwas gewußt hatte; jeder konnte gar leicht denken, daß dieses Gespräch große Erbitterung bei beiden nach sich ziehen würde, und es war ihnen gar nicht lieb, diese Geheimnisreden und Offenbarungen eines jähen Zornes mit anhören zu müssen; auch ahnten sie wohl, daß am Ende zu späte Reue bei beiden nachfolgen würde. Indessen eilte man ungesäumt der ohnmächtigen Melusina zu und bespritzte sie mit frischem Wasser, um nur zu sehen, ob auch noch Leben in ihr wäre. Dann eilte man mit andern



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Mitteln, sie zu stärken, bis sie endlich wieder zu sich selbst kam, sich aufrichtete und mit gar langsamer, doch deutlicher und nachdrucksvoller, klagender Stimme die Worte sprach:

"Ach, Raimund, was hast du getane Oh, ich Törichte, die ich mich von deinem eiteln Gesichte blenden ließ und deinen verführerischen Gebärden und einschmeichelnden Worten getraut habe! Zu welcher unglückseligen Stunde habe ich dich an dem Brunnen angetroffen und diese falsche Brust umhalset! Ist dies Pflicht und Treue gehalten, dies Wohltat mit Dank bezahlte Habe ich dich darum so mächtig und begütert gemacht, daß ich durch dich ins Unglück versinken sollten Undankbarer! Nicht ich, du bist eine Schlange, die ich mir selbst, mir zum Falle, an meinem Busen großgezogen habe. War es dir nicht genug, Treuloser, mich heimlich belauscht zu haben, ohne daß ich ein Zeichen der Mißgunst oder Rachgier vermerken ließ, wenn nur dein bundbrüchiges Herz sich bescheiden, dein falscher Mund hätte schweigen wollens Nun hast du mir und dir geschadet und uns beide mutwillig um unsere Wohlfahrt gebracht; denn ich wäre nicht von dir gewichen, bis mein natürlicher Tod mich von dieser Welt abgefordert hätte; so aber bringst du mir Leib und Seele bis an den Jüngsten Tag in Pein und Trübsal. Wie eine zergliederte Kette wird dein Land von dir gerissen und nach deinem Tode da und dorthin verteilt werden. Ich sehe schon das Unglück deines Geschlechts vor meinen Augen schweben; nichts als Zwietracht und Uneinigkeit wird in demselben herrschen, weil mit mir all dein Glücksstern verschwindet. Und ich selbst, wie gern ich es wollte, wie wehe es mir tut, ich selbst vermag das alles nicht mehr zu ändern!"

Nachdem sie solche Klage- und Strafworte gesprochen, ergriff sie drei Große des Landes, die zugegen waren, bei der Hand, trat mit ihnen gegen Raimund und hob noch einmal nachdrücklich zu reden an: "Falscher Raimund! Die Stunde meines Abscheidens rückt immer näher herbei. So merke dir denn, was ich vor diesen Zeugen, dir zum Besten, aus Mitleiden (das du freilich nicht verdient hast) hinterlasse. Horribil, unsern jüngsten Sohn, der drei Augen mit auf die Welt gebracht hat, diesen mußt du nicht leben lassen, sondern gleich in der ersten Stunde meines Hinscheidens ertöten, wenn du anders nicht großem Unglück die Hand bieten willst. Bliebe er am Leben, so würde der Krieg dein ganzes fruchtbares Land in eine elende Wüstenei verwandeln. In ihm erblickst du den Verderber aller seiner Brüder, den Schänder deines gagen Geschlechts. Darum vertilge diese Schlange, wenn du nicht noch mehr Herzeleid beweinen willst! Den Unmut aber, welchen dir Geoffroys Missetaten verursacht haben, den



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tilge; denn wisse, daß jenes Jammergeschick vom Himmel über die Mönche wegen sündhafter Ausschweifungen verhängt war, dem Ärgernis zu wehren. Und wisse, daß ebendieser, dein Sohn, jenes Kloster weit herrlicher aufbauen und versorgen wird, als es bisher gewesen. Endlich sage ich dir, was ich nicht vergebens geredet haben will, ehe ich dich ganz verlasse: wenn man mich einst in der Luft über Lusima daherschweben sieht; dann sollt ihr wissen, daß das Schloß in selbigem Jahr einen andern herm bekommen wird; ja, sollte ich in der Luft nicht wahrgenommen werden können, so wird man doch meine Gegenwart bei dem Durstbrunnen verspüren können, weil dort das Schloß zu meinen Ehren gebaut und meines Namens Gedächtnis daran geknüpft worden ist. Ich werde aber den Freitag zuvor gesehen werden, ehe das Schloß seinen Herrn ändert. Und dies ist es, was am meisten an meinem Herzen nagt. Die Zeit meines Abscheidens ist nun da, und bald werde ich dahin müssen, wo mein Kummerlied sich erst recht anhebt."

Diese Rede fuhr dem Raimund wie ein Dolch durch das Herz, und er brach in Tränen und Händeringen aus. Er wünschte sich nichts anders, als im Augenblick sterben zu dürfen. Er blickte seine treue Melusina lange und beweglich an, konnte sich nicht mehr halten, fiel ihr um den Hals und küßte sie mit klagenden Gebärden, so daß allen Anwesenden die heißen Tränen hervorquollen und selbst die Hofdiener sich nicht halten konnten. Es war ein Jammer anzusehen; denn alle beide lagen ohnmächtig auf der Erde. "Verzeihe mir, Geliebte, und bleib bei mirl"hub endlich der seufzende Raimund an. — "Ich kann nicht", sprach Melusina, "denn das Verhängnis hat es also beschlossen. Darum vergiß deines armen Sohnes Freimund und laß dir dagegen nichts aus dem Gedächtnis kommen, was ich dir gesagt habe; sorge auch besonders für deinen Sohn Raimund; denn dieser wird an deines Bruders Stelle Graf vom Forst werden."

"Erinnere dich auch öfter", fuhr sie fort, "deines jüngsten Sohnes Dietrich, welchen die Amme noch sanget, und wisse, daß selbiger dereinst zu Portenach und Rochelle ein gebietender Herr sein und große Rittertaten verrichten wird, auch alle seine Söhne sollen heldenmütige, berühmte Leute werden. So viel sei dir, kaltsinniger Raimund, noch aus Mitleid und Wohlmeinung zur Nachricht hinterlassen. Aber laß dir befohlen sein, künftig den Himmel für mich zu bitten; denn auch ich will bedacht sein, deiner nicht zu vergessen, sondern dir noch viel Trost und Förderung in allen deinen Anliegen verschaffen, obschon du mich in weiblicher Gestalt von nun an nimmer zu sehen bekommen wirst."



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Als diese Worte gesprochen waren, verwandelte sie im Augenblicke ihre Gestalt, nahm zur Hälfte die einer Sirene oder eines Fisches an und sprang mit einem Satze auf das Fenster, um sich hinauszuschwingen. Doch kehrte sie sich noch einmal um und wollte nicht ohne allerletzten Abschied von ihrem Raimund und den Herren des Landes scheiden. Daher sprach sie zum Beschlusse: "Lebe wohl, mein Raimund, ich vergesse, was du mir zuleid getan Basil Lebe wohl, du bisheriger Besitzer meiner treuen Liebe, du, selbst eine Zeitlang mein einziger treuer Freund! Ich verlasse dich mit Schmerzen; ob du mich schon bitter betrübt hast, so habe ich dich dennoch geliebt. Lebt auch ihr wohl, getreue Herren des Landes und Diener des Hofes, ihr werdet mich nun nimmermehr bedienen; der Himmel segne euch und auch mein Volk, dessen Gebieterin ich war. Lebet wohl, glücklich und gehorsam unter meinem Raimund, solange ihr in seinen Diensten stehen werdet! Der Himmel streue Glück auf dich, du mein herrliches Schloß Lusinia, und seine Güte bedecke dich auch noch, wenn ich, deine Stifterin, in leiblicher Gestalt ferne von dir bin!"



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Indem sie solches sagte, verwandelte sie sich noch entsetzlicher, sprang vom Fenster auf und fuhr zu aller Entsetzen zu demselben hinaus, in Gestalt eines abscheulichen Wurmes vom Gürtel an, wie sie Raimund früher allein gesehen hatte. So war dies eine recht unglückselige Stunde, als Raimund über seinen Sohn Geoffroy Streit mit Melusinen angefangen hatte. Jenes Hinscheiden aus dem Fenster geschah mit einem Rauschen in der Luft, das sich dreimal um das ganze Schloß hören ließ, jedesmal mit einem vernehmlichen Klagegeschrei, und so verlor sie sich aus dem Gesicht und wurde hernach nicht wiedergesehen.

Raimund stand mit weit offenen Augen staunend und sprachlos da; dann fing er bitterlich zu weinen und zu klagen an und sich sein Haar auszuraufen und rief ihr mit wehmütiger Stimme viel tausend Abschiedsgrüße nach. Seitdem sah man ihn nicht mehr fröhlich, solange er lebte. Doch fanden sich noch gute Leute, die ihm mit Trost und Zuspruch nahten.

Einer aber von seinen Räten erinnerte ihn noch in selbiger Stunde, als Melusina so kläglichen Abschied genommen, der Lehre, die sie ihm vor ihrem Scheiden in betreff ihres Sohnes Horribil anempfohlen hatte. "ES ist wahr", sagte Raimund, "aber meine Wehmut läßt mir nicht zu, jetzt solches zu tun. Gehet ihr zur Stunde hin und vollbringet augenblicklich ihren Willen, wenn ihr solches für gut befindet; weil ihr so getreulich mich daran erinnert habt. Es sterbe die Natter, welche solches Blutbad mit der Zeit anrichten soll, damit der Ruhestand des Landes erhalten und befördert werde." Mit diesen Worten sonderte sich Raimund von ihnen ab, verschloß sich in ein einsames Gemach und lag seinen Kummergedanken seufzend ob. Die Diener aber, denen er die Tötung Horribils aufgetragen hatte, nahmen den Knaben und führten ihn, dem Unglück vorzubeugen, in einen Keller, verstopften hier alle Türen und Fenster, trugen nasses Heu und Stroh herzu und zündeten es an, um nur nicht selbst Hand an ihn legen zu müssen. So erstickte der Knabe im Rauch und Dampf. Hernach richteten sie einen Sarg zu und beerdigten ihn ganz still in der Kirche, womit Melusinas und Raimunds Wille vollzogen ward. Von Raimund aber sah man noch geraume Zeit nichts; denn er hielt sich immer ganz still in seinem Gemach verschlossen.

Melusina hatte ihrem verlassenen Gemahl zwei junge Söhne in der Wiege zurückgelassen, die einer Säugamme übergeben waren. Diese hießen Dietrich und Raimund. Deren Amme und Wärterin nahm zu verschiedenen Malen wahr, daß Melusina in gespenstischer Gestalt bei später Nachtzeit in die Schlafkammer kam, eins der Kinder nach dem andern aus



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dem Bette hub, es an dem Feuer wärmte, sie an ihre Brust legte, säugte und sodann wieder sanft in das Bett hineinlegte. Obwohl die Amme ein solches Schauspiel nicht ohne Entsetzen ansah, unterstand sie sich doch nicht, dem Geiste selbiges zu wehren oder einen Lärm darüber zu machen, sam dern weil den Kindern dadurch kein Leid widerfuhr, ließ sie es mit Erstaunen so geschehen. Doch wurde es als eine nicht zu verschweigende Sache dem Raimund mit Betrübnis gemeldet und aller Verlauf berichtet. Dieser hörte es mit innigem Vergnügen, tröstete sich damit in seinem Kummer und labte sich an der nichtigen Hoffnung, seine geliebte Gemahlin einst doch wiederzubekommen. Er befahl mit großem Eifer, daß man auf keine Weise den Geist, sooft er komme, beschreien noch weniger ihn verhindern oder ihm irgend zuwider sein sollte; denn er hielt es für ein gutes Anzeichen und fühlte sich seitdem in seiner Betrübnis ein Merkliches erleichtert.

Indessen nahmen die beiden Kinder, besonders das Herrlein Dietrich, in kurzer Zeit gar trefflich zu, so daß man an ihren Kräften und ihrer Gesundheit gar keinen Mangel verspürte, sondern sich vielmehr höchlich darob verwundern mußte, wie sie in einem Monat fast mehr als andere Kinder in einem halben Jahre wuchsen, so daß man solches Wachstum der mütterlichen Milch zuschrieb, weil sie von dem Geiste gesäugt wurden; obgleich niemand begreifen konnte, wie es damit zuging.



***
Nun vernehmen wir wieder, wie es Geoffroy in dem Lande Norheim ergangen ist. Dieser war glücklich angelangt, und zugleich erschallte in dem ganzen Lande das Freudengeschrei, der junge, tapfere Ritter sei angekommen,



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der im Lande Garande den ungeheuren Riesen erlegt hätte. Jedermann eilte, denselben zu sehen, ja, es kamen alle Herren des Landes, ihm Glück zu wünschen und ihm alle mögliche Ehre zu erweisen, wobei ihm dann zugleich von einem der Vornehmsten erzählt wurde, wie grausam der in ihrem Lande sich aufhaltende Riese bisher gehaust, und wie er schon manchen tapfern Ritter erwürgt, ja, noch vor kurzem ihrer wohl hundert auf einmal erschlagen hätte, das gemeine Volk gar nicht gerechnet. Das ganze Land sei verwüstet und ausgeraubt.

"Das muß ein Teufel und kein Mensch sein", antwortete Geoffroy hierauf, "doch seid getrost, ihr Herren, und helfet mir nur, daß ich ihn treffe; dann verhoffe ich, mit Hilfe des Himmels gleichwohl Sieg und Ehre einzulegen, und euch von diesem Ungeheuer zu befreien, wofür mir das ganze Land danken möge!" Kaum hatte Geoffroy diese Worte ausgeredet; da wurde ihm von den Landesherren ein erfahrener Wegweiser zugeordnet; dem die Gegend des Landes, wo der Riese seine Wohnung hatte, wohlbekannt war. Geschwind mußte nun alles zur Reise fertiggemacht werden; dann beurlaubte er sich aufs höflichste von allen Herren des Landes und ritt immer getrost dem Berge zu, wo der Riese am meisten sich aufzuhalten pflegte. Als sie bereits den Berg hinanritten, hub der Wegweiser zu Geoffroy an: "Gnädiger Herr! Auf diesem Berge, Avelon genannt, und in dieser Gegend hat der Riese seine Wohnung." Geoffroy schaute auf; denn sie waren gerade neben einem Felsen, in dessen Höhle der Riese zum öftern zu sitzen pflegte. Der Wegweiser selbst zitterte, und es war ihm nicht wohl bei der Sache zumut; er sah sich hier und da um, ob er ihnen nicht von irgendeiner Seite her auf den Nacken käme. Unter Umschauen ward er gewahr, daß unweit von einem gewaltigen Felsen der große Valand oder Teufel, — wie ihn insgemein das Volk des Landes nannte —sich unter einem lieblichen, schattenreichen Baum auf eine marmorne Ruhebank niedergesetzt hatte. "Herr, wir sind des Todes", schrie der erschrockene Wegweiser, "wenn wir nicht eilends zurückgehen! Ich bitte, entlasset mich, dort oben auf der Anhöhe sehe ich das Ungeheuer sitzen!"

"Verzagter, was entsetzet Ihr Euch", sprach Geoffroy, "bleibet bei mir, ich werde Euch und dem ganzen Lande Rettung verschaffen!" —"Immerhin" , sprach dieser, "aber laßt mich unten! habe Euch nun den Weg gewiesen, wo Ihr Euren Tod finden könnet; kommen wir weiter hinauf, so treten wir schon auf Totenbeine." — "Blöder Mensch, ich werde dich nicht entlassen", sprach Geoffroy, "wenn ich auch deine Hilfe nicht verlange , so sollst du doch meinen Sieg mit anschauen." Und so nötigte er



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ihn, unwillig und in höchster Angst den Berg mit hinaufzureiten. Geoffroy mußte über den Zitternden lachen, der sich gebärdete, als hätte er das dreitägige Fieber. Sie wurden auch bereits von dem Riesen Grymold (denn dies war sein rechter Name) wahrgenommen, welcher aber aus Verachtung ganz regungslos sitzenblieb.

Endlich, als sie ganz in der Nähe waren, hieß Geoffroy lachend und mitleidig den Wegweiser mit seinem Pferd stillehalten, und dem Spiele ruhig zusehen. Der Wegweiser versprach ihm zu bleiben, wenn der Kampf nicht zu lange dauern würde. "Sonst", sprach er, "ehe mich der Schwindel gar ankommt, werde ich das Weite suchen. Darum wagt Euer Leben nicht allzu verwegen; denn dieser Wüterich hat schon viele tapfere Helden aufgerieben." —"Sorget nicht, mein Freund", sprach Geoffroy und ritt noch ein kleines weiter aufwärts, bis er den Riesen erreichte. Dieser wunderte sich über des Ritters Kühnheit, der so allein bei ihm erschien; doch dachte er, es könnte vielleicht ein vom Lande Abgefertigter sein, der etwas bei ihm anzubringen hätte. Er stand deswegen von seinem Sitze auf, nahm eine große, dicke Stange von Holderholz und ging dem ankommenden Ritter auf einer schönen Bergwiese entgegen. Wenige Schritte von Geoffroy hielt er still und schrie: "Wer und von wannen hifi du, Vermessener, daß du so freventlich allein gegen mich zu reiten dich erkühnst?" — "Ich komme", erwiderte Geoffroy, "mit dir zu streiten, du Ungeheuer, und ohne weitere Worte dich herauszufordern!" — "So, hifi du deines Lebens müde?"sprach der Riese. "Komm", sagte darauf Geoffroy, "und mache nicht viel Worte! Ertöte mich, wenn du kannst!" — "Ei nicht so", versetzte der Riese spottend, "schone meines Lebens, du Ohnmächtiger, und bring mich nicht so eilends um!"

Dem tapfern Geoffroy griff diese Hohnrede ins Herz, er zückte seinen Schild, ritt ohne ein Wort auf den Prahler mit seinem Speer los und traf diesen so empfindlich auf die Brust, daß, wäre er nicht mit einem stählernen Harnisch bedeckt gewesen, Geoffroy ihn auf den ersten Stoß durchrannt haben würde. Aber auch so fiel er auf die Erde und kehrte die Beine in die Höhe; doch raffte er sich geschwind wieder auf, so heftig er den Stoß empfand. Der Ritter, welcher merkte, daß der Riese einen Streich auf sein Roß zu führen beabsichtigte, sprang behend vom Pferde. Da rief der Riese: "Du hast mir einen empfindlichen Bruststoß beigebracht, kühner Ritter; bist du redlich und guten Herkommens, so nenne mir deinen Namen!" —"Ich bin weltbekannt", sprach der Ritter, "und heiße Geoffroy mit dem Zahn!" — "Sol" erwiderte der Riese; "habe ich



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doch von dir gehört, daß du meinen Oheim, den Riesen Gedeon von Garande, gefällt hast! Dafür soll dir bald dein Lohn werden!"Ungeduldig griff der Riese zu seiner Stange und führte damit, weil er links war, einen furchtbaren Streich auf Geoffroys rechte Hand. Aber dieser entwich dem Hieb, so daß die Stange gegen den Felsen schlug und man den Streich einen Schuh tief darin sehen konnte.

Unterdessen ergriff Geoffroy sein Schwert, und schlug dem Riesen auf den Harnisch, daß Splitter davonsprangen und das Blut aus den Ritzen hervordrang. Der Riese führte nun ganz grimmig einen zweiten und dritten Streich, denen Geoffroy immer auswich, so daß die Stange, am Felsen zerspaltet, in der Mitte zerbrach und der Arm des Riesen ganz müde ward. Jetzt versetzte der Ritter dem Riesen einen Schwerthieb auf den Helm, daß ihm Hören und Sehen verging; aber noch war dessen Faust so kräftig, daß ein Schlag des Unbewehrten auf Geoffroys Helm diesen wie einen Trunkenen taumeln machte. Doch faßte der Ritter wieder neuen Mut und traf mit einem Streiche glücklich des Riesen Achsel, tief durch den Panzer, so daß das Blut Strömen von ihm floß. Jetzt warf sich der Riese rasend auf Geoffroy und begann, mit demselben zu ringen. Sie faßten sich auch so gut, daß jedem der Atem ausgehen wollte. Aber der große Blutverlust machte den Riesen kraftlos, so daß er abstehen mußte. Dadurch kam Geoffroy abermals zum Schwerte, versetzte ihm einen neuen Streich und zwang das Ungetüm, nach seiner Felsenhöhle zu eilen und sich dort zu verbergen.

Dieser Fels, in den der Riese sprang, war ein düsteres Loch, wie ein tiefer Keller anzuschauen, und der Held konnte ihn hier nicht mehr erreichen. Der muntre Ritter schwang sich indessen fröhlich auf sein Pferd, ritt zu dem Wegweiser, der noch zagend auf seiner Stelle stand, zurück, erzählte ihm den ganzen Vorfall, den jener aus Angst nicht so genau beobachtet hatte, und zeigte ihm seinen von den Fehlhieben des Riesen getroffenen Harnisch, auch den Helm voll Beulen.

Während Geoffroy mit dem Wegweiser sprach, kamen die Herren des Landes in Begleitung vielen Volkes. Sie meinten, der völlige Sieg sei vollzogen, und fingen an, den Obsieger mit Glückwünschen zu überschütten. Sie hörten aber bald, daß es ganz anders stand. Da fragten sie den Ritter, ob der Riese sich nicht nach seinem Namen erkundigt habe. "Ja", antwortete Geoffroy, "und ich habe es ihm auch ohne alles Bedenken frei herausgesagt!" —"Nun", fing einer von den Herren an, "dann wird er auch nicht mehr aus seiner Höhle herauskommen, solange der tapfere



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Geoffroi im Lande ist; denn er hat eine sichere Weissagung, daß er von diesem abgetötet werden soll." — "Wenn er auch sich nicht herauswagen ', antwortete der Ritter, "so will ich ihn dennoch töten, um den Sieg vollzumachen. . Ich mag aus diesem Lande nicht scheiden, ehe meine Faust dieses Ungeheuer erlegt hat!"

Ein anderer Landesherr, der Mitleid mit dem jungen Helden empfand, fing an, ihn zu warnen; denn in dem Berge gebe es Gespenster und seltsame Abenteuer: der alte Beherrscher des Landes Norheim, König Helmas, sei von seinen drei Töchtern in diesem Berge verschlossen worden und habe bis zu seinem Tode dort bleiben müssen, einzig darum, weil er Persona, seine Gemahlin, im Wochenbette besucht und daher ihre Geheimnisse erkundigt hätte. Auch wisse man nicht, wohin hernach die drei Töchter des Königs mitsamt ihrer Mutter gekommen seien. Einen Riesen habe es an diesem Ort immer gegeben, und der habe den Berg gehütet; der jetzige sei bereits der fünfte oder der sechste, und alle hätten das Land verwüstet und mit Feuer verheert. Insonderheit habe dieser alle Helden, die gegen ihn ausgezogen, bezwungen und getötet. Geoffroy sei glücklicher gewesen als alle Könige ihres Landes, die nicht hätten wagen dürfen, was er gewagt. Jedoch sollte erden Riesen nicht anders bestehen, als wenn derselbe außerhalb des Berges zu treffen wäre.

Geoffroy, durch diese Rede bewogen, versprach ihnen, jedenfalls den Riesen zu erlegen, und nun ritten sie, weil die Nacht herbeirückte, den Ritter aufs ehrerbietigste begleitend, mit ihm zur Abendtafel nach ihrer Stadt zurück.



***
Als der frühe Morgen anbrach, machte sich der Held Geoffroy auf den Weg und ritt wieder dem Berge zu. Dort angekommen, hatte er eine gute Zeit zu suchen, bis er unter so vielen Löchern und Klüften das rechte und den Eingang zu der Riesenhöhle traf. Geschwind, als er solchen gefunden , sprang er vom Pferde, ergriff seinen Speer, bezeichnete sich mit dem Kreuz und ließ sich in das Felsenloch hinab, nachdem er sich von dem ihn begleitenden Ritter verabschiedet hatte, und es ward ihm unter tausend Wünschen Glück nachgerufen. Als er Grund spürte, stieß er mit vorgehaltenem Speer überall herum, ob er nicht den Riesen in irgendeinem Winkel der Höhle auffinden möchte. So kam er immer tiefer hinein, bis er einen Lichtschimmer sah, dem er nachging, und der ihn in eine helle Kammer führte, die nur eine Türe hatte, aber mit Gold, Silber und Edelgesteinen sehr herrlich angefüllt war.



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Er sah sich verwundert in dem Gemach um: in der Mitte der Kammer stand ein erhabenes Grabmal auf sechs zierlichen Pfeilern mit Edelsteinen, die in diesem Berge häufig wuchsen, reich geziert; auf dem Male war ein bewaffnetes gekröntes Königsbild, aus milchblauem durchsichtigem Chalzedon, liegend abgebildet; zu dessen Füßen war ein Frauenbild zu sehen, das eine Tafel von etlichen Blättern in den Händen hielt; auf der war folgende Schrift ganz deutlich zu lesen: "Dies ist der König Helmas, mein liebster Gemahl, der hier begraben liegt; ein mächtiger König von Nordland, der mir geschworen, mich zur Gemahlin zu erkiesen, doch nie mich im Wochenbette zu besuchen noch besuchen zu lassen. Weil er treubrüchig geworden, verlor er mich. Die drei schönen Töchter; die ich im selben Jahre geboren, nahm ich mit mir; säugte, ernährte, erzog sie bis ins fünfzehnte Jahr; er wußte nicht, wo. Dann entdeckte ich ihnen des Vaters Untreue, darüber wurden sie eifernd, und insonderheit beschloß die jüngste, Melusina, solch Verbrechen an ihrem Vater statt meiner selbst zu rächen. So sperrten sie ihn in diesen Felsen ein bis ans Ende seines Lebens. Ich selbst begrub ihn unter diesen Stein: und daß sein Grab vor Dieben, Räubern und Schatzgräbern sicher wäre, habe ich den Riesen hieher gelegt, Grab und Felsenhöhle zu hüten. Meine drei Töchter haben drei besondere Merkzeichen: die jüngste, Melusina, die sehr klug und scharfen Verstandes ist, das, daß sie alle Sonnabende vom Gürtel an



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zur Schlange wird. Wer sie freit, soll ihr geloben, sie an selbigem Tage weder zu besuchen noch zu sehen, noch nach ihr zu fragen, auch keinem Menschen solch Geheimnis entdecken. Melora, meiner zweiten, wunderschönen Tochter legte ich auf, daß sie als Geist eines herrlichen Bergschlosses in Armenien hüten, daneben unablässig einen Sperber auf dem Haupte haben soll. Wer sich ihr nahen will, der muß von adeligem Ritterblute sein, ohne Entsetzen drei Tag ' und drei Nächte des Sperbers schlaflos hüten, keine Furcht und Scheu tragen: dann soll ihm vergönnt sein, von dem jungfräulichen Geist eine Gnade, welche er will, außer ihrer Person und Liebe zu erbitten. Wer sich aber vom Schlaf überwinden läßt, der soll sein Lebenlang, bis zum Jüngsten Tage, des Geistes Gefangener sein. Meiner dritten Tochter, Plantina, gab ich auf dem hohen Berge Roniche in Arragonien ihres Vaters unendliche Schätze zu hüten, bis sich einer unseres Geschlechtes findet, der Burg und Schatz mit wehrhafter Hand erobert und König zu Jerusalem werden wird. Solches habe ich, ihre Mutter Persina, ihnen auferlegt. Damit begnüge sich, wem diese Tafel zu Gesichte kommt!"

Geoffroy, der den Inhalt dieser Blätter bedächtlich gelesen, geriet in großes Staunen. Er merkte jetzt, daß seine Mutter die Nymphe Melusina war, und König Helmas sein Großvater, Persina seine Ahnfrau gewesen. Aber völlig wollte er es erst glauben, wenn er glücklich den Riesen erlegt hätte; dann erst wollte er sich für jenen wahren Erben und vom Schicksal dazu ersehen halten. Mit neuem Eifer verließ er das Zimmer, allenthalben mit dem Speere umherfühlend. In solchem Fortgehen geriet er auf einen weiten Platz, auf dem sich sogar ein hoher Turm befand, so daß er ganz aufrecht gehen konnte. Er nahm daher seinen Speer bequem auf die Achsel und ging unter scharfem Umschauen auf den Turm los, den er offen und darin herrliche Gemälde fand.

Im Hingehen jedoch bemerkte er unter dem Gebäude einen abscheulichen Kerker, in welchem sich viele Gefangene befanden, die sich alle höchlich verwunderten, woher er käme, uno welcher entschlossene Mut ihn so weit gebracht. Einige warnten ihn mitleidig vor dem Niesen, dagegen riefen andere: "Schweigt, ihr redet zu unser aller Schaden; laßt den jungen Helden doch ziehen, er dürfte vielleicht unser Erlöser werden! Gott der Herr, der ihn hiehergeleitet hat, wird ihn auch noch weiter bewahren können Diese Rede gefiel Geoffroy wohl, er wurde noch mutiger in seinem Sinn und hub lächelnd zu fragen an: "Wo ist das Ungeheuer, das euch also quält? Zeiget mir den Ort, daß ich meinen ritterlichen Mut an ihm



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üben möge!" Darauf hub einer von den Gefangenen an: "Nehmet Euer Leben in acht, Herr Ritter; Ihr werdet ihn bald zu sehen bekommen!"

Kaum waren diese Worte gesprochen, so kam der Riese dahergetreten. Aber statt daß Geoffroy vor ihm hätte fliehen sollen, erschrak der Riese, als er den Ritter erblickte, und verkroch sich vor ihm in ein Gemach, dessen Türe er eilig hinter sich zuschloß. Geoffroy, dadurch ganz kühn gemacht, sprang ihm schnell nach und pochte an die Türe so mächtig, daß sie in Stücke sprang, so gut sie das Ungeheuer von innen verriegelt hatte. Nun hatte aber der Riese einen großen viereckichten Hammer aus Stahl, mit dem gab er dem Ritter einen Streich aufs Haupt; aber der Helm hielt ihn aus und blieb unbeschädigt. "Dieser Streich soll dir gedoppelt auf deinen verfluchten Schädel fallen", rief Geoffroy, und nun zog er sein Schwert und stach den Riesen durch und durch, so daß er auf die Erde fiel. Dies geschah mit einem solchen Schrei, daß der ganze Turm davon zu zittern schien. Damit blies er zugleich seinen Atem aus, und die Leiche lag ausgestreckt auf der Erde.

Da dankte Geoffroy dem Höchsten für den verliehenen Sieg, steckte das Schwert in die Scheide, eilte zu den Gefangenen in dem Turme und fragte sie, ob sie aus dem Lande der Norheimer wären, und als sie dies bejahten: was denn ihr Verbrechen sei. Darauf sagten sie ihm, daß sie den Tribut nicht bezahlen konnten, den der Riese von ihnen forderte. "Nun so sei euch derselbe mitsamt eurer Freiheit geschenkt!" sprach Geoffroy und versprach ihnen, unter Jauchzen und Frohlocken, ihren Kerker zu öffnen. "Aber", fragte er, "ihr müßt mir auch sagen, wo die Schlüssel des Gefängnisses aufbehalten werden." Das wußte keiner; Geoffroy selbst mußte lange Zeit suchen, bis er endlich den Schlüssel fand und über zweihundert Gefangene befreite. Diese führte er alle in das Zimmer, wo er den Riesen erlegt hatte; sie betrachteten die Leiche des Ungeheuers mit Entsetzen und weideten sich mit Staunen an der Heldentat des jungen Ritters.

Dann sprach dieser zu ihnen: "Höret, lieben Freunde und erledigte Gefangene , womit ich euch erfreuen will. Es liegt in diesem Berge und seinen verschiedenen Höhlen ein großer Schatz an Gold, Silber und Edelsteinen verborgen. Das alles schenke ich euch; denn ich will von dem übel gesparten Gute nichts haben!" Die armen Leute konnten nicht aufhören danken; sie wollten auch das Geschlecht des edlen Ritters wissen; denn seit König Helmas ' Tode sei kein Mann lebendig aus diesem Felsen gekommen.



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Der Ritter willfahrte und sagte ihnen, daß er Geoffroy mit dem Zahne heiße: dann erzählte er ihnen von seiner Herkunft weitläufig. Hierauf begleiteten ihn die Befreiten zum schuldigen Dank aus der Höhle. Vorher hatten sie noch einen Karren zubereitet, auf den der ungeheure Riese geworfen und aus dem Berge hervorgesogen wurde. Die Leiche saß auf dem Karren, mit Ketten gebunden, aufrecht, als lebe das Ungeheuer noch; so führten sie das Scheusal im Lande herum, jedermann zur Verwunderung und zum Abscheu. Alles Volk lief herzu und dankte Gott und lobte den Sieger Geoffroy, der zur rechten Stunde gekommen sei.

Mittlerweile kam Geoffroy wieder zu den Herren des Landes, von welchen er vor kurzer Zeit geschieden war, und die mit großer Betrübnis und unter vielen Zweifeln seiner gewartet hatten. Da ward ihm und den befreiten Gefangenen alle ersinnliche Ehre angetan. Und weil gerade der König von ganz Norheim ohne Leibeserben mit Tod abgegangen war, so wurde ihm nicht nur großes Geld und Gut, sondern die königliche Krone selbst angeboten, wenn er bei ihnen bleiben wollte. Dies alles aber schlug Geoffroy mit großer Höflichkeit ab, und nach kurzer Zeit machte er sich, von ihnen allen gesegnet, wieder reisefertig auf den Weg, nachdem er zuvor den Landesfürsten die Verwesung des Reiches und seine Wohlfahrt sorgsam anbefohlen hatte. Und nun reiste er mit großem Verlangen, seinen Vater und seine Mutter nur recht bald ansichtig zu werden, von dannen, bis er an das Meer kam, wo er zu Schiffe saß und nach seinem Vaterlande, der Herrschaft Garande, zu segelte. Als das Volk seine Ankunft gewahr wurde, lief ihm alles voll Freuden zu, ihren Erretter wiederzusehen und zu bewillkommen, weil es noch nicht so lange her war, daß er sie von dem Riesen Gedeon erlöset hatte.



***
Nun kam die Kunde von seiner Rückkehr auch zu seinem Vater Raimund. Er ritt, seinen Sohn Geoffroy zu empfangen, ihm entgegen und hielt auf der Straße, wo er vorbei mußte, zumal da ihm schon hinterbracht worden war, wie viel Ruhm und Ehre jener im ganzen Reich Norheim erlangt hätte. Diese neue Freude hatte den guten Raimund wieder ein wenig seines schweren Kummers entledigt. Er wartete deswegen nicht länger, sondern ritt in seines Herzens Fröhlichkeit gar bis an das Gestade des Meeres, wo sein Sohn bei seiner Ankunft unfehlbar landen mußte. Dies geschah, und es war ein rechter Freudenempfang von beiden, der gar beweglich anzuschauen war, so daß vielen die heißen Tränen darüber ausbrachen . Endlich nahm der Vater Raimund seinen Sohn bei der Hand,



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führte ihn beiseite und entdeckte ihm sein ganzes Herzeleid, den Verlust seiner Mutter und alles, was sich bisher zugetragen.

Geoffroy erschrak darüber heftig; er merkte wohl, daß auch sein böses Beginnen hierzu nicht wenig geholfen und das Öl zum Feuer gegossen hatte. Von innerlicher Reue und Bewegung des Herzens brach ihm der Angstschweiß aus, und er sprach: "Sei es dem Himmel geklagt, in welchen Jammer ich mich durch mich selbst gesetzt sehet" Unter so kleinmütigen Seufzern stand er eine gute Weile in sich gekehrt; dann fing er an, und erzählte dem Vater von der Tafel und Schrift, die er in dem Gespensterberge im Norheimerlande gefunden und gelesen habe, und von dem ganzen Begräbnis. Raimund vernahm zu seinem Troste, was er vorher selbst nicht gewußt, wer nämlich Melusina, seine Gemahlin und Geoffroys Mutter, gewesen, und daß sie aus königlichem Geschlechte entsprungen war. Dagegen hatte auch sein Sohn hinwider von seinem Vater erfahren, was er noch nie gewußt, wie nämlich des Vaters Bruder ihn gereizt, seine Melusina an einem Sonnabend zu besuchen und am Ende gar ihren Zustand ihr vorzuwerfen und sie damit zu beschämen.

