Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DES BARBIERS ERZÄHLUNG VON SEINEM VIERTEN BRUDER

Was nun meinen vierten Bruder angeht, o Beherrscher der Gläubigen, den Einäugigen, so war er Schlächter in Baghdad; und er verkaufte Fleisch und zog Lämmer auf, und die Großen und Reichen kauften ihr Fleisch von ihm, so daß er großen Reichtum gewann und Lasttiere und Häuser erwarb. So lebte er eine lange Zeit, bis eines Tages, als er bei seinem Laden saß, ein Greis mit langem Bart an ihn herantrat, der ihm einige Dirhems hinlegte und zu ihm sprach: ,Gib mir Fleisch dafür!' Und er gab ihm Fleisch für sein Geld, und der Alte ging seiner Wege. Mein Bruder aber prüfte das Silber des Scheichs, und als er sah, daß die Dirhems weiß und glänzend waren, legte er sie an besonderer Stelle nieder. Fünf Monate lang kam der Alte regelmäßig wieder, und mein Bruder legte alles Geld, das er von ihm erhielt, in einen besonderen Kasten. Schließlich aber wollte er das Geld herausnehmen, um Schafe dafür zu kaufen. Er öffnete den Kasten und fand nichts darin als rundgeschnittene Stückchen Papier; da schlug er sich das Gesicht und schrie laut



1000-und-1_Vol-01-382 Flip arpa

auf, so daß das Volk sich um ihn sammelte, und er erzählte ihnen seine Geschichte, und alle erstaunten darüber. Mein Bruder machte sich aber an seine gewohnte Arbeit, schlachtete einen Widder und hängte ihn in seinen Laden; und er schnitt ein wenig von dem Fleisch ab und hängte es draußen auf, indem er bei sich sagte: ,O Allah, wenn doch der Unglücksalte käme!' Und es dauerte nicht lange, so kam der Scheich, mit dem Silber in der Hand. Da sprang mein Bruder auf, packte ihn und begann zu schreien: ,Kommt mir zu Hilfe, ihr Muslime, und hört, was mir von diesem Schurken geschah!' Wie der Alte seine Worte hörte, sagte er zu ihm: ,Was ist dir lieber? Daß du von mir ablässest oder daß ich dich vor allem Volk bloßstelle?' ,Wodurch könntest du mich bloßstellen?' ,Dadurch, daß du Menschenfleisch für Hammelfleisch verkaufst!' ,Du lügst, Verfluchter!' ,Nein, nur der ist der Verfluchte, in dessen Laden ein Mensch auf gehängt ist.' ,Wenn es so ist, wie du sagst, so soll mein Geld und mein Blut dir verfallen sein.' Da rief der Alte: ,Ihr Leute, wenn ihr euch von der Wahrheit meiner Worte überzeugen wollt, so tretet in seinen Laden ein.' Da stürzte das Volk in den Laden meines Bruders, und alle sahen dort einen Menschen hängen, in den der Widder verwandelt war. Bei diesem Anblick fielen sie denn über meinen Bruder her und schrien ihn an: ,O du Ungläubiger, du Schurke!', und seine besten Freunde begannen ihn zu schlagen und zu stoßen und sagten: ,Gibst du uns das Fleisch von Menschenkindern zu essen?' Und der Alte schlug ihn gar auf das eine Auge, so daß es auslief.

Die Leute nun trugen jenen geschlachteten Menschen vor den Hauptmann der Stadtwache, und der Alte sagte zu ihm: ,O Emir, dieser Bursche schlachtet Menschen und verkauft ihr Fleisch als Hammeifleisch, deshalb haben wir ihn vor dich geführt;



1000-und-1_Vol-01-383 Flip arpa

wohlan, vollstrecke das Recht Allahs, des Allmächtigen und Glorreichen!' Mein Bruder wollte sich verteidigen; doch der Hauptmann hörte ihn nicht an, sondern verurteilte ihn zu fünfhundert Stockschlägen. Man nahm ihm auch all sein Geld; und wäre das Geld nicht gewesen, so hätte man ihn totgeschlagen. Da machte mein Bruder sich auf und wanderte alsbald fort, bis er in eine große Stadt kam, wo er es für das Beste hielt, sich als Schuhflicker niederzulassen; und er tat einen Laden auf und setzte sich hinein und arbeitete so viel, daß er davon leben konnte.