Darüber schwur Geoffroy dem Grafen den Tod. Er setzte sich zu Pferde und ritt in Begleitung seines jungen Bruders Raimund Tag und Nacht auf den Forst zu, worüber denn Raimund, sein Vater, in neuen Kummer fiel; denn es reute ihn, daß er seinem Sohn alles so klar geoffenbaret hatte, und nun vielleicht auch dieses zu einem bösen Ende ausschlagen möchte.

Geoffroy aber gelangte von niemand erkannt und in aller Stille in die Grafschaft vom Forst und bis dicht an das Schloß des Grafen. Dies fand er offen, stieg alsbald von dem Pferd ab und kam unversehens in den Saal, wo sein Oheim sich aufhielt. Geschwind griff er nach der Wehre, rannte auf ihn zu und fuhr ihn mit ungestümer Rede also an: "Ha, Verräter, du bist derjenige, durch welchen wir alle unsere Mutter verloren haben. Aufrührer, Verführer, Bösewicht, du mußt des Todes sterben." Der Graf vom Forst, von dieser Überraschung ganz bestürzt, wußte nichts anders zu tun, als sich zu retten und sein Heil in der Flucht zu suchen. Er verschloß sich in einen Turm, dessen hohe Treppen er hinaneilte, und war froh, als er sich vor dem Zorn des Ritters geborgen sah.

Weil nun Geoffroy diesmal nichts ausrichten konnte, hub er an, aufs heftigste in Worten gegen des Grafen Diener zu toben, die ihm aber alle entliefen. Dadurch fand er freie Bahn, den Grafen noch weiter zu verfolgen , so daß dieser endlich zu einem Fenster des Turms hinausspringen



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mußte um sich auf ein gegenüberstehendes Dach zu flüchten; er verfehlte es aber mit seinem Sprunge und fiel zu Tode. Nun ließ ihn Geoffroy begraben, und die Seinen, die ihn an dem grimmigen Ritter nicht zu rächen wagten, bejammerten ihn alle. Dann befahl Geoffroy den Dienern, daß sie nunmehr seinem Bruder Raimund ohne alle Widerrede huldigen sollten; dies taten sie mehr aus Furcht als aus gutem Willen; denn alles Land scheute seinen Namen.

Der schwermütige Vater Raimund war inzwischen auch nach Lusinia zurückgekehrt, aber voll Unmut und Betrübnis; denn die Tötung seines leiblichen Bruders durch seinen Sohn Geoffroy war ihm berichtet worden. Aber er konnte nicht ändern, was geschehen war. Er versank nun aufs neue in die tiefste Reue und beschloß, nach Rom zu ziehen, dort ernstliche Buße zu tun und nimmermehr nach Hause zu kommen, sondern sein Leben in einem Kloster mit Weinen und Beten zu beschließen. Während er sich mit so traurigen Gedanken abquälte, siehe, da kam sein Sohn Geoffroy in den Schloßhof eingeritten, stieg vom Pferde, ging zu seinem betrübten Vater hinauf und fiel vor ihm alsobald auf die Knie. Da bat er um Gnade wegen aller seiner Missetaten und gestand ganz freimütig, daß er die einzige Ursache aller schmerzhaften Verluste sei, die seinen Vater betroffen.

"ES ist so, mein Sohn, wie du sagst", hub Raimund seinem Sohn zum Troste an, "allein wir können die Toten mit allen unsern Klagen nicht erwecken. Doch sei dir hiermit zur väterlichen Strafe auferlegt, das verbrannte Kloster Mallières wieder aufzubauen und andere Mönche zu Dienst und Ehren Gottes darein zu stiften." Geoffroy ließ sich dieses gar gerne gefallen und versprach, dasselbe herrlicher und reicher zu bauen, als es zuvor gewesen. Dies tröstete den alten Raimund nicht wenig. "Wohlan", sprach er, "die Vollziehung deines Versprechens wird deinen Gehorsam betätigen, mein Sohn Geoffroy! Doch vernimm das, was ich dir jetzt entdecken will. Ich habe mir zur Buße eine Reise in fernes Land vorgesetzt und will dies jetzt als ein Gelübde vollbringen. Demnach befehle ich dir, das Land löblich zu regieren, daß du dich als ein Vater und nicht als ein Tyrann, wie du bisher gepflogen, gegen die Untertanen erweisest, deinen jüngsten Bruder aber, meinen Sohn Dietrich, in aller Frömmigkeit und Tugendübung getreulich anstatt meiner auferziehest und, wenn er erwachsen ist, ihm die Herrschaft Portenach, Favent und Rochelle zum Besitze einräumest. So hat es mir deine selige Mutter anempfohlen, und ich will es auch dir ans Herz gelegt haben; denn es scheinet ein gar sonderliches Licht aus dem Knaben, welches wohl zu pflegen ist."



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Geoffroy versprach ihm reumütig unverbrüchlichen Gehorsam, und dem Raimund rannen über seinen treugemeinten Worten die Freudentränen über die Wangen. Dann berief er alle Untertanen zusammen, stellte ihnen seinen Sohn als künftigen Regenten vor, ließ die Huldigung vor sich gehen und trat die Reise an. Seine Söhne Geoffroy und Dietrich gaben ihm mit einem kleinen Gefolge zu Roß das Ehrengeleit. Am andern Tag umhalsten sie den Vater und nahmen einen tränenvollen Abschied.



***
Der junge Dietrich wuchs gerade und herrlich heran und hatte die Mannsjahre erreicht. Da tat er dem väterlichen Befehle gemäß einen schönen Ritt nach Portenach und nahm daselbst Besitz von seinem Erbteil mit den andern ihm zugehörigen Orten. Er regierte klug und glücklich und galt für einen weisen Regenten des ganzen Landes. An Tugend, Tapferkeit und Heldentaten nahm er alle Tage zu; sein Vater Raimund aber, obgleich er lebte, war dem Lande längst gestorben. Inder Folge heiratete Dietrich eine schöne Dame aus der Bretagne, und es stammet bis auf diesen Tag von ihm das hohe Geschlecht derer von Portenach.

Geoffroy hatte nach halber Jahresfrist das Kloster Mallières schöner und größer, als es zuvor gewesen, wieder aufgebaut. Der vorher so wilde und grausame Mann zeigte bei diesem Bau einen solchen Bekehrungseifer , daß in dem ganzen Lande das Sprichwort von ihm erscholl: "Geoffroy ist ein Mönch, der Wolf ist ein Schaf geworden."Obwohl ihm nun dieser Spott zu Ohren kam, fuhr er doch in dem guten Werke fort und ruhte nicht, bis es fertig dastand.

Inzwischen war Raimund zu Rom angelangt und hatte vor dem Papst seine Beichte wehmütig abgelegt, Absolution empfangen und die auferlegte Buße mit demütigem Gehorsam angenommen. Auf die Frage des Papstes, was jetzt sein Vorsatz wäre, erwiderte er: "Allerheiligster Vater, ich gedenke, mein Leben an einem Orte zu schließen, wo nicht viele Leute um mich sind; denn ich möchte mich von der Welt absondern." Und als der Papst diesen Vorsatz lobte und ihn um den Ort befragte, den er sich ausersehen hätte, da sagte er, daß er nach Montserrat in Aragonien, zu Unserer Lieben Frauen Kloster, Belieben trüge; denn der schöne, reine Gottesdienst , der dort gepflogen werde, gefalle ihm vor allen andern.

Da wurde ihm vom Papst ein Priester und ein Schüler zugeordnet, die ihn sein Leben lang bedienen sollten. So nahm er seinen Abschied, und sie ritten zusammen mit einem schönen Gefolge von Rom weg. Als er zu Tolosa ankam, wurde er wider seinen Willen dort aufs herrlichste empfangen



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und ihm alle mögliche Ehre angetan. Nun entließ Raimund alle andern Diener und behielt niemand als den Priester und Schüler bei sich. Und sowie er an dem erwünschten Orte angekommen war, ließ er sich und dem Priester Einsiedlerskleider machen und begab sich in das Gotteshaus, dem Herrn dort zu dienen, solang er lebte.

Als seinem Sohne Geoffroy die Ankunft Raimunds zu Rom berichtet wurde, beschloß er bei sich, seinen Vater auch noch einmal zu sehen und in Rom aufzusuchen. Er übergab seinem Bruder Dietrich die Regierung für einige Zeit und machte sich auf. Zu Rom angelangt, beichtete auch er dem Papste und erfuhr von diesem, daß sein Vater ein Einsiedler zu Montserrat geworden wäre. Dem Geoffroy wurde aber eine weit härtere Buße auferlegt, insbesondere, daß er darauf bedacht sein sollte, vor allen Dim gen das Kloster Mallières wieder aufzubauen und hundertundzwanzig Mönche darein zu stiften. Der Ritter erklärte dem Papst, daß bereits das Gebäude weit größer und herrlicher, als es zuvor war, wieder aufgerichtet stünde; da lobte der Papst diese rühmliche Tat und nahm sie für hin- reichende Buße an. "Euer Vorsatz ist gut", sagte der Heilige Vater zu ihm, "und der Himmel vermehre seine Gnade an Euch noch ferner l Wenn Ihr Euren Vater am Orte seiner Andacht besuchen wollet, so begleitet Euch mein väterlicher Segen!"

Der Ritter zog weiter und traf seinen Vater zu Montserrat. Des Halsens und Küssens war kein Ende. Aber vergebens bemühte sich Geoffroy, den alten Raimund zu bewegen, daß er mit ihm zurückkehren und sein Leben zu Lusinia in gleichmäßiger Ruhe beschließen möchte. Er machte sich



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daher nach fünftägigem Aufenthalte bei ihm wieder auf den Heimweg, nachdem er vergnügte Unterhaltung mit ihm gepflogen und von allem Bericht eingenommen hatte. Beim Abschied aber vergossen Vater und Sohn bittere Tränen. Kaum war Geoffroy wieder zu Mallières angelangt, so besetzte er das Kloster mit der verlangten Anzahl von Mönchen und sorgte in allem für ihren Unterhalt.

Als nun auch er gealtert war und mit seinem hochbejahrten Vater dem Ende entgegenging, verfügte er sich noch einmal nach Aragonien zu diesem , den er, wiewohl schwach und hinfällig, noch beim Leben traf. Er empfing von ihm den Segen, drückte dem lebenssatten Greise die Augen zu und bestattete ihn ehrlich. An dem Freitag aber, ehe Raimund starb, drei Tage vor dessen Tode, hörte man zu Lusinia über dem Schlosse ein Rauschen; das war der Geist Melusinas, der das Schloß dreimal umkreiste , und, wie sie einst ihrem Gemahl verkündet hatte, allem Volk seinen Tod weissagte.

Der alte Raimund hinterließ sein Geschlecht in hohen Ehren blühend. — Sein ältester Sohn Reinhard regierte in Böhmen und tat den Ungläubigen großen Widerstand; Antonius führte das fürstliche Regiment als Herzog von Luxemburg; der jüngere Raimund war Graf vom Forst; Uriens regierte in Zypern, tat auch den Heiden große Drangsale an und stand den Rittern auf der Insel Rhodus getreulich in ihren Nöten bei. Gyot aber war König von Armenien und verfuhr auch streng gegen die Heiden; Gedes war frühzeitig gestorben, Horribil im Keller erstickt, Freimund mit dem Kloster verbrannt. Geoffroy, der tapfere Riesenwürger, war Herr in Mallières und Lusinia, und Dietrich, auch ein berühmter Held und Ritter, hielt zu Portenach Hof.



***
Das alles aber lassen wir jetzt beiseite und melden von einer sonderbaren Begebenheit in Armenien, wo Gyot als König regiert hatte. In diesem Königreiche nämlich war ein Schloß, in welchem ein Gespenst hauste; genau nach der Beschreibung, die Geoffroy auf dem Denkmal im Riesenberge zu Norheim von dem Geist auf dem Berge Avelon gelesen hatte. Ebendaselbst fand sich auch ein Sperber von sonderbarer Art. Wer bei diesem Gespenst Gnade finden und seines Lebens sicher sein wollte, der mußte sein Geschlecht vom lusinischen Stamme erweisen, dann drei Tage und Nächte ohne Schlaf dem Sperber wachen und ihn hüten kön- nen; anders vermochte er ohne Lebensgefahr nicht, sich diesem Schlosse zu nahen. Hatte er aber dies ohne Anstoß verrichtet, so durfte er eine



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Gabe fordern, nur die Person und Liebe der Jungfrau Melora nicht. So nämlich hieß das Gespenst, wie wir oben aus der Grabtafel schon vernommen haben.

Nun war nach Gyots Zeit ein König in Armenien, der wollte sich unterstehen, , dem Sperber zu wachen, aber begehrte, sich die verzauberte Jungfrau selbst als Gnade auszubitten und sie unter dieser Bedingung zu erlösen. Doch hielt er es in seinen Gedanken nur für ein Gaukelspiel und eine Posse. Aber endlich machte er sich wie zum Spaße dahin auf; die Sache in Augenschein zu nehmen. Als er nun unfern von dem Orte auf eine Wiese gerade unterhalb des Schlosses gelangte, ließ er ein Gezelt daselbst aufschlagen, verfügte sich aber in voller Rüstung den Berg hinan bis an das Tor des Schlosses, darin sich der Geist und der Sperber befand . Er hatte deswegen auch einen Köder in der Hand, um den Sperber damit zu ätzen. Indem er nun solches Vorhabens war, begegnete ihm auf dem Wege vor dem Schloß ein alter Mann, ganz bleich und mager von Gestalt; weiß gekleidet. Der fragte ihn, was er hier suche. "Ich will den Bedingungen, die für dieses Schloß festgesetzt sind, ein Genüge leisten und dem Sperber wachen", sagte der muntere König. "Wohlan", versetzte der Alte, "so kommet denn mit mir; ich will Euch hierzu anweisen und an den Ort führen, Ihr leisten könnt, was Ihr schuldig seidl"

Hierauf führte der Alte ihn in einen herrlichen Palast und Saal, welcher des Königs Bedünken nach zuoberst in dem Schlosse zu sein schien. Alles sah so majestätisch und prächtig darin aus, daß sich jener nicht genug verwundern konnte. In diesem schönen Gemache nun zeigte sich auch ein Sperber, auf einer Stange sitzend, der gar schön und wohlgestaltet anzuschauen war. "Hier ist der Ort", hub der Alte an, "wo Ihr drei Tage und drei Nächte wachen müsset, und wenn dies vorüber ist, habt Ihr die Freiheit, um alles zu bitten, was Ihr wollt, nur nicht um die Person und die Liebe der Jungfrau. Wenn Ihr aber Eure Wache schläfrig und also zum Unglücke verrichtet, so sollt Ihr wissen, daß Ihr bis an den Jüngsten Tag in diesem Schlosse bleiben müsset!" — "Wohl", sagte der allzufreche König, "ich werde meine Schuldigkeit aufs beste tun, hernach aber auch die gebührende Gabe zu fordern wissen!" Damit zielte er aber in seinen Gedanken einzig und allein auf die Jungfrau. Er hätte aber viel klüger getan, wenn er dem Alten gefolgt wäre.

Nun vollzog er einen Tag und eine Nacht seine Wache mit Freuden und ätzte den Sperber auf das beste, so daß es schien, als ob einer mit dem andern gar wohl zufrieden wäre. An köstlichem Essen und Trinken zu bestimmten



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Zeiten war kein Mangel, und dies stand dem König in einem Augenblicke vor dem Gesicht, so daß er sich auf das niedlichste pflegen konnte, als ob er an seiner königlichen Tafel selbst säße. Des andern Tags am Morgen ätzte er wieder den Sperber und verrichtete seine Wache vortrefflich . Indem erblickte er eine überaus schöne Kammer, deren Türe offenstand. In diese trat er ein und betrachtete mit Verwunderung, wie kunstvoll sie mit Abbildungen von Vögeln aller Art bemalt war; die Felder waren mit Gold aufs feinste ausgefüllt; dazwischen aber waren allerlei Rittergebilde, mit Schild und Helmen gewappnet, in Lebensgröße mit beigeschriebenen Namen zu sehen. Diese alle hatten dem Sperber gewacht und in dem Schlosse geschlafen, waren aber nachlässig gewesen, und es war nun unter den Bildern ihre ewige Sklaverei bis an den Jüngsten Tag, mit Beifügung des Jahres und Tages, wo es ihnen mißlungen, zugleich angedeutet. Nicht minder standen an drei besonderen Enden noch drei andere Ritter abgebildet, ebenfalls gewaffnet, welche ihre Wache sehr wohl verrichtet, wie nebst Jahr und Tag die Inschrift meldet; unter ihnen stand eingeätzt der Name, wie auch das Land, aus dem sie stammten.

Aber der König wollte sich auch in diesem Gemache nicht lange verweilen, sondern kehrte zum Sperber zurück, um nicht Unlust für sein getreues Wachen zu verdienen. So erreichte er mit seinem Fleiße auch den dritten Morgen. Siehe, da kam die gespenstische Jungfrau, in grünem Kleide aufs prächtigste angetan, mit ganz freundlichen Mienen auf ihn daher in das Gemach gegangen, grüßte und empfing den König und redete ihn mit den höflichsten Worten also an: "Ihr habt Euer Vorhaben gar klug und glücklich geendet und der Sache ein Genüge getan; so fordert denn nun auch Eure Gabe, damit solche Euch gereicht werde."

Der König, sich ein wenig rüstend, dankte für das gute Anerbieten und fing ganz hochmütig an: "Ich will keine andre Gabe als Euch selbst und Eure Liebe davontragen." Die Jungfrau, als sie dies hörte, erwies sich etwas zornig, erwiderte ihm jedoch also: "Ihr müsset eine andre Gabe fordern, Freund; denn ich selbst kann Euch nicht werden!" Der König aber wollte von solcher Forderung nicht abstehen, sondern beharrte auf seiner Rede, worüber die Jungfrau, noch zorniger, ihm folgende Antwort gab: "Ihr strebet nach Unglück; ich warne Sneh vor solchem und rate Euch, alsbald von Eurem Verlangen abzustehen, wenn Ihr anders wollet; daß Euer Königreich nicht aus Euern Händen gerissen werde."

"Sei es töricht oder klug gehandelt", hub der vermessene König wieder an, "so werde ich doch nicht ablassen, Eure Person zur Belohnung zu fordern,



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und mich mit keiner andern Gabe befriedigen lassen, so wahr ich König von Armenien heiße!" Die Jungfrau, darüber noch mehr entrüstet; antwortete dem Ritter: "Du handelst so töricht als dein Großvater Raimund, welcher in beharrlicher Torheit den weisen Rat verwarf und sein Gelübde brach, worüber er alles verlor, was er gehabt hatte. Auch du hast nun all deine vermeintlichen Gaben, nach welchen du getrachtet hast, verloren . Von nun an ist nichts als Unglück und Trübsal dein Teil, wie es deinem Großvater ergangen ist, als er seine Gemahlin Melusina, welche meine Schwester war, verlor." Dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte von Helmas und Persina, und daß sein Vater Gyot ihrer Schwester Sohn gewesen.

"Du siehest also", schloß sie, "wie töricht deine Forderung und dein verstocktes Beharren ist, daß du dadurch dein Reich verloren, welches nicht nur von dir genommen werden, sondern auf ein ganz anderes Geschlecht übergehen wird. Alles Glück und alle Ehre hast du mit deiner Torheit verscherzt. So weiche denn, du armseliger Gyot, Gyots Sohn; denn du hast übelgehandelt und sofort wird dein Unglück beginnen!"

Der junge Gyot aber, von Verlangen geblendet, gedachte, die Sache zu erzwingen, vergaß, was ihm der Alte vor dem Tore gesagt hatte, und mit Bitten und Flehen ihre Gunst zu gewinnen, eilte er in ihre Arme. Aber er fand sich betrogen. Das schöne Bild verrann unter seinen Armen, und er hatte nichts als einen Schatten gehalten: mit diesem Schatten aber schwand auch sein Glück und sein Heil. Doch war der junge König nicht lange allein; denn ein anderer abscheulicher Geist zeigte sich, den er nicht sehen, wohl aber hören und fühlen konnte. Dieser schlug ihn zur Erde und spielte ihm so übel mit, daß er, Arme und Beine von sich streckend, auf dem Boden lag. Wie er erbärmlich zu schreien anfing, so wurde er nur noch ärger von dem Geiste geschlagen. "Wehe mir", rief er, "wenn diese Geisterplage nicht von mir abläßt, so bin ich des Todes und muß mein junges Leben lassen! Ich Armseliger, daß ich ohne Gegenwehr Streiche erdulden muß! Erscheinst du mir nicht mit Hilfe, o gütiger Gott, so muß ich in Schmach und Schande verderben!"

Er hatte diesen Seufzer noch nicht ganz ausgestoßen, als er in einem Augenblicke von dem Gespenst aus dem Schlosse geworfen ward, so daß er halbtot auf der Erde lag und mehr einem kriechenden Wurm als einem Könige gleichsah. Doch zwang er sich empor und schwankte mit schwachen Kräften den Schloßberg hinab, seinem Gezelte wieder zu, welches auf dem Wiesengründe stand. Dort konnte er vor Mattigkeit und Zittern kaum mit



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den Seinigen reden, und auch diese waren über den Zustand ihres Herren ganz bestürzt. Endlich unterstanden sich einige zu fragen, ob der König bei dem Sperber gewacht und die Gaben gewonnen habe. "Elender Gewinn!"versetzte er ihnen ganz wehmütig. "Mich hat ein unglückliches Gestirn hiehergeleitet! Geschwind, sattelt mir die Pferde und schicket euch zum Aufbruch an, daß ich nicht auf dem Wege sterbe."

Alsobald wurde alles zugerüstet, der todschwache König selbst zu Pferde gebracht und mit ihm an das Gestade des Meeres geeilt; hier nahmen sie ihm den Harnisch ab, brachten ihn zu Schiffe und segelten der Heimat zu. Unterwegs gingen ihm erst die Augen seines Verstandes auf, und er sah ein, wie guten Rat und treue Warnung er in den Wind geschlagen und in welches Elend er sich gebracht habe. Auf der Reise verfolgte ihn ein Sturm mit ungeheuren Meereswellen, was ihm so sehr zusetzte, daß er abermals in Todesgefahr stand und Wasser und Erde durch des Himmels Verhängnis seine Feinde zu sein schienen. Endlich, nach vielen Trübsalen, kam er nach Hause und regierte mit schwachen Kräften. Diese nahmen von Tag zu Tag mehr ab. Und so ging es, wie der jungfräuliche Geist angekündigt hatte, mit ihm auf die Neige. Bald starb er an gänzlicher Auszehrung, und nach ihm wurde ein andrer König, aus ganz andrem Geschlecht,



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erwählt und auf den Thron gesetzt. Dieser aber hatte gar schlechtes Glück in seinem Regiment; so daß das Königreich gleichsam mit seinen Herrschern erkrankte und fast augenscheinlich in ein elendes Schwinden geriet. Und so währte es von diesem Gyot an gerechnet bis ins neunte Glied und auf den neunten Kronenträser.



***
Die dritte Tochter des Königes Helmas, Plantina, war von ihrer Mutter Persina als Hüterin des väterlichen Schatzes auf einen Berg in Aragonien abgeordnet. Sie war von Gestalt eine wunderschöne Jungfrau. Dieser Schatz nun sollte von niemand erhoben werden können, als wer aus dem Geschlechte des Königs Helmas stammte. An jenem Berge aber hielten sich viel grausame Drachen mit andern wilden Tieren in unglaublicher Menge auf, so daß man ohne große Arbeit und augenscheinliche Lebensgefahr sich diesem Berge nicht wohl nahen durfte; denn viel tapfere Ritter hatten da schon ihr Leben gelassen, so daß keiner von denen, die dahingelangt waren, zurückgekehrt war.

Nun fügte es sich einst, daß ein frischmutiger junger Ritter, aus England gebürtig, dahinkam, mit dem kühnen Unterwinden, zuvörderst den verborgenen Schatz daselbst und dann auch das Heilige Land zu erobern. Wie er nun in Aragonien anlangte, war sein erster Schritt der, daß er nach dem verzauberten Berge, wo sich der Schatz befinden sollte, genaue Nachfrage hielt. Da wurde ihm denn alles bedeutet und urkundlich gezeigt . Die Herkunft des frischen Ritters war keine gemeine; er stammte vielmehr von einer gar hohen Geschlechtslinie; denn er war einer von den Rittern der Tafelrunde des Königs Artus und ein naher Freund des Helden Tristan.

Dieser Ritter wurde endlich durch seine Begierde bis an den Fuß des gedachten Berges getrieben und traf hier sogleich ein ungestaltes und abscheuliches Tier, vor welchem der ganzen Natur hätte grauen sollen. Sein Bauch war wie ein Weinfaß gestaltet; es hatte nur ein einziges Ohr und nur ein einziges Auge, welches ihm auf der Stirne stand; die Nase selbst war drei Schuh breit und ebenso lang, aber es war kein Nasenloch darin, sondern sein Atem ging zu dem Ohr aus und ein. So abscheulich nun dieses Ungeheuer aussah, so wild und grausam war auch seine Natur, so daß es dem Ritter genug zu schaffen machte.

Die rechte Höhle, in welcher der Schatz verborgen war, befand sich in der Mitte des Berges, wo schon mancher tapfere Held sein Leben hatte



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lassen müssen. Rings um die Höhle waren kleinere Löcher, in welchen allerlei abscheuliche Lindwürmer und wilde Tiere hausten, und an allen diesen vorbei mußte derjenige, der zu der Höhle mitten auf dem Berge gelangen wollte. Der Berg selbst war drei aragonische Meilen lang, und es führte nur ein einziger schmaler Weg hinauf; wer dahin wollte, mußte schnell reiten oder gehen, ohne sich viel zu säumen oder lang umzusehen; denn man hatte weder Weile noch Raum, lange auszuruhen, da der Weg so weit war und die vielen Schlangen und das Ungeziefer jeden Schritt umlagerten.

Dessenungeachtet war der kühne Ritter, nur von einem einzigen Wegweiser begleitet, immer getrost dem Berge zugeritten, indem der Führer voranging und der Ritter zu Pferde folgte. Endlich kehrte auch der Wegweiser um, nachdem er mit großer Gefahr seine Schuldigkeit getan hatte; aber der Ritter hieß ihn stillehalten, stieg vom Pferde ab und gab ihm dasselbe an die Hand. "Bleibe über ein kleines hier", sagte er, "und weiche nicht von der Stelle, bis ich komme!" Aber der gute Führer würde leider eine lange seit haben warten müssen, wenn er sich nicht endlich aus dem Staube gemacht hätte.

Indessen betrat der Ritter den schmalen Steig, welcher so mühselig zu gehen war, daß er seinesgleichen noch niemals gegangen war. Er war wohlgewaffnet und trug sein Schwert in der Hand. Da begegnete ihm bald ein großer Drache, der mit offenem Machen auf ihn zuschoß. Als der Ritter dieses Untier in Wut auf sich zueilen sah, zog er alsbald sein Schwert und hieb ihm mit einem einzigen Streich den Kopf ab; als er ihn aber, wie derselbe tot auf der Erde lag, abmaß, so erwies sich der Kopf nicht weniger als zwanzig Schuh lang. Hierauf ging der Ritter auf dem schmalen Stege gutes Mutes vorwärts. Da begegnete ihm ein ungeheuer großer Bär, welcher auch ganz grimmig auf ihn zulief und ihm so nahe kam, daß er ihm sogar seinen Schild aus der Hand zu zerren suchte und den Harnisch an mehreren Orten beschädigte. Als der gute Ritter auch dieser Bestie grimmigen Zorn sah, nahm er sich einen sichern, unverzagten Hieb vor und traf den Bären glücklich mit dem Schwert auf die Schnauze, so daß derselbe augenblicklich zur Erde fiel. Hierüber wurde der Bär noch grimmiger, schlug nach dem Ritter und ging ihm immer näher auf den Leib. Der Ritter aber wich mit einem Sprung auf die Seite und hieb zugleich dem Tier eine Tatze ab. Nun wich das Ungetüm etwas rückwärts, setzte sich auf die Hinterfüße und tat vorwärts auf den Ritter einen vorteilhaften Schlag, welcher so stark war, daß er seinem



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Harnische Löcher schlug. Und durch die heftige Bewegung gerieten der Bär wie der Ritter zu Falle, so daß beide miteinander sich nicht mehr halten konnten, sondern den Berg herabrollten.

Der tapfere Ritter verlor zwar hierüber sein Schwert, griff jedoch nach seinem Dolche, den er neben der Brust an seiner Seite stecken hatte, zückte diesen und gab dem Bären hinterwärts so seinen Teil, daß er ein schreckliches Gebrüll ausstieß und damit bezeugte, daß er jetzt endlich wohl getroffen sei. Der Ritter kam nun den Berg abermals hinan, suchte sein Schwert, fand auch solches und erlegte noch viel scheußliche Gewürme und andere wilde Tiere mehr, die ihm alle den Weg streitig machten, und womit er sich ziemlich abmattete. Zuletzt gelangte er doch an die eiserne Türe, vor der, schon überwölbt von der Höhle, ein entsetzliches Ungeheuer lag, das die Kluft hütete, in welcher der große Schatz und die gespenstische Jungfrau seit langen Jahren verborgen waren. Der mutige Jüngling trat beherzt in die Höhlung, um das gräßliche Tier dort aufzusuchen. Er traf dasselbe nur allzufrühe an; denn sobald ihn das Ungeheuer erblickte , richtete es sich mit solchem Ungestüm wider ihn auf, daß, wer es sonst gesehen hätte, vor Schrecken umgesunken sein würde. Und so lief es im höchsten Grimme mit offenem Rachen auf ihn zu. Obwohl nun der Ritter ganz flink der Bestie den Fang zu geben versuchte, indem er sein Schwert behend auszog und mit demselben auf solche stieß und zuschlug, auch ihr gar damit in den Rachen hinabrannte, so wollte es doch auf keine Weise bei durch Zauberkünste festgemachten Untier verfangen; der Ritter aber wurde immer müder und entkräfteter, weil Stahl und Eisen nicht tüchtig genug waren, es zu verwunden. Endlich, als er das Schwert mitteninne in der halben Tiefe des Rachens stecken hatte, ergriff das Tier dasselbe mit seinen Zähnen, biß es in zwei Stücke, ließ voll Grimm ein schreckliches Gebrüll hören und verschlang plötzlich den armen Ritter, welcher so große Taten verrichtet und es weiter gebracht hatte als irgendeiner vor ihm. Und jedermann bedauerte und beklagte ihn hernachmals.

Der Wegweiser hatte sich zwei Tage und Nächte lang müde gewartet und war des Harrens samt dem Pferd ganz überdrüssig geworden; er setzte sich endlich auf das Roß und kehrte ohne seinen Herrn nach England zurück, um daselbst zu erzählen, daß sein Herr nicht aus dem Berge zurückgekehrt und ohne allen Zweifel verloren sei, ohne daß er den Hergang der Sache selbst recht gewußt hatte.

Es fügte sich aber, daß er von ungefähr zu einem weltweisen Manne,



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der Melisa Jünger hieß, geriet. Dieser hatte lang bei dem Berge in Aragonien gesessen und kannte alle Lage und Örtlichkeit daselbst. Weil dieser unter anderem Wissen auch in der schwarzen Kunst wohlerfahren war und sie vollkommen erlernt hatte, entdeckte er dem Wegweiser in Kraft seiner Wissenschaft alles klar: daß nämlich sein Herr, der Ritter von England, mit welchem er nach Aragonien gereist, mit verschiedenen wilden Tieren gestritten und sie überwältiget, zuletzt aber von einem ganz ungeheuern und wunderbaren Tier auf jenem Berge verschlungen worden sei. Der Führer glaubte dem Weisen als einem geborenen Spanier, der über zwanzig Jahre jener Wissenschaft obgelegen, und machte die ganze Sache kund, wo er immer hinkam, so daß das Gerücht davon in ganz England erscholl.

Ein anderer kühner Ritter, aus Ungarn gebürtig, nahm sich nun ebenfalls vor, den Kampf zu vollziehen und den Schatz zu erobern. Allein ehe er noch zwanzig Schritt den Berg hinangestiegen, siehe, da war der eingebildete Sieger schon besiegt und von einem abscheulichen Lindwurm umgebracht; wo nicht gar auch verschlungen worden. Er hatte es also mit seinem Siege lange nicht so weit gebracht als der englische Ritter; diesem freilich war vor und nach keiner gleichgekommen, und er würde unfehlbar den verborgenen Schatz erreicht haben, wenn er nur dem Geschlechte des norheimischen Königs Helmas angehört hätte.



***
Als sich nun einstens auch Geoffroy, der allertapferste Held und Riesenstreiter zu Lusinia, in seines Schlosses Lustgarten bei einem Bankett in guter Gesellschaft fröhlich erzeigte, da geschah es, daß ein Bote herangeeilt kam, welcher gewiß sonderliche Neuigkeiten oder wichtige Sachen zu überbringen haben mußte. Als dieser dem Schlosse näher kam, ließ Geoffroy ihm alsobald entgegengehen und ihn befragen, was für einen wichtigen Auftrag er auszurichten hätte, daß ihn der Weg an diesen abgelegenen Ort führe.

"Ich soll", sprach der Bote, "einen Ritter und beherzten Mann aufsuchen, welcher das Land Aragonien von einem unruhigen Verggeiste, um welchen herum sich auch noch giftige Würmer und grausame Bestien aufhalten, worüber schon viele tapfere Ritter ihr Leben eingebüßt haben, zu erlösen imstande ist!" Das berichtete der Diener dem Grafen, wie es der Bote ihm gemeldet; darauf ließ Geoffroy diesen auf der Stelle rufen und vernahm dieselbe Kunde genauer aus seinem Munde. Namentlich fügte er die Nachricht von dem Unglücke bei, welches die beiden Ritter aus



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England und Ungarn betroffen hätte, und daß den Schatz niemand heben könne, der nicht aus dem Geschlechte des Königes Helmas entsprungen sei.

Auf diesen Bericht, der dem Geoffroy schon genug war, hieß er alsobald alle Fröhlichkeit einstellen, befahl, dem Boten Speise und Trank zu reichen, ließ viel Volk seines Landes die Pferde rüsten und sich fertighalten und schickte ein Schreiben an seinen Bruder Dietrich ab mit dem Berichte, daß er unverzüglich zu ihm kommen und auf kurze Zeit die Regierung des Landes anstatt seiner übernehmen möchte, bis er von einer notwendigen Reise glücklich zurückgekehrt sein würde.

Dietrich fand sich auf diesen Ruf in aller Schnelligkeit ein, und es wurde ihm von Geoffroy das Regiment übergeben. Zu dem Boten aber sagte der Graf: "Verziehet, Ihr Laufer, und scheidet nicht von hier, bis ich selbst aufbreche; denn ich bin gesonnen, Euer Land mit Gottes Hilfe von jenem Übel zu erlösen!" Darüber freute sich der Bote heimlich in seinem Herzen.

Aber wie eitel und nichtig sind doch aller Menschen Anschläge gegen den verborgenen Ratschluß Gottes! Dies mußte Geoffroy an seinem eigenen Beispiel innewerden. Denn als alles zum Aufbruch fertig und bereit stand, siehe, da kam ein anderer Bote, welcher sein Anbringen und seine Abfertigung noch vor dem aus Aragonien beschleunigt wissen wollte.

Dieser Bote war der Tod; denn Geoffroy erkrankte jählings, und weil er schon ziemlich bei Jahren war, auch sich durch viele ritterliche Taten sehr abgemattet hatte, so nahm seine Krankheit immer mehr und mehr zu, so daß er in kurzem starb und die aragonische Vergreise mit einer am dern, mit der Reise zum Grab, vertauschte. Er wurde wegen seiner löblichen Taten von jedermann höchlich beklagt, und alle Welt meinte, er sei noch zu frühe gestorben, weil er besonders in der Grafschaft Poitiers mehrere Kirchen und Kapellen zu bauen angefangen hatte und dieselben noch nicht in vollkommenem Stande waren. Auch hatte er noch vorher viel anderes Rühmliche getan und gestiftet. Das alles blieb jetzt abgestellt und unausgebaut.

Nach Geoffroys seligem Ende war sein Bruder Dietrich der einzige Erbe aller seiner Güter; dieser regierte sehr löblich und klug, teilte das Erbe, das ihm zugefallen, in vier Teile und gab sie nachmals seinen Kindern zur Morgengabe; denn er zeugte vier Söhne, die alle gar tapfre und berühmte Helden wurden.



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Diese Geschichte hat einer aus dem Lusinischen Geschlechte, Wilhelm von Portenach mit Namen, vor vielen hundert Jahren zuerst in welscher Sprache geschrieben; und damals war dies edle Geschlecht in vielen Stämmen über viele Lande ausgebreitet und mit Königen und Fürsten und uralten Geschlechtern befreundet und verwandt.


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