Doch eines Tages, als er in Geschäften ausging, hörte er Pferdegetrappel, und er fragte nach dem Anlaß und erhielt zur Antwort, der König ziehe aus zu Hatz und Jagd; da blieb mein Bruder stehen, um sich die königliche Pracht anzusehen. Nun aber traf es sich, daß das Auge des Königs auf das leere Auge meines Bruders fiel; sofort senkte der König den Kopf und sprach: ,Ich nehme meine Zuflucht zu Allah vor dem Unglück des heutigen Tages!' Er wandte die Zügel seines Rosses und kehrte mit allem Gefolge zurück. Dann gab er seinen Wachen Befehl; die ergriffen meinen Bruder und versetzten ihm so schmerzhafte Schläge, daß er halb tot war, ohne zu ahnen, weshalb das alles geschah. Darauf kehrte er, ganz gebrochen, nach Hause zurück. Dann ging er zu einem aus der Umgebung des Königs und erzählte ihm, was ihm widerfahren war; der andere lachte, bis er auf den Rücken fiel, und sagte: ,Mein Bruder, wisse, der König kann es nicht ertragen, einen Einäugigen anzusehen, und besonders dann nicht, wenn er auf dem rechten Auge blind ist; dann läßt er ihn nicht gehen, ohne ihn durchprügeln zu lassen.' Als mein Bruder diese Worte hörte, beschloß er, sogleich aus jener Stadt zu entfliehen; so machte er sich denn auf, zog fort von da und wandte sich einer anderen



1000-und-1_Vol-01-384 Flip arpa

Gegend zu, wo ihn niemand kannte, und dort wohnte er eine lange Zeit.

Darauf nun ging mein Bruder eines Tages in Gedanken über seine Lage aus, um sich zu zerstreuen; plötzlich hörte er Pferdegetrappel hinter sich und rief: ,Allahs Gericht ist über mir!' Und er sah sich nach einem Versteck um, doch er fand keines. Schließlich bemerkte er eine geschlossene Tür und stemmte sich dagegen; und als sie umfiel, trat er ein und sah einen langen Gang, in dem er Zuflucht suchte; doch ehe er sich dessen versah, fielen zwei Männer über ihn her und schrien ihn an: ,Allah sei Dank, der dich in unsere Hände gegeben hat, du Feind Gottes! Drei Nächte lang hast du uns Ruhe und Schlaf geraubt, so daß du uns fast den Tod hast kosten lassen!' Da fragte mein Bruder: ,O ihr Leute, was ist's mit euch? 'Und sie erwiderten: ,Du täuschest uns und willst Schande über uns bringen, und du spinnst Ränke, um den Herrn des Hauses zu ermorden! Genügt es nicht, daß du ihn zum Bettler gemacht hast, du mit deinen Genossen? Aber jetzt gib uns das Messer, mit dem du uns jede Nacht bedrohst.' Und sie durchsuchten ihn und fanden in seinem Gürtel ein Messer; doch er sagte: ,O ihr Leute, fürchtet Allah in meiner Sache; denn wisset, meine Geschichte ist höchst seltsam!' ,Und wie ist deine Geschichte?' fragten sie; da erzählte er ihnen, was ihm widerfahren war, in der Hoffnung, sie würden ihn gehen lassen; aber sie hörten nicht auf die Worte meines Bruders und kümmerten sich nicht um ihn, sondern sie schlugen ihn und rissen ihm die Kleider herab; und als sie auf seinen Flanken die Narben der Ruten fanden, da sagten sie: ,Verfluchter, diese Narben verraten dich!' Dann führten sie ihn vor den Präfekten, derweilen er zu sich selber sagte: ,Jetzt werde ich für meine Sünden bestraft, und niemand kann mich befreien als Allah der Erhabene!' Der Präfekt aber sprach



1000-und-1_Vol-01-385 Flip arpa

zu meinem Bruder: ,Du Schurke, was trieb dich dazu, mit der Absicht des Mordes in dieses Haus einzudringen?' Und mein Bruder erwiderte: ,Ich beschwöre dich bei Allah, o Emir, höre meine Worte an und sprich mir nicht übereilt das Urteil !'Doch der Präfekt rief: ,Sollen wir auf die Worte eines Räubers hören, der diese Leute zu Bettlern gemacht hat und der auf dem Rücken die Narben von Streichen trägt?', und er fügte hinzu: ,Man hat dir das gewißlich nur wegen eines schweren Verbrechens angetan.' Und er verurteilte ihn zu hundert Geißelhieben. Darauf erhielt mein Bruder hundert Geißelhiebe, und dann setzten sie ihn auf ein Kamel und riefen vor ihm aus: ,Dies ist die Strafe, und zwar die geringste Strafe für den, der in der Leute Häuser einbricht!' Darauf trieben sie ihn auf Befehl des Präfekten zur Stadt hinaus, und mein Bruder wanderte aufs Geratewohl dahin. Als ich jedoch von seinem Geschick hörte, zog ich ihm nach und fragte ihn nach seinen Erlebnissen; er erzählte mir seine Geschichte und alles, was ihm widerfahren war. Und ich zog mit ihm umher, während die Leute ihn verspotteten, bis sie ihn endlich in Ruhe ließen. Dann führte ich ihn heimlich in diese Stadt zurück und gab ihm ein Taggeld, daß er essen und trinken kann.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt