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Die deutschen Volks-Bücher


wiedererzählt von Gustav Schwab


Genoveva

Mit Bildern von Adolf Ehrhardt



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Unter die Zahl der Frauen, die von ihren Männern unschuldigerweise verfolgt worden sind, gehört auch die tugendreiche und geduldmütige Genoveva, deren Geschick ebenso traurig als die Erzählung davon anmutig ist. Diese Geschichte hat sich zu den Zeiten des Bischofs Hidulfus von Trier zugetragen . Damals lebte im trierischen Lande ein vornehmer Graf, namens Siegfried, der mit Genoveva, der Tochter des Herzogs von Brabant, einem sehr reichen und tugendhaften Fräulein, vermählt war. Dieses junge Ehepaar lebte in lauter Liebe und Freundlichkeit beisammen, als der Mohrenkönig Aberofam mit großer Macht in Spanien einfiel, und nachdem er das Land verheert hatte, auch in Frankreich einbrechen wollte. Als nun Martellus, der König in Frankreich, die große Gefahr vor Augen sah, befahl er allen ihm untergebenen Fürsten und Grafen, daß sie ihm Hilfe leisten und gegen den Mohrenkönig streiten sollten . Weil aber das Gebiet von Trier damals zum Frankenreiche gehörte, so mußte auch der Graf Siegfried mit zu Felde ziehen. Als er sich nun mit den Seinigen zum Feldzug aufmachte und von seiner Gemahlin Abschied nehmen wollte; da war es recht betrübt anzusehen, von welchem Schmerze die Gräfin ergriffen wurde, so daß sie mit ihren bittern Zähren alle Gegenwärtigen zum Mitleid bewegte. Ja, als ihr der Graf die Hand gab und die letzte gute Nacht sagte, wurde sie von solchem Herzeleid überfallen, daß sie vor Ohnmacht halbtot darnieder sank. Der Graf suchte sie zu trösten, aber alle seine Worte waren traurig. Endlich befahl er sie der Heiligen Jungfrau Maria, sie in seiner Abwesenheit zu beschützen. "Auch hinterlasse ich Euch", fügte er hinzu, "meinen getreuesten Diener, den Golo, dieser wird Euch in meinem Namen auf das eifrigste dienen und für alle Eure Bedürfnisse besorgt sein." Genoveva konnte vor Tränen



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kein Wort reden, sondern fiel wieder in den Arm ihrer Dienerinnen. Deswegen wandte sich der Graf Siegfried um ohne weitern Abschied und ritt, bitterlich weinend, von ihr hinweg.



***
Der Graf war mit den Seinigen im königlichen Lager angekommen, und alle Fürsten und Herren hatten sich allmählich versammelt. Dazog König Martellus mit sechzigtausend Mann Fußvolks und zwölftausend Reitern gegen das Lager der Barbaren, welche wohl viermal stärker waren. Dennoch verlieh ihm Gott großes Glück, und seine Krieger schlugen so tapfer auf den Feind, daß an die hunderttausend Mohren auf dem Platze blieben, während die Christen nur wenig Tausende verloren. Die übriggebliebenen Feinde samt ihrem Könige flohen in die Stadt Agion und wehrten sich darin so tapfer, daß die Christen sie dort lange belagern mußten. Dadurch geschah es, daß auch Graf Siegfried länger ausbleiben mußte, als er vermeint hatte, indem sich seine Rückreise über ein ganzes Jahr verschob. Die Gräfin wurde über dieses lange Ausbleiben immer betrübter und hatte keinen andern Trost in der Welt als in Gott und im heiligen Gebet. Sie führte ein ganz frommes und tugendseliges Leben und hielt auch alle ihre Diener zur Andacht an. Aber der leidige Satan, dem ihre Tugend ganz zuwider war, sann auf alle Weise, wie er sie stürzen und wenigstens vor der Welt in Schande bringen könnte. Dies suchte er durch folgendes Mittel ins Werk zu richten.

Weil der Graf bei seiner Abreise seine geliebte Genoveva dem Hofmeister Golo anempfohlen hatte, der täglich um sie war und ihr aufwartete; siehe, da entzündete der Böse das Herz dieses jungen Dieners mit einer unlautern Liebe gegen seine Gebieterin und erfüllte sein Herz mit solcher Begierlichkeit, daß er endlich nicht länger an sich halten konnte, sondern auf allerlei Weise anfing, der Gräfin seinen bösen Willen merken zu lassen. Sobald die unschuldige Frau dies bemerkte, sprach sie mit zornigen Worten zu ihm: "Schämst du dich nicht, leichtfertiger Diener, dir solche Gedanken kommen zu lassen, und ist dies die Treue, die du deinem Herrn versprochen hast, das der Dank, den du ihm für seine Liebe erweisest? Wenn dich deine Torheit nicht gereuen soll, so wage nicht mehr, von solchen Dingen zu mir zu reden!"

Der gottlose Golo erschrak über diese Antwort und wagte lange kein Wort mehr. Die fromme Genoveva aber glaubte, seine bösen Gedanken seien verschwunden, und fing wieder an, freundlicher mit ihm umzugehen; da wurde seine verkehrte Neigung durch den täglichen Umgang immer



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mehr entflammt; als sie nun einst ihr eigenes Bild, das sie kürzlich für den Grafen hatte malen lassen, beschaute, und Golo von ungefähr dazu kam, fragte ihn die Gräfin, ob er meine, daß diesem schönen Gemälde noch etwas fehlte. Da sprach er mit wilder Gier: "Gräfin, diesem Bilde kommt nichts an Schönheit gleich, und doch fehlt ihm eines, nämlich daß es nicht lebend ist und mir, mir eigen gehört!" Bei diesen frechen Worten stieg der Gräfin der rote Zorn ins Angesicht, und sie schalt ihn so streng, daß er ganz beschämt davon ging. Doch vermochte dieser Verweis das Feuer der Leidenschaft in seinem Herzen nicht auszulöschen, und als einst die Gräfin nach dem Abendmahle allein in dem Schloßgarten wandelte, trat er ihr allgemach näher, schmeichelte ihr mit den süßesten Worten und gab ihr endlich nicht undeutlich zu verstehen, wie er von solchem Liebesbrande verzehrt werde, daß er vor der Zeit sterben müßte, wenn seine Glut keine Gegenliebe fände.

Über so unumwundene Worte wurde die züchtige Gräfin mehr als je entrüstet und schwur ihm ernstlich zu, wenn er ein einziges Mal mit Worten oder Zeichen Ähnliches verlangen würde, so werde sie unwiderruflich solches ihrem Herrn und Gemahl berichten. Jetzt merkte Golo freilich, daß er keine Hoffnung habe, das Ziel seiner unlautern Wünsche zu erreichen; darum verkehrte sich seine Liebe in grimmigen Haß, und alle seine Gedanken vereinigten sich in dem einzigen, wie er sich an der Gräfin rächen könnte. Er lauerte auf all ihr Tun und Lassen, und endlich entdeckte er, daß sie eine besondere Zuneigung für einen ihrer Köche zeigte, mit Namen Drago, weil dieser in aller seiner Einfalt ein frommer und andächtiger Mann war. Diesem gottseligen Menschen war die Gräfin mehr gewogen als allen anderen Hofdienern: sooft sie vorüberging, redete sie ihn an, und wo sie ihm einen Gefallen tun oder ihn in einer Widerwärtigkeit trösten konnte, da tat sie es mit herzlichem Wohlgefallen. Der unreine Golo aber legte dieses ehrbare Wohlwollen nach seiner wilden Liebe aus und fand darin die rechte Gelegenheit, seine Gebieterin zu verklagen. Zuerst eröffnete er zu wiederholten Malen vertrauten Freunden, daß ihm das liebreiche Betragen der Gräfin gegen den Koch sehr verdächtig vorkomme, und daß er fürchte, es möchte zu einem übeln Ende ausschlagen. Er bat sie auch, etwas genauer Achtung zu geben und die Liebkosungen der Frau zu beobachten; sie würden dann selbst sehen, was von dieser Vertraulichkeit zu denken sei. Mit dergleichen Worten wußte er die Tugend der Gräfin bei einigen Dienern zu verdächtigen und richtete so viel aus, daß er endlich einige auf seine Seite brachte. Einsmals sagte er dem Koch, die



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Gräfin, die damals gerade allein auf ihrem Zimmer war; verlange nach ihm. Der ehrliche Mensch glaubte dieses und eilte zu Genoveva. Da kam denn der Golo herbei, überraschte den Koch bei der Gräfin und ging, ohne ein Wort zu sprechen, wieder zu dem Zimmer hinaus. Ihm folgte der Koch auf dem Fuße, sobald er vernommen, daß die Gräfin ihn nicht gerufen hätte. Sogleich berief Golo seine Vertrauten und klagte ihnen mit erheucheltem Zorne, daß der Koch bei der Gräfin im Gemach getroffen
worden sei. "Was ist hier Rates, meine lieben Freunde", sagte er, "was Rates? Wenn wir dem übel nicht abhelfen, wird ein größeres daraus werden, und wir werden bei der Zurückkunft unseres Herrn nicht bestehen können. Ich bin gewiß, der elende Koch hat unsere Herrin verzaubert und ihr einen Liebestrank unter die Speisen gemischt, und deswegen kann sie nicht von ihm lassen, wenn es ihr auch Ehre und Leben kosten sollte. Darum ist es wohl ratsam, daß man den Koch ins Gefängnis werfe, die Gräfin aber insoweit beaufsichtige, daß ihr der Zugang zu dem Menschen versperrt sei."

Die Freunde erwiderten dem Hofmeister, weil ihm der Graf die Sorge für die Gräfin aufgetragen habe, so solle er tun, was ihm am ratsamften zu sein dünke. Hierauf ließ Golo den Koch rufen, fuhr ihn mit rauhen



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Worten an und warf ihm vor, daß er die Gräfin bezaubert und Liebespulver in ihre Speisen gemischt habe; darum verdiene er, in Eisen geschmiedet und in den tiefsten Turm geworfen zu werden. Vergebens schwur der erschrockene Drago, daß er an solcher Sünde ganz unschuldig sei, und nahm Himmel und Erde zu Zeugen, daß ihm niemals in den Sinn gekommen, sich so an seinem Herrn, dem Grafen, zu versündigen: er ward in Bande und Kerker geworfen und ging nicht eher wieder daraus hervor, als bis man ihn tot heraustrug.

Mit dieser Grausamkeit war der ruchlose Golo noch nicht zufrieden, sondern er stürmte mit einigen seiner Helfershelfer in das Zimmer der Gräfin und rief ihr zu, daß er ihrer verdächtigen Gemeinschaft mit dem Koche Drago nun genug zugesehen habe und, wenn er vor seinem Herrn bestehen wollte, dieses Ärgernis nicht länger dulden könne. Darum sollte auch sie, die den Bund der Ehe gebrochen, ins Gefängnis gelegt und vor weiterer Verfügung des Grafen nicht aus demselben entlassen werden. So wurde die hohe Gräfin, die im achten Monate schwanger ging, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, vielmehr wegen Verteidigung ihrer Unschuld von ihrem eigenen Diener, der ihr zum Schutze beigegeben war, gefangengeführt und in einen festen Turm verriegelt.



***
Genoveva erzählte den einsamen Kerkerwänden ihre Unschuld, und die heiligen Engel trugen ihre Klage vor Gottes Thron. Niemand besuchte sie in dem finstern Turm als die Säugamme des bösen Hofmeisters, welche der gefangenen Gräfin täglich eine geringe Nahrung brachte. Endlich erschien auch Golo selbst zu wiederholten Malen und wandte alle Mittel an, das reine Herz seiner unlautern Liebe geneigter zu machen. Er drang mit guten und bösen Worten in sie; er lockte mit Verheißungen und schreckte mit Drohungen; er schmeichelte ihr, als ein erfahrener Buhler, und doch richtete er mit allem diesem nichts weiter aus, als die Gräfin immer standhafter zu machen. Als er nun einst gar seinen Arm um sie schlingen wollte, da stieß sie ihn mit starker Hand von sich und sprach zu ihm: "Du Bösewicht! ist es dir nicht genug, daß du mich Unschuldige in den Kerker geworfen hast, willst du mich auch noch um meine Ehre und meine Seligkeit bringen? Doch sei versichert, daß du dich betrogen findest; denn ich bin bereit, lieber tausendmal zu sterben, als das geringste wider meine Ehre und meine Frauenunschuld zu begehen!" Durch diese Sprache hätte Golo billig abgeschreckt werden sollen; dennoch gab er seine Hoffnungen nicht auf, sondern bestach seine Amme durch das Versprechen großer Vergeltung,



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wofern sie etwas bei der Gräfin ausrichten könnte, daß das lose Weib, sooft es der Gefangenen Speise brachte, ihr mit Worten anlag, sie sollte dem Hofmeister doch wenigstens freundliche Worte geben, damit sie ihrer Gefangenschaft ledig oder zum mindesten mit besserer Nahrung versorgt würde. Aber die standhafte Frau war entschlossen, lieber im Kerker Hungers zu sterben, als ihren Gott zu erzürnen und ihr Gewissen zu beflecken.

Inmittelst nahte die Zeit ihrer Entbindung heran, und die geängstete Frau bat ihre Aufwärterin, die Säugamme, ihr doch nur ein paar Frauen zu verschaffen, die ihr bei dieser ersten Geburt beistehen könnten Das boshafte Weib verwilligte ihr aber nicht nur dieses nicht, sondern sie gab
ihr nicht einmal eine Windel, das Kind, dessen sie genesen sollte, dareinzuwickeln . So war Genoveva in der Stunde der Geburt ganz verlassen; doch gebar sie leicht und ohne Gefahr einen feinen, kräftigen Sohn, den sie, weil sie keine Windeln hatte, in ein Handtuch, das man ihr gelassen, einzuwickeln genötigt war. Nun bat sie inständig, daß man das arme Kind zur heiligen Taufe tragen möchte; weil ihr aber auch dieses verweigert wurde, taufte sie es selbst und gab ihm den Namen Schmerzen- Darnach nahm sie es auf ihre Arme, drückte es an ihr Herz, begoß es mit ihren Zähren und sprach mit großem Mitleiden: Ach, du mein armes Kind, du mein einziger Schatz! Mit Recht nenne ich dich Schmerzenreich ; denn mit Schmerzen habe ich dich unter dem Herzen getragen und mit Schmerzen geboren; aber mit noch größeren Schmerzen werde ich dich erziehen; mit unsäglichem Schmerz werde ich dich verschmachten sehen;



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denn aus Mangel an Nahrung werde ich dich nicht sättigen können; habe ich doch kaum selbst so viel, mein Leben erhalten! Du armer Schmerzenreich , du unglückseliges Kind!"

Die von Golo aufgestellte Wärterin brachte inzwischen diesem die Nachricht, daß von nun an zwei Gefangene in dem Kerker seien, daß die arme Gräfin vor Herzeleid fast verschmachte, und daß ihr wohl eine bessere Labung zu gönnen wäre, damit sie sich und das schwache Kind ernähren könnte. Aber der unbarmherzige Mann hatte weniger Mitleid mit der trostlosen Kindbetterin, als wenn sein Hund Junge geworfen hätte; denn er hoffte, durch dieses äußerste Elend sie zu seiner Liebe zu zwingen. Doch damit sie nicht gar verschmachtete, ließ er ihr etwas mehr Brot geben als zuvor, sonst aber neben dem Wasser gar nichts weiter, und anstatt des Trostes speiste sie der Unmensch mit Schmähworten.



***
Von allem dem, was vorgegangen war, hatte der Graf Siegfried noch nichts vernommen; denn aus Furcht vor dem Hofmeister wagte niemand aus dem Schlosse, ihm etwas davon zu schreiben. Seine Abwesenheit verzögerte sich auch noch länger, als er gehofft hatte, weil er vor Agion eine Wunde bekommen, die gar langsam zu heilen war. Golo aber, damit er die Mißhandlung der Gräfin bei ihm rechtfertigen möchte, fertigte zwei Monate nach Genovevas Niederkunft einen Diener ab, der dem Grafen die Botschaft von allem, was sich ereignet hatte, überbringen sollte. Der Inhalt des Briefs, den er an den Grafen schrieb, war dieser: "Gnädiger Herr! Wenn ich nicht fürchtete, Euch zu betrüben, so wollte ich Euer Gnaden eine Sache, welche ich mit allem Fleiß zu verhehlen suche, in diesem Brieflein offenbaren. Alle Hausgenossen, und sonderlich der überbringer dieses, haben sich mit mir die äußerste Mühe gegeben, ein großes Unheil zu verhüten; dennoch ist alle meine Aufsicht durch die List der Boshaftigen hintergangen worden, dafür bedarf ich kein anderes Zeugnis, als das mir alle Schloßbewohner geben können, wodurch hoffentlich meine Treue außer Argwohn gesetzt und mein Diensteifer beglaubigt werden wird. Belieben dafür Euer Gnaden, von dem Boten, den ich sende, ausführlichen Bericht anzunehmen und seinen Erzählungen vollen Glauben zu schenken und mir durch denselben Diener Eure Befehle kundzutun, wie ich mich in dieser schweren Sache verhalten soll."

Diesen Brief erhielt der Graf gerade damals, als er in einer Stadt im Languedoc die Wunde, die er empfangen hatte, heilen ließ. Er ward durch diese Nachricht so entrüstet und verstört, daß seine Wunde nur unheilfarner



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und der Schaden größer wurde. Der Diener erzählte ihm nämlich ausführlich, was für verdächtige Gemeinschaft die Gräfin mit dem Koch die ganze Zeit über gehabt, und wie der .Hofmeister sie allein mit ihm in der Kammer überrascht habe. Weil sie nun beide auf öfteres Vermahnen nicht voneinander hätten lassen wollen, so habe sich der Hofmeister genötigt gesehen, sie voneinander zu trennen und in zwei verschiedene Gefängnisse sperren zu lassen. Hier im Kerker habe sie einen Sohn geboren, und alles im Schlosse wisse, wessen das Kind sei. Der Graf fragte, zu welcher Zeit die Gräfin das Kind geboren hätte. Da sprach der Diener fälschlich, es sei erst ein Monat verflossen, wiewohl sie schon vor zwei Monaten geboren hatte. Da fing der Graf an zu rasen, als wenn er wahnsinnig wäre, und lästerte die Gräfin samt dem Koch Drago, als ob sie die schlimmsten Ehebrecher wären. "Du verruchtes Weib", sprach er, "sollst du die versprochene Treue so schändlich brechen? Und stellest dich bei mir an, als wenn du ganz heilig wärest!" In solchen Worten machte sich sein Zorn Luft, und nachdem er sich lange besonnen, auf welche Weise er den begangenen Ehebruch abstrafen wollte, schickte er den Diener mit dem ausdrücklichen Befehle zurück: Golo solle die Gräfin so eng einschließen , daß niemand mit ihr reden noch zu ihr kommen könne. Den ehebrecherischen Koch aber sollte er mit der Marter hinrichten lassen, die seine Missetat verdient habe.

Mit diesem ungerechten Befehl eilte der Abgesandte nach Hause, und Golo wußte ihm großen Dank, daß er seinen Auftrag so treulich ausgerichtet habe. Damit nun die Hinrichtung Dragos kein Aufsehen verursachte, ließ er dem armen unschuldigen Koch Gift in seine Speise mengen und, als er daran jämmerlich gestorben, denselben mitsamt den Ketten , in denen er gefangen lag, in einer abgelegenen Grube beerdigen. Die Gräfin aber brauchte nicht enger eingeschlossen zu werden, als sie zuvor war, weil ja von Anfang an niemand als Golo und seine falsche Amme zu ihr gekommen war. Und doch war der Bösewicht mit dieser grausamen Behandlung noch nicht zufrieden; denn er fürchtete immer, seine List und Falschheit möchten durch Genoveva endlich an den Tag kommen. Auch fehlte es nicht an Leuten im Schlosse, welche über die ungerechte Hinrichtung des Koches und das schwere Gefängnis der Gräfin aufgebracht waren; dazu lief die Nachricht ein, daß der Graf Siegfried von dem König in Frankreich seinen Abschied erhalten habe und bereits auf der Rückreise begriffen sei. Den Golo überlief ein kalter Schweiß; er mußte sich kurz besinnen, was in dieser mißlichen Lage anzufangen sei. Deswegen. setzte



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er sich eilends zu Pferde und ritt seinem Herrn entgegen; aber er traf ihn nicht eher, bis er schon zu Straßburg angekommen war.

In dieser Stadt wohnte eine alte Frau, die einen Schein von Heiligkeit von sich gab und für eine sehr gottselige Matrone gehalten wurde; es war dies die Schwester der Säugamme Golos, daher sie denn auch diesen seit vielen Jahren kannte. Zu ihr begab sich der Bösewicht, ehe er zu seinem Herrn, dem Grafen, ging, und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Sache; zugleich verlangte er von ihr, sie sollte gestatten, daß er den Grafen gegen Abend zu ihr brächte, da sollte sie ihm durch Kunst eine Vorspiegelung machen, daß er glaube, die Gräfin habe mit dem Koch gesündigt. Dafür gab er ihr ein Stück Geld, und dann verfügte er sich zu dem Grafen, ihn zu bewillkommnen. Nach Gruß und Gegengruß nahm ihn sein Herr beiseite und forderte vollständigen Bericht über den bösen Zustand; in welchem sich sein Haus befände. Der listige Golo stellte sich, als könnte er vor Leid kaum reden, und falsche Tränen gaben seinen Lügen einen Schein der Wahrheit. Er erzählte der Länge nach, nicht was die fromme Gräfin begangen, sondern was seine Bosheit ihr angedichtet hatte, und das mit so wohlausgesonnenen Beweisen, daß der gute Graf allmählich glaubte, es müsse alles wahr sein. Golo unterließ auch nicht hinzuzufügen, daß er den Koch ohne öffentlichen Prozeß habe hinrichten lassen, damit die Schande der Gräfin desto mehr bedeckt bleiben möchte.

Der Graf hörte alles mit tiefem Kummer an und verlangte immer wieder neue Beweise; als nun der Falsche bemerkte, daß seinem Herm Zweifel aufstiegen, und er in seinen eigenen Worten gefangen zu werden fürchtete, sprach er zu demselben: "Gnädiger Herr, solltet Ihr etwa gegen meine Worte ein Mißtrauen hegen, so ist in dieser Stadt eine ehrwürdige Frau, die wegen ihrer Gabe, verborgene Dinge zu offenbaren, berühmt ist; wolltet Ihr dieselbe umständlich befragen, so würdet Ihr durch sie gewiß vollständig vom Verlauf der Sache unterrichtet werden." Siegfried ließ sich den Vorschlag gefallen und ging mit einbrechender Nacht, von



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seinem Hofmeister begleitet, zu der Betrügerin. Dieser erzählte er offen, daß er einen Verdacht gegen seine Gemahlin hege, und bat sie, ihm vermöge ihrer Einsicht in die verborgenen Dinge zu entdecken, was sich zwischen der Gräfin und dem Koche zugetragen habe.

Die Frau erwiderte mit erheuchelter Demut: sie sei keine Heilige; soviel ihr jedoch Gott in dieser Sache offenbaren würde, wolle sie ihm gern entdecken . Alsdann führte sie beide Männer in einen dunkeln Keller hinab, in welchem ein grünes Licht brannte, das einen blauen Schein von sich gab. Hier beschrieb sie mit einem kleinen Stabe zwei Kreise auf dem Boden und stellte den Grafen in deren Mitte. Hierauf warf sie einen Spiegel in ein Geschirr voll Wasser, murmelte darüber so ungewöhnliche Worte, daß den Grafen ein Schauer ankam und ihm die Haare gen Berg zu stehen anfingen. Nach diesem drehte sie sich dreimal vor dem Geschirre um, hauchte dreimal darein, rührte es mit den Händen um und sprach einen wunderlichen, zauberischen Segen darüber. Auf ihr Geheiß blickte jetzt der Graf in das Wasser. Da glaubte er in dem Spiegel die Gestalten zweier Personen zu entdecken, die zärtlich miteinander sprachen, und je länger er hineinblickte, desto mehr war ihm, als gliche die Frau, die einen Mann mit lächelndem Angesicht liebkoste, seiner Gemahlin Genoveva, und als wäre der Mann sein Koch Drago. Doch sagte der Graf noch mit freundlichen Worten: "Ich sehe nichts Unrechtes." — "Gut", setzte die Zauberin hinzu, "wir wollen nun weiter sehen, ob es Gott vielleicht gefalle, uns ein mehreres zu zeigen." Sie wiederholte dann die vorigen Zeremonien und hieß den Grafen abermals ins Wasser sehen. Da mußte er mit eigenen Augen schauen, wie die Gräfin mit kosenden Händen dem Koch über die Wangen glitt und wiederholt ihm einen zärtlichen Kuß auf die Lippen drückte. Darüber wurde der Graf sehr schamrot und wartete mit Angst, was zum drittenmal in dem Spiegel erscheinen würde. Als er nun nach den alten Zeremonien zum letztenmal in den Spiegel sah, ward er zu seinem Entsetzen gewahr, daß der Koch mit seiner Gemahlin schändlicherweise sündigte.

Da kochte das Herz des Grafen von Rachgier. Er rief seinem Hofmeister zu: "Golo! Reite voran und laß die Ehebrecherin samt dem Bastard eines schimpflichen Todes sterben! Ich will sie nicht mehr am Leben treffen, wenn ich ankommet" Wer war froher als der rachgierige Golo, da er diesen Befehl vernahmt Er flog auf seinem Roß nach Hause, besprach sich schnell mit der Säugamme und teilte ihr im geheimsten Vertrauen das Bluturteil mit. Doch sollte sie keinen Menschen etwas davon



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wissen lasen, damit unter den Freunden der Gräfin und im Schlosse kein Aufruhr entstünde. Als Golo dies seiner Amme anvertraute, war niemand in der Stube als die kleine Enkeltochter der Frau, vor welcher sich beide wenig scheuten. Nun war das Mädchen wohl noch ganz klein, aber klug und der Gräfin, die es vom Hörensagen kannte und bemitleidete, mit mehr Neigung zugetan als seiner boshaftigen Großmutter. Dies Mägdlein schlich sich sogleich nach dem Kerker, stellte sich vor das kleine Fenster, durch das der Gräfin das Brot und Wasser hineingereicht wurde, und weinte so bitterlich, daß Genoveva es hörte und darüber erschrocken an das Fenster trat. Sie fragte das Mädchen mit freundlicher Stimme, warum sie denn so weine. Da antwortete das Kind: "Gnädige Frau l Euer großes Elend treibt mir diese Zähren aus den Augen; denn es ist mit Eurem Leben aus; Golo hat von unserm Herrn Befehl, Euch hinzurichten." Die Gräfin dachte nicht an sich, sondern nur an ihren Säugling: "Und wie wird es meinem Kinde gehen?" fragte sie. "Nicht besser als Euch!" erwiderte das Mädchen schluchzend.

Jetzt erst erschrak die arme Gräfin so, daß sie fast in Ohnmacht sank. Als sie wieder zu Sinnen gekommen, fing sie an laut zu weinen und zu beten und rief: "Ach, mein Gott, hilf mir! Erlöse mein Kind und mich vom grimmigen Tode!" Dann sprach sie zu dem Mägdlein: "Mein liebes Kind t geh doch schnell in mein Zimmer und bringe mir Papier, Feder und Tinte; für deine Mühe nimm dir von meinen Kleinodien, soviel dir beliebt . Da hast du den Schlüssel zu allem!" Das Mädchen brachte das Verlangte, und nun schrieb Genoveva einen Brief des folgenden Inhalts: "Gnädiger Herr, herzgeliebter Gemahlt Da mir zu Ohren gekommen ist, daß ich auf Euern Befehl sterben soll, so wollte ich Euch mit diesen Zeilen noch gute Nacht sagen und einen freundlichen Abschied von Euch nehmen. Ich will gerne sterben, wenn Ihr es befehlt, obgleich es mich bitter kränkt, daß Ihr mich, die Unschuldige, zum Tode verurteilet. Die Ursache, warum ich sterbe, ist die, daß ich meine Euch gelobte Treue nicht brechen und dem schändlichen Golo, Eurem Hofmeister; nicht willfahren wollte. Doch messe ich Euch, meinem Herrn, keine andere Schuld zu, als daß Ihr meinen Anklägern zu leichten Glauben geschenkt und mir zur Verantwortung keine Gelegenheit gegönnt habt. So kann ich nur vor Gott bezeugen, vor dessen strengem Gericht ich morgen schon erscheinen werde, daß ich mein Leben lang an keinen Mann gedacht habe als an Euch. Mein Trost bleibt, daß dereinst ein Tag aufgehen wird, an dem meine Unschuld hervorkommen und meiner Ankläger Falschheit offenbar werden wird. Gute Nacht,



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gnädiger Herr! liebster Freund! Ich verzeihe Euch von Herzen; ja noch nach meinem Tode will ich Gott bitten, daß mein unschuldiges Blut keine Rache über Euch noch über meine Ankläger schreie. Dies schreibe ich mit zitternden Händen und fließenden Augen; denn in meinem Herzen wohnt der Tod und erfüllt mich mit Schrecken. Eure bis in den Tod getreue und um der Treue willen zum Tode verdammte Genoveva."

Dies Briefchen gab sie dem Mägdlein, daß es dasselbe heimlich in das Gemach der Gräfin legen und keinem Menschen ein Wort davon offenbaren sollte. Die ganze folgende Nacht verlebte sie in eifrigem Gebet und befahl Gott ihren schweren Kampf und bevorstehenden Tod.



***
Am andern Morgen in aller Frühe berief Golo zwei von seinen getreusten Dienern und eröffnete ihnen den ernstlichen Befehl seines Herrn. Er hieß sie deshalb die Gräfin samt dem Kind in einen Wald hinausführen, daselbst umbringen und zum Wahrzeichen vollbrachten Befehls ihre ausgestochenen Augen mitbringen. Wenn sie dies tun würden, wollte er ihre Treue reichlich belohnen, widrigenfalls mit Weib und Kindern sie umbringen lassen. Die Diener unterwarfen sich dem Befehl und gingen alsbald zu der Gräfin Genoveva ins Gefängnis. Hier legten sie ihr ein schlechtes Kleid an, bedeckten ihr Angesicht, damit man sie nicht erkennen sollte, und befahlen ihr, in tiefster Stille ihnen folgen. Da ging die arme Genoveva wie ein unschuldiges Schaf zur Schlachtbank und tat ihren Mund nicht auf, sich mit einem einzigen Wörtlein zu beklagen, sie trug ihr kleines Lamm, ihr Söhnlein, auf den Armen und drückte es ohne Unterlaß an ihr Herz und flüsterte über demselben: "Ach, du mein herzliebstes Engelein, dürfte ich dich nur so lang noch auf meinen Armen tragen, als ich dich unter meinem Herzen getragen habe; nun aber mußt du sterben, ehe du weißest, was schuldig sein heißt, und mußt als schuldig leiden, da du doch niemals eine Schuld begangen hast!" Die Diener hörten diese leisen Worte, und ihr Herz wurde weich, so daß sie ein wahres Mitleiden mit beiden hatten, und es ihnen sehr schwer fiel, den Befehl ihres Herrn zu vollstrecken.

Nachdem sie nun den Wald und einen gelegenen Ort in demselben erreicht hatten, da sagten sie der Gräfin, ihr Herr habe verordnet, sie wegen vollbrachten Ehebruchs hinzurichten, und der Hofmeister Golo habe ihnen anbefohlen, dieses Gebot zu vollbringen. Darum sollte sie dieses grausame Schicksal nicht ihnen, den Dienern, zuschreiben und sich zu einem seligen Tode bereiten. Genoveva, dem Befehl ihres Herrn gehorsam,



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kniete demütig nieder und betete zu Gott aus dem Innersten ihres Herzens . Inmittelst ergriffen die Diener das unschuldige Kind, zogen ihre Messer hervor und wollten ihm den Hals abschneiden. Als die erschrockene Mutter dies sah, sprang sie von ihrem Gebet auf, fiel den Dienern in die Arme und rief mit gebrochener Stimme: "Haltet ein, haltet ein, o lieben Leute, schonet doch des unschuldigen Blutes, und wenn ihr das arme Kind töten wollt, so bringet mich zuvor um, damit ich nicht gezwungen werde, zweimal zu sterben!" Die Diener erhörten diese Bitte und hießen sie ihren Hals entblößen und zum Streiche darstrecken. Genoveva schauerte bei diesen
Worten zusammen, sie zitterte an allen Gliedern; doch sprach sie mit tränenden Augen: "Ich bin bereit zu sterben, aber glaubet mir, gute Männer, daß ihr euch gröblich an mir versündiget; denn ich bezeuge vor Gott, daß ich unschuldig bin, daß ich fälschlich von dem Hofmeister verklagt worden bin, weil ich seinen bösen Willen nicht tun wollte. Glaubet mir auch: wenn ihr mich schonet, so wird es Gott euch und euren Kindern vergelten; bringet ihr mich aber um, so wird mein unschuldiges Blut über euch und eure Kinder Mache schreien."

Durch diese Worte wurden die Herzen der Diener so bewegt, daß es ihnen unmöglich war, der Gräfin ein Leid anzutun; sie sprachen deswegen



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beide auf einmal mit freundlichen Worten ihr: "Gnädige Frau l Uns ist zwar bei Lebensgefahr befohlen, Euch hinzurichten; dennoch, wenn Ihr uns versprechen wollet, nimmermehr unter die Menschen gehen, sondern Euch in dieser oder einer andern Wildnis verborgen aufzuhalten, so möget Ihr in Gottes Namen hingehen und unser in Eurem Gebet eingedenk sein!" Die Gräfin hob ihre Augen gen Himmel, erhub sich freudig, versprach den Dienern, was sie verlangten, mit allem Ernste und dankte ihnen von ganzer Seele für die erzeigte Barmherzigkeit. Die Diener stachen nun einem Windspiel, das mit ihnen gelaufen war, die Augen aus und überbrachten dieselben ihrem Herrn als Beweis ihrer betrübten Mordtat. Den Golo grauste jedoch, die Augen der Frau zu sehen, die er geliebt hatte; er sprach daher abgewendet, sie sollten die Augen voll Ehebruchs den Hunden vorwerfen.



***
Die gerettete Genoveva, verlassen von allen Menschen, ging in dem wilden Wald umher und suchte einen Ort, wo sie vor dem Unwetter geschirmt sich aufhalten könnte; sie fand aber den ganzen, langen Tag keinen , sondern wurde genötigt, unter einem Baume ihre Nachtherberge zu nehmen. So brachte sie die kalte Nacht unter Frost und vieler Furcht hin, ohne allen Schlaf, die weinenden Augen und zitternden Hände gen Himmel gewendet. Als der Morgen anbrach, stand sie auf und nahm ihr Kind, das auf ihrem Schoße geruht hatte, auf den Arm; dann ging sie abermals den ganzen Tag im Walde umher, eine gelegene Höhle oder auch nur einen hohlen Baum zu suchen, um darin zu wohnen. Aber es war wieder vergebens. Da sie nun zwei Tage nichts gegessen und getrunken, so war ihr Hunger und Durst so groß, daß sie die rohen Wurzeln der Kräuter auszuraufen anfing, sich daran zu erfrischen. Die zweite Nacht brachte sie wieder ohne Schlummer und voll Angst unter einem Baume zu. Endlich den dritten Tag, als sie noch tiefer in die Wildnis hineingegangen war, fand sie im Felsgestein eine Höhle und nächst dabei ein kleines Ouellbrünnlein. Die Gräfin nahm diese Wohnung an, als von Gott beschert, und setzte sich vor, ihr übriges Leben in der Höhle zuzubringen . Sie machte sich ein Bett aus Baumzweigen und Laub und suchte sich von Tag zu Tag frische Wurzeln zur Nahrung. Weil sie aber ein so gar kümmerliches Leben führen mußte, so ging ihr bald die Muttermilch aus, und ihr armes Kind trank an der leeren Brust so lange, bis endlich Blut statt der Milch floß; und weil es keine Nahrung mehr bekam, so fing es an zu verschmachten. Sein klägliches Wimmern ging der Mutter



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so tief ins Herz, daß auch sie vor Leid sterben zu müssen meinte. Sie legte das Kind verzweifelnd unter einen Baum und ging weit davon, wo sie es nicht hören und sehen konnte. Dort kniete sie mit aufgehobenen Händen nieder und rief den gütigen Gott so inbrünstig an, daß er sie erhören mußte. "Mein Gott und Erlöser", sprach sie, "können deine gnädigen Augen ohne Mitleiden ansehen, wie dieses unschuldige Kind verschmachten muß? Siehe doch an, barmherziger Gott, wie das arme Lamm vor deinen Augen liegt und mit seinem milden Weinen dich so innig um die nötige Nahrung anruft l Ach, erbarme dich über die Waise, der ihr Vater so hart ist, und die Mutter nicht helfen kann. Ich habe ja keinen Trost mehr auf Erden als dies mein einziges Söhnlein. Nimmst du es mir, so muß ich gar vertrauren in dieser öden Wildnis. Darum gib es mir wieder, barmherziger Gott, gewiß, ich will es dir zur Ehre und zu deinem Dienste aufziehen."

Kaum hatte die weinende Mutter dieses Gebet geendigt, da lief eine Hirschkuh auf sie zu, die sich wie ein zahmes Tier anstellte und freundlich um sie herstrich, gleich als wollte sie sagen: "Siehe, mich hat Gott gesendet , dein Kindlein zu ernähren." Genoveva erkannte mit freudigem Staunen die Fürsehung Gottes, sie eilte zurück zu ihrem Kinde, und da die Hirschkuh ihr nachlief, so legte sie das Kind an die Zitzen des Wildes und ließ es so lange saugen, bis es gesättigt war. Durch diese himmlische Wohltat wurde die gute Gräfin so erfreut, daß sie sich auf die Knie niederwarf und mit vielen süßen Tränen dem Stigen Gott Dank sagte und in Demut um Fortsetzung seiner Hilfe flehte. Ihr Gebet wurde erhört; die Hirschkuh kam täglich, solange beide in der Wüste waren, zweimal, das Kind zu säugen. Dies war die einzige Hilfe, welche das schuldlose Kind sieben ganzer Jahre lang von den Kreaturen empfing, während seine Mutter von Wurzeln und Kräutern leben mußte. Ihre Grafenwohnung hatte sie mit der wilden Einöde vertauscht, ihr schönes Zimmer mit einer finstern Kluft, ihre reichbeladene Tafel mit wilden Kräutern, ihre Kammerjungfrauen waren die unvernünftigen Tiere; statt auf ihr weiches Ruhebett legte sie sich des Nachts in Laub und harte Reiser; anstatt ihrer kostbaren Perlen hatte sie bittere Zähren, und für Lust und Kurzweil nichts als Leid und Traurigkeit. Im Sommer war zwar ihr Elend noch erträglich, im Winter aber quälte sie die Kälte; die Nahrung aus der Erde war kaum aufzutreiben; wenn sie trinken wollte, mußte sie das gefrorene EIS so lange im Munde halten, bis es schmolz; wenn sie Wurzeln suchen wollte, mußte sie den tiefen Schnee hinwegräumen und gar mühselig



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mit einem Holz in die gefrorene Erde hineingraben; wollte sie sich erwärmen, so mußte sie die eiskalten Hände so lange zusammenschlagen und reiben, bis das Blut wieder kam. Und die langen Winternächte, die
kein Ende nehmen wollten, mußte sie mit ihrem kleinen Knaben in der schwarzen Höhle durchleben. Doch waren alle Schmerzen, welche die Gräfin aus eigener Bedrängnis litt, gering gegen den Kummer, den ihr mütterliches Herz über dem Elend ihres Kindes empfand.

Dieses fing allmählich an, heranzuwachsen und sein eigenes Elend zu



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empfinden. Wie oft drückte die Mutter ihren Schah an die Brust, seine kleinen von Kälte erstarrten Glieder zu wärmen! Und wenn sie dann sah, wie sein ganzer Leib von Kälte bebte, so wußte sie vor Trauer sich nicht zu halten und mußte unaufhörlich weinen, und das arme Kind weinte mit, als es seine Mutter so traurig sah. Allmählich jedoch gewöhnte sie sich an so große Mühseligkeiten, und auch der Knabe ward abgehärtet und stark. Da dankte sie Gott, daß er sie mit ihm aus der Gefahr der Welt errettet und in die Wüste geführt hatte. Die meiste Zeit brachte sie mit heiligem Gebete zu und übte sich, je länger; je mehr; in der Andacht und der himmlischen Liebe.

Einst nun, als sie vor ihrer Höhle kniend ihre Augen betend gen Himmel gerichtet hatte, da sah sie staunend ein Wunder sich ereignen. Ein Engel flog herab aus der Höhe, der trug ein gar schönes Kreuz in seinen Händen, an welchem der sterbende Heiland aus Elfenbein abgebildet war, künstlicher, als Menschenhände es vermögen. Dies Kruzifix reichte ihr der Engel und sprach mit holdseligen Worten ihr: "Nimm dieses heilige Kreuz, Genoveva, welches dein Erlöser dir zum Trost vom Himmel herabsendet . In ihm sollst du dich beschauen und spiegeln, vor ihm dein Gebet verrichten. Tröste dich mit diesem Kreuz, wenn du betrübt bist: fliehe zu ihm, wenn du angefochten bist; wenn dich Ungeduld überfällt, so erinnere dich an die Geduld dessen, der an diesem Kreuze hangt." Als der Engel dies gesprochen, stellte er das Kreuz vor ihr nieder und verschwand vor ihren Augen. Das Kreuz aber blieb leibhaftig stehen; Genoveva nahm es und entdeckte bald in ihrer Höhle einen natürlichen Altar, aus Felsen geformt. Dort stellte sie es auf und warf sich mit andächtiger Demut davor nieder, betrachtete ihren gekreuzigten Erlöser vom Haupt bis zu den Füßen, vergaß so ihr eigenes Leid und wurde von so großem Mitleid verwundet, daß ihr das Herz im Leibe zerspringen wollte. An dem Kreuze hatte sie ihren höchsten Trost, dem Kreuze klagte sie ihr Leid. Im Sommer zierte sie es mit grünen Maien und feinen Waldblümlein, im Winter umschlang sie es mit Tannenreisern und immergrünen Wacholderstauden .

Inzwischen erstarkte ihr lieber Sohn Schmerzenreich und lernte allgemach gehen und reden. Genoveva unterrichtete ihn, so gut sie in der Einsamkeit konnte, und hatte mancherlei Kurzweil mit ihm und herzlichen Trost durch das Kind. Gott und die Natur hatten den Knaben mit besonderem Verstand ausgerüstet, daß er vor der Zeit klug zu werden anfing und alles leicht begriff, was die Mutter ihm sagte. Nur war es jammer voll



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anzusehen, wie das arme Kind zuletzt ganz nackt und barfuß ging; denn die schlechten Tücher, in welche die Mutter es von Kindheit an eingewickelt, waren bald zerrissen, und auch die Stücke Tuch, welche die Mutter von ihren eigenen Kleidern abschnitt, wurden bald zu Fetzen. Am Ende kam es so weit, daß Mutter und Kind ihre Blöße mit Moos und Zweigen decken mußten. Da erbarmte sich Gott und sandte einen Wolf daher, der die Haut eines zerrissenen Schafes im Machen trug und sie dicht vor dem Kinde niederwarf. Die Mutter nahm dieses Geschenk mit großem Danke von Gott an, trocknete die Haut und warf sie ihrem Schmerzenreich um.

Von dieser Zeit fingen auch die wilden Tiere an, zutraulich gegen die Waldbewohnerin zu werden. Sie kamen täglich vor die Höhle und spielten mit dem Kinde. Der Wolf, der ihm das Schafsfell gebracht hatte, ließ den Knaben auf sich reiten, und oft speiste der Kleine mitten unter den Hasen und anderem Wild, das um ihn herumlief. Die Vögel flogen ihm auf die Hand und auf das kleine Haupt und erfreuten Mutter und Kind mit ihrem lieblichen Gesang. Wenn das Kind ausging, Kräuter für die Mutter zu suchen, so liefen verschiedene Tierchen mit ihm und zeigten ihm, mit den Füßen scharrend, wo die besten Kräuter wären. Die fromme Mutter hatte auch große Freude an dem Gespräche des Knaben und verwunderte sich oft über seine klugen Fragen und Antworten. Sie lehrte ihn auch das Vaterunser und andere Gebete; niemals aber sagte sie ihm, von welchem Geschlecht er geboren wäre, damit sie nicht sein Leid noch vermehre oder die Weltlust in ihm erwecke.

Einst; als sie ein freundliches Gespräch mit ihm hielt, sagte Schmerzenreich zu ihr: "Mutter, du befahlst mir oft zu sagen: ,Vater unser, der du bist im Himmel! ' So sage mir doch, wer ist denn mein Vater?" — "Liebes Kind", sprach die Mutter, "dein Vater ist der Gott, welcher droben wohnt, wo Sonne und Mond scheint." Das Kind sprach: "Kennt mich denn mein Vater auch?" —"Freilich", antwortete die Mutter, "kennt er dich und hat dich auch herzlich lieb." —"Wie kommt es denn", sagte das Kind, "daß er mir nichts Gutes tut und mich in der Not schmachten läßt?" — "Lieber Sohn", erwiderte Genoveva, "wir sind hier auf der Erde alle in einem Jammertale und müssen vieles leiden; wenn wir aber in den Himmel kommen, alsdann werden wir alle Freude haben." Der Schmerzenreich fragte weiter: "Liebe Mutter, hat mein Vater noch mehr Söhne neben mir?" —"Ja freilich", sprach sie. — Er aber sagte: "Wo sind sie denn? Ich meinte, du und ich, wir seien nur allein in der Welt." Genoveva



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antwortete: "Obwohl du in deinem Leben nie aus diesem Walde hinausgekommen bist, so sollst du doch wissen, daß außerhalb desselben noch viele Menschenwohnungen sind, darin wohnen allerhand Leute; etliche von ihnen tun Gutes, etliche Böses; und die Böses tun, die kommen in die Hölle, darin sie ewige Pein leiden." — Der Knabe sprach endlich: "Mutter, warum gehen wir nicht zu den andern Leuten; was tun wir denn in diesem Walde allein?" — "Wir tun es", erwiderte Genoveva, "damit wir unserem himmlischen Vater desto besser dienen und um so gewisser in den Himmel kommen mögen." Dergleichen Reden führte das kluge Kind gar viele mit seiner Mutter und lernte durch seine vorwitzigen Fragen mancherlei.

Im siebenten Jahre ihres Einsiedlerlebens wurde die fromme Gräfin tödlich krank und glaubte nicht anders, als daß sie sterben müsse; denn die Not und der Mangel an allen Dingen hatten ihren Leib so abgezehrt, daß sie nicht mehr sich selbst gleich sah, sondern ein Schatten des Todes zu sein schien. Ein heftiges Fieber entzündete das Blut in ihren Adern, an allen Gliedern wurde sie kraftlos und voller Schmerzen. Als nun der arme, verlassene Schmerzenreich seine Mutter allmählich dahinsterben sah, da warf er sich über ihren kranken Leib und rief in Verzweiflung aus: "Was fange ich an, geliebte Mutter, wo soll ich hin, wenn du stirbst? In dieser Wildnis bin ich allein, und in der Welt kenne ich keinen Menschen. Mutter, bitte doch den lieben Gott, daß er dich länger leben lasse, denn ohne dich muß dein Sohn verkümmern!" Die sterbende Genoveva suchte nach einem Troste für ihr Kind. Darum sagte sie ihm, was sie bisher



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verschwiegen hatte, und sprach: "Betrübe dich nicht wegen meines Todes und klage nicht so sehr über deine Verlassenheit! Wisse, daß du neben dem himmlischen Vater auch noch einen Vater auf Erden hast; dieser wohnt nicht ferne von diesem wilden Walde, in der Stadt Trier. Zu dem geh nach meinem Tode und sag ihm, daß du sein Kind seiest. Er wird dich leicht erkennen; denn du siehest ihm ganz ähnlich; ja, alle Leute dort werden dich erkennen." Und dann erzählte sie ihm ihr ganzes Unglück, soweit es der Knabe erfahren durfte und fassen konnte. Dennoch ließ sie sich von ihm versprechen, ihre Unbilde nicht rächen zu wollen. Alsdann legte die müde Genoveva ihr Haupt zum Schlummer auf die Seite und erwartete den Tod. Da war ihr, als träten zwei glänzende Engel in die Höhle, und einer beugte sich über ihre Lagerstatt, rührte ihr die Hand an und sprach: "Du sollst leben, Genoveva, und jetzt nicht sterben; denn das ist der Wille deines Gottes." Mit diesem Wort verschwanden die Engel, und die Kranke erwachte gestärkt und mit neuer Lebenskraft. Der kleine Schmerzenreich sah dies, er fuhr fort, seine Mutter zu pflegen, und sah mit seliger Freude, wie sie von Stunde zu Stunde neue Kräfte gewann und endlich völlig gesundete.



***
Nun kehren wir zum Grafen Siegfried zurück. Als dieser von Straßburg wieder in seinem Schlosse zu Trier angekommen war; erzählte ihm sein Hofmeister Golo, daß er die Ehebrecherin samt dem Bastard in einem Walde heimlich habe umbringen lassen. Der Graf war damit wohl zufrieden , lobte die Vorsicht seines Dieners und kehrte zu seiner frühern Lebensgewohnheit zurück. Aber nach wenigen Tagen fing sein Gewissen an, ihn zu ängstigen, und die Erinnerung an Genoveva, ihn mit bitterer Sehnsucht zu betrüben. Er dachte es sich doch als möglich, daß ihr Unrecht geschehen sein könnte; er sah ein, daß er sich sehr versündigt habe, weil er ihre Sache nicht auf gerichtlichem Wege untersuchen lassen. In der folgenden Nacht hatte er einen schweren Traum. Ihm war; als risse ein Drache seine geliebte Gemahlin hinweg, und niemand war, der ihm in dieser Not Hilfe leistete. Dieser Traum vermehrte seine Angst, und er erzählte ihn am andern Morgen seinem Schloßhofmeister Golo. Der war aber arglistig genug, ihn sogleich auszulegen. "Herr", erwiderte er, "der Drache bedeutet den Koch, der ja Drago geheißen, das ist gedolmetscht Drache; der hat seiner Treue vergessen und die Gräfin ihrem rechtmäßigen Herrn entrissen." Golo beredete auch seinen Herm, solchen melancholischen Träumen fernerhin keine Aufmerksamkeit zu schenken, sondern fest überzeugt



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zu sein, die Gräfin samt dem Koch hätten wohl noch einen übleren Tod verdient. Um den Grafen zu zerstreuen, veranstaltete Golo auch mancherlei Gastereien, Tänze, Besuche bei Freunden, und was er sonst wußte, das den Grafen erlustigen konnte. Alle diese Dinge erfreuten nun freilich seine äußerlichen Sinne, aber die Wunden seines angsthaften Herzens konnten sie nicht heilen; diese wurden immer größer und unheilbarer.

Eines Tages kam der Graf in das Zimmer seiner Gemahlin, da fand er unter anderen Schriften den Brief, den Genoveva im Kerker geschrieben, und den das kluge Kind dort wohl versteckt hatte. Er las diesen Brief in der höchsten Spannung seiner Seele und konnte keinen Augenblick länger an der gänzlichen Unschuld seiner lieben Genoveva zweifeln. Da wurde er von solcher Reue und solchem Mitleiden bewegt, daß er bitterlich zu weinen anfing und vor Herzeleid sterben zu müssen meinte. Den Golo aber schalt er einen falschen Verräter und gottlosen Mörder und verfluchte ihn in den Abgrund der Hölle; ja, wenn er gegenwärtig gewesen wäre, er hätte ihn auf der Stelle durchstochen. Aber der Arglistige sah von ferne an der Miene seines Herrn, was ihn erwarte. Er floh deswegen den Hof für einige Tage, bis der Zorn des Grafen sich gelegt hatte. Dann kam er wieder und wußte dem Grafen so scheinbare Gründe entgegenzuhalten und den Brief der Gräfin so lügenhaft zu verdrehen, daß jener seinen Worten mehr als dem Briefe glaubte. "Genoveva", sprach er, "bezeugt in ihrem Schreiben, sie sei unschuldig und habe nimmermehr so arge Tat begangen. Ei, eine schöne Verantwortung! Wenn das Leugnen genug ist, nun dann sind alle Diebe und Ehebrecher unschuldig." So wiegte er das Gewissen seines Herrn in den Schlaf und brachte sich selbst wieder in Gnaden. Aber die innerliche Ruhe des Grafen dauerte nicht lange; die alten Zweifel kamen bald wieder und nagten, je länger, je mehr, an seinem schuldigen Gewissen. Es war ihm immer, als raunte ihm eine Stimme in die Ohren: "Du hast dein Weib Genoveva umbringen lassen; du hast das unschuldige Kind lassen töten; du hast den frommen Koch hinrichten lassen!" So lief er umher wie einer, der keine Ruhe hat.

Golo merkte dies alles wohl; er sah, daß der Gemütszustand des Grafen immer bedenklicher wurde, und glaubte sich bald nicht mehr sicher. In aller Stille verließ er den Hof und das Land; denn er fürchtete, sein Herr möchte ihn zuletzt ergreifen lassen. Einige Zeit darauf ereignete es sich, daß man an einem entlegenen Ort im Felde Spuren eines verscharrten Leichnams entdeckte; man öffnete die Erde, grub tiefer und stieß endlich auf den Körper des hier vergrabenen Koches, den Golo hatte vergiften



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und dorthin schaffen lassen, und den man an veschiedenen Merkzeichen erkannte. Der Graf sah den Leichnam selbst, und von nun an nahmen seine Zweifel über den unverschuldeten Tod des Koches zu. Nach einigen Jahren wurde die Frau zu Straßburg, die den Grafen durch ihre Vorspiegelungen betrogen hatte, eingezogen und als schändliche Betrügerin vom Gerichte zum Feuer verurteilt. Vor ihrem Tode bekannte sie auch diesen Betrug und erklärte, daß die Gräfin samt dem Koch unschuldig sei. Auch bat sie, dem Grafen zu berichten, daß sie auf Anstiften des Hofmeisters Golo jenes Gaukelspiel angestellt habe.

Dies wurde dem Grafen Siegfried in aller Eile gemeldet, und jetzt erst erkannte er ganz klar, wie er von Golo umstrickt und umnebelt worden und seine arme Gemahlin mit ihrem Kind unschuldig dem Tod überliefert hatte. Zorn, Mitleiden, Neue, Verzweiflung durchwühlten ihm sein Herz, und sein ganzes Trachten ging fortan dahin, den Verräter Golo zu suchen. Zwei Jahre war dieser von Hofe weg, und der Graf wußte nicht, wie er den Fuchs fangen sollte; da entschloß er sich endlich zu einer List. Er schrieb dem Bösewicht einen freundlichen Brief, in welchem er sich scheinbar darüber verwunderte, warum er den Hof verlassen habe, wo er doch nichts als Liebe und Ehre genossen. Golo antwortete ausweichend und entschuldigte seine Abwesenheit mit unvermeidlichen Abhaltungen und Familiengeschäften. Der Graf wiederholte seine Briefe, verbarg allen Widerwillen und gab zu erkennen, wie sehr er seines freundlichen Umgangs bedürfe. Dieser Briefwechsel dauerte eine geraume Zeit, bis endlich Golo wirklich glaubte, der Graf sei ihm wieder in Gnaden gewogen.

Endlich stellte der Graf Siegfried gegen den Heiligen Dreikönigstag eine herrliche Jagd und festliche Mahlzeit an, wozu er alle seine Freunde einlud. Unter diesem Vorwande erging auch an Golo eine Einladung, und dieser rannte freiwillig in das zubereitete Netz. Der Graf hieß ihn willkommen , und wirklich freute er sich höchlich über seine Ankunft; Golo war vor den übrigen Gästen eingetroffen, und sie führten in Erwartung dieser einige Tage lang die freundlichsten Gespräche, als wäre gar nichts zwischen ihnen beiden vorgefallen.



***
Sieben ganzer Jahre waren verflossen, die Genoveva in der Wüste zugebracht hatte und von aller Welt für tot gehalten worden war. Der Dreikönigstag und die Feste des Grafen kamen nun auch herbei; damit denn die geladenen Gäste um so bessere Tafel finden möchten, ritt Herr Siegfried selbst zuvor hinaus, um zu jagen, und nahm unter andern Dienern



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auch den Golo mit sich. Da rannten sie in der Wildnis umher, der eine da, der andere dorthin, und jeder befleißigte sich, ein Stück Wild einzurreiben. Von ungefähr wurde der Graf eine schöne Hirschkuh gewahr; er setzt ihr zu Rosse durch Hecken und Gesträuch nach, und verfolgt sie so lange, bis sie sich in eine Höhle rettet, die sich dem Auge des Grafen zwischen Strauch und Gestein auftut. Er wirft einen Blick hinein und erblickt neben dem Wild eine unbekleidete Frau stehend. Er erschrak von ganzem Herzen und meinte nicht anders, als es sei ein Gespenst oder ein Spuk der Hölle. Deswegen bezeichnete er sich mit dem Kreuz und sprach mit Entsetzen: "Wenn du von Gott hifi, so komm zu mir heraus und sage mir, wer du seiest." Genoveva —denn ihre Höhle war es —erkannte den Grafen auf den ersten Blick und sprach mit zitternder Stimme: "Ja, ich bin von Gott her, ich bin ein unglückliches, nacktes Weib. Wollt Ihr, daß ich zu Euch herauskomme, so werfet mir ein Kleid um, meine Blöße zu decken!" Der Graf zog den Mantel vom Leibe und warf ihn in die Höhle. Sie umwickelte sich nun mit dem zugeworfenen Tuche und trat aus der Höhle hervor, die unerschrockene Hindin an ihrer Seite; Schmerzenreich aber war gerade nicht gegenwärtig, sondern hinaus in den Wald gegangen, Kräuter und Wurzeln zu suchen.

Der Graf wunderte sich über die abgemagerte Gestalt des Weibes, das er vor sich sah, und fragte, wer und von wannen sie doch sei. "Mein Herr", sprach Genoveva, . ,ich bin ein armes Weib und aus Brabant gebürtig; ; aus Not bin ich hierher geflohen; denn man hat mich, die ich nichts verschulder hatte, mit meinem armen Kind umbringen wollen." Der Graf zuckte zusammen, doch fragte er weiter, wie lang es her sei, und wie es zugegangen. Genoveva faßte Mut und sprach: "Ich war mit einem edlen Herrn vermählt, der faßte einen Argwohn gegen mich und übergab mich seinem Hofmeister, daß er mich samt dem Kinde, das ich meinem Herrn geboren hatte, umbringen lassen sollte; die Diener aber schenkten mir aus Erbarmen das Leben, und ich versprach ihnen, daß ich nimmermehr vor meinen Herrn kommen, sondern in diesem Walde Gott dienen wolle, und das sind nun schon sieben Jahr." Siegfried zitterte am ganzen Leibe; denn Genovevas Bild stieg vor seiner Seele auf, aber in dieser abgekehrten Gestalt konnte er sie nicht erkennen. Darum sprach er weiter zu ihr: "Liebe Freundin, ich bitte Euch um Gottes willen, sagt mir, wie ist Euer Name, und wie der Name Eures Eheherrn? Da sprach sie seufzend: "Mein Eheherr hieß Siegfried; ich Armselige aber nenne mich Genoveva!"

Diese wenigen Worte durchzuckten den Grafen mächtiger, als wenn ihn



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ein Donnerschlag getroffen hätte. Er bäumte sich in seinen Bügeln und stürzte vom Pferde herab auf den Boden. Da lag er auf der Erde auf seinem Angesicht und atmete lange nicht. Als er aber wieder zur Besinnung kam, richtete er sein Haupt auf und sprach, noch in den Knien liegend: "Genoveva, ach, Genoveva! seid Ihr es?" Sie sprach: "Lieber Herr Siegfried! ja, ich bin die arme Genoveva!" Dem Grafen rollten die Zähren über das Gesicht, er fiel wieder in Erstarrung und konnte lange kein einziges Wort vorbringen. Nach vielem heißen Weinen sprach er endlich, noch immer kniend: "Oh, daß Gott im Himmel erbarmet In solchem Elend muß ich Euch antreffen! Ich gottloser Bösewicht, ich bin nicht wert;
daß mich die Erde trage, ja, ich verdiene, daß sie sich mir auftue und mich der Abgrund der Hölle verschlinge! Bin doch ich die einzige Ursache alles Euren Unheils, ich, der boshafte Mann, der sein unschuldiges Weib falschen Argwohnes wegen umbringen hieß! Verzeihet mir, geliebte Genoveva, nicht um meinetwillen, nein, um des Gekreuzigten willen, der dort auf Eurem Felsen sieht! Ich stehe nicht auf vor Euren Füßen, bis daß ich Gnade erlangt habe t"

Die Gräfin hielt den Strom ihrer Tränen ein und sprach mit halbgebrochenen Worten: "Betrübet Euch nicht, mein Herr Siegfried, betrübet Euch nicht so sehr! Nicht durch Eure Schuld, sondern nach Gottes.



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Anordnung ist es geschehen, daß ich in diese Wüste versetzt worden bin. Ich verzeihe Euch von Herzen und habe Euch schon von Anfang verziehen. Der barmherzige Gott wolle uns beiden unsere Sünden verzeihen und uns seiner Gnade würdig machen!" Darauf reichte sie dem Grafen die Hand und hob ihn von der Erde auf. Hier stand nun der betrübte Graf, in das abgezehrte Angesicht seiner Gemahlin schauend; er meinte, das Herz im Leibe müßte ihm vor Mitleiden zerspringen, als er das holdselige Antlitz, das einst den Engeln glich, jetzt so gar grausam entstellt sah. Er fühlte eine solche Ehrerbietung gegen Genoveva, als ob er vor einer Heiligen aus dem Himmel stünde, und wiewohl sie ihm alle Freundlichkeit erzeigte, so wagte er doch kaum mit ihr zu reden. Nach einigen tiefen Seufzern sprach er endlich: "Und wo ist denn das arme Kind, das Ihr im Kerker geboren habt? Ist es denn nicht mehr am Leben?" —"Freilich ist es ein großes Wunder von Gott, daß es noch lebt", erwiderte Genoveva, "ich allein hätte es nicht ernähren können; aber Gott hat mir diese Hindin geschickt, und das treue Tier hat mein Kind zweimal des Tages gesäugt"'

Sie redete noch, als der kleine Schmerzenreich, mit seiner Schafhaut bekleidet , barfuß dahergelaufen kam, seine beiden Hände voll wilder Wurzeln . Als er aber den Grafen bei seiner Mutter sah, erschrak er sehr und rief: "Mutter, was ist das für ein wilder Mensch, der bei dir steht? fürchte mich vor ihm!" Die Mutter sprach: "Fürchte dich nicht, lieber Sohn! komm nur kecklich her; der Mann tut dir nichts!" Da war bei dem Grafen Leid und Freud so groß, daß er nicht wußte, welches mächtiger war. Als nun das Kind näher trat, nahm es die Mutter bei der Hand und sagte zu ihm: "Siehe, mein Sohn, das ist dein Vater, geh hin, fasse seine Hand und küsse siel" Das Kind gehorchte, der Graf aber nahm es auf seine Arme, drückte es an sein entzücktes Herz und küßte es süßiglich ohne Unterlaß und brachte nichts weiter vor als: "O mein herzliebster Sohn, o mein herzgüldenes Kind!"



***
Als der Graf sich mit Umarmung seines Sohnes ersättigt hatte, blies er stark in sein Jägerhorn und rief die Jäger und die Knechte zusammen. Eilfertig kam einer um den andern, und alle verwunderten sich, als sie die wilde Frau bei dem Herrn und das Kind auf seinen Armen sahen. Der Graf sprach: "Was dünkt euch von diesem Weibe, solltet ihr es wohl kennen?" Da sie nach einigem Beschauen alle nein sagten, so sprach er weiter: "Kennet ihr denn meine Gemahlin Genoveva nicht mehr?" Auf diese Worte überfiel sie eine solche Verwunderung, daß sie nicht wußten, was



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sie sagen oder denken sollten. Einer nach dem andern ging hinzu, hieß sie freundlich willkommen und erfreute sich von Herzen, daß diejenige noch lebte, die alles im Schlosse schon sieben Jahre lang beseufzet hatte. Zwei von ihnen ritten eilig nach Hause und kamen mit einer Sänfte samt Gewändern zurück, die Gräfin ehrbarlich zu schmücken und heimzutragen.

Unter allen Dienern, die auf den Jagdruf des Grafen herbeikamen, war Golo der letzte, als ahnete es ihm, daß nichts Gutes für ihn vorgegangen sei. Der Graf hatte ihm zwei Diener entgegengeschickt mit dem Befehl, er solle eilen, es sei ein wunderseltsames Wild gefangen worden. Wie er nun hinzukam, da sprach Herr Siegfried: "Golo, kennest du dieses Weib?" Er schreckte zusammen, doch sagte er: "Nein, ich kenne sie nicht." Weiter sprach der Graf: "Du ruchlosester Bösewicht, der unter der Sonne wandelt , kennst du Genoveva nicht, die du fälschlich bei mir verklagt und um schuldig in den Tod geschickt hast? Du Mörder, wie soll ich dich genug strafen, welche Qualen soll ich ersinnen, mit denen ich dich genug martern kannt" Golo lag indessen auf der Erde und wälzte sich und batum Barmherzigkeit. Der ergrimmte Graf aber befahl, ihn hart zu binden und als den größten Übeltäter gefangen abzuführen.

Hierauf bat Siegfried, Genoveva möchte sich gefallen lassen, mit ihm in das Schloß zurückzugehen, aber sie betrat noch einmal zuvor ihre Höhle und fiel vor dem Kruzifixe nieder, Gott für alle an diesem Orte empfangene Wohltaten zu danken. Alsdann nahm sie der Graf bei der Hand, ein edler Ritter trug den jungen Grafen nach. Muntere Vögelein flogen über Genovevas Haupte und zeigten mit dem Flattern ihrer Flügel an, wie ungerne sie die Frau und das Kind von sich ließen. Die Hirschkuh folgte der Gräfin wie ein sanftmütiges Lamm und wollte keinen Schritt von ihr weichen. Endlich kam man zur Sänfte, in welche sie gesetzt ward, und nun bewegte sich der Zug dem Schlosse zu.

Hier war das große Wunder schon zur lauten Märe geworden, jeder wollte die Wiedergefundene sehen, Freunde und geladene Gäste kamen scharenweise auf das Schloß, wo sie große Ursache zu frohlocken antrafen, da sie die teure Verwandte wie von den Toten auferstanden fanden und die wunderbare Weise vernahmen, durch welche Gott ihre Unschuld geoffenbart hatte. Als das Ehepaar angekommen und begrüßt war, begannen die Feste und dauerten die ganze Woche. Mahl folgte auf Mahl; aber Genoveva konnte von keiner Speise genießen und den Freudenwein nicht kosten; aus Wurzeln und Kräutern mußte man ihr die Speise bereiten, die sie allein essen konnte.



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Als die Freudenwoche vorüber war, wurde auch über Golo Gericht gehalten . Der Graf ließ ihn aus seinem Gefängnisse holen und sämtlichen Gästen vorführen. Er erzählte ihnen alle seine Frevel und ließ sie urteilen, welche Strafe ein so teuflischer Bösewicht verdient habe. Die ganze Verwandtschaft schrie Rache über den boshaften Verräter und verurteilte ihn zum grausamsten Tode. Da warf sich der Bösewicht zu Genovevas Füßen, und diese bat ihren Herrn inständig, dem armen gedemütigten Sünder zu
verzeihen. Der Graf hätte ihr zwar wohl diese Gunst bewilligt, er wagte aber nichts ohne seine versammelten Verwandten zu tun. Diese willigten jedoch in keine Gnade, damit nicht in künftigen Zeiten gesagt werden könnte, Golo sei unschuldig gewesen, und darum habe man ihm das Leben nicht nehmen können. So wurde er abgeführt und litt, was er verschuldet hatte. Auch alle diejenigen, die es mit Golo gehalten, wurden mit dem Schwerte gerichtet; alle dagegen, die der Gräfin treu geblieben waren oder ihr einen Dienst erwiesen hatten, wurden reichlich belohnt, darunter auch das Mägdlein, die der Gräfin Feder und Tinte in das Gefängnis gebracht, sowie einer von den Dienern, die ihr das Leben geschenkt hatten; der andre war schon gestorben, dafür erhielten seine Kinder die Wohltat.



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Die Feste waren zu Ende, und die Gäste hatten das Schloß des Grafen verlassen. Fortan lebte Genoveva mit ihrem Gemahl in großer Heiligkeit, und er wußte nicht, wie er ihr genug dienen und aufwarten sollte, er liebte sie, wie die Engel im Himmel sich lieben, und ließ ihr alle Ehre erweisen, die man einer durchlauchtigsten Fürstin erweist. Aber die Gräfin freute sich irdischer Ehre nicht mehr, und ihr Körper war von dem langen Elend so schwach, daß ihr keine Pflege mehr frommen mochte. Kaum mochte sie drei Monate aufs neue mit ihrem lieben Herrn verlebt haben, so wurde sie eines Tages über dem Gebete entzückt und sah eine herrliche Erscheinung . Eine Schar heiliger Frauen und Jungfrauen nahte sich ihr; und mitten unter ihnen ging die Mutter Gottes glorwürdig einher. Jede von diesen Heiligen reichte der Gräfin eine himmlische Blume; die Himmelskönigin aber hielt eine mit köstlichen Edelsteinen besetzte Krone in der Hand und sprach: "Geliebte Tochter, betrachte diese Krone; du hast sie erworben durch die Dornenkrone, die du in der Wildnis getragen hast. Empfange sie von meinen Händen; denn es ist Zeit, daß sich bei dir die Ewigkeit deiner Freuden anhebe!" Mit diesen Worten setzte sie ihr die Krone auf das Haupt und fuhr mit ihrer Begleitung wieder gen Himmel.

Über diese Erscheinung war Genoveva sehr froh; denn sie war dadurch versichert, daß ihr Elend nun bald ein Ende nehmen werde. Doch sagte sie ihrem Gemahl nichts davon, damit er sich nicht vor der Zeit betrüben möchte. Aber die Erfüllung zögerte nicht lange. Denn bald darauf wandelte die fromme Gräfin ein Fieber an, das sie zuletzt aufs Krankenbette warf. Und gegen diese Krankheit fruchtete kein Mittel, so daß Siegfried und sein Sohn Schmerzenreich bald in trostloses Leid versanken. "Ach, geliebte Genoveva", rief der Graf an ihrem Lager aus, "wollt Ihr denn, kaum gefunden, so bald von mir scheiden und mein ganzes Herz wieder betrübend Habt Mitleid mit meinem Jammer und bittet den lieben Gott, daß er Euch noch eine Weile bei mir lassen wolle!" Genoveva sprach freundlich darauf: "Betrübet Euch nicht so sehr wegen meines Todes, lieber Gemahl; Ihr richtet damit nichts andres aus, als daß Ihr mich mit Euch betrübet. Ihr seht ja wohl, daß es nicht anders sein kann; darum gebet Euch von freien Stücken in den göttlichen Willen. Was mich in meinem Tod am meisten bekümmert, ist, daß ich Euch und meinen lieben Schmerzenreich in solcher Bekümmernis sehen muß; wenn ihr beide getrost wäret, so wollte ich freudig sterben und dies elende Leben mit einem bessern vertauschen."

Von da an brachte die Gräfin ihre ganze Zeit in lauter Andacht zu; sie



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ließ alles, was im Schlosse war, zu sich rufen und gab allen ihren Muttersegen , besonders segnete und tröstete sie ihren geliebten Schmerzenreich, dessen Verlassenheit ihr am meisten zu Herzen ging. Und so ent
floh endlich ihr seliger Geist dem schwachen Leib und ging ein in das ewige Leben. Siegfried mit seinem Söhnlein warf sich jammernd über den Leichnam seiner geliebten Genoveva. Alle Diener und Frauen im Schlosse wehklagten; der Graf lag Tag und Nacht auf den Knien vor der Leiche und weinte mit zusammengeschlossenen Händen so beweglich, daß



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man meinte, er müsse die Gestorbene mit seinen heißen Zähren wieder lebendig machen. Die arme Hirschkuh, die der Gräfin aus der Wildnis in das Schloß gefolgt war und hier zahm herumging, fing an zu trauern, sobald ihre Herrin gestorben war; und als man endlich den Leichnam bestattete, ging sie mit gesenktem Kopfe der Leiche nach und schrie so beweglich, daß es die Menschen erbarmte; nach dem Begräbnis legte sie sich auf das Grab und wich nicht mehr, bis sie vor lauter Trauern gestorben war.

Mit der heiligen Genoveva war dem Grafen alle Lust und Freude begraben , und kein Ding auf der Welt gewährte ihm ferner ein Genügen. In der Kirche lag er allezeit kniend auf ihrem Grab, und in dem Schlosse verriegelte er sich täglich in ihrer Kammer, da war ihm, als hätte er sie vor Augen, und führte ein klagendes Zwiegespräch mit ihr und bat ihr unter Tränen ab, daß er sie im Leben so hart verfolgt habe. Auch zu der Höhle, in der Genoveva gelebt hatte, ging er hinaus, und als er vor dem Kruzifix auf den Knien lag, da sprach er bei sich selbst: "Dies ist die Höhle, die mit den Seufzern der verlassenen Unschuld angefüllt ward; hier hat deine treue Gemahlin fremde Sünden abgebüßt, warum solltest du hier nicht deine eigene Sünde abbüssend" Als er dies bei sich selbst gesprochen, entstand in seiner Seele wie durch Eingebung der Vorsatz, in jener Höhle ein Einsiedlerleben zu führen. Er kehrte auf der Stelle nach Trier zurück und begehrte und erhielt vom Bischof Hidulf die Erlaubnis, eine Kapelle an dem Ort zu erbauen.

Als nun eine schöne Kirche in der Wildnis fertig war mit zwei oder drei Einsiedeleien für solche, die daselbst Buße tun wollten, wurde der Leichnam der frommen Genoveva dorthin gebracht, damit sie da ruhen möchte, wo sie so lange ein strenges und ruheloses Leben geführt hatte. Da mochte man Wunder sehen. Denn obgleich der Leichnam in einem marmornen Sarge lag, den kaum sechs Stiere hätten fortbewegen können, so zogen ihn doch zwei Pferde so leicht, als wenn sie gar keine Last hätten. Und wo der Trauerwagen vorübergeführt wurde, da neigten sich die Hecken des Waldes , als schwankten sie vom Winde bewegt; ja selbst die höchsten Bäume bogen ihre Aste tief gegen ihn herunter. So wurde der Leichnam der heiligen Frau beigesetzt und das himmlische Kreuz auf den hohen Altar gestellt.

Der Graf bestellte nun seine Sachen im Schlosse und ordnete alles an, wie er es vor seinem Ende hätte verordnen müssen. Dann berief er seinen Bruder und sprach in Gegenwart seines Sohns: "Lieber Bruder, Ihr habt schon seit geraumer Zeit an mir bemerken können, daß ich nirgends Genügen haben kann als in der Trauer um meine geliebte Genoveva. Darum



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habe ich mich entschlossen, die Welt gänzlich zu verlassen und an dem Orte, wo meine Gemahlin gelebt hat, zu leben und zu sterben; deswegen setze ich Euch zum Vormunde meines Sohnes Schmerzenreich und bitte Euch, Ihr wollet an ihm tun, als wenn es Euer leiblicher Sohn wäre; ich bin gewiß, auch er wird Euch Gehorsam und Ehrerbietung bezeigen, wie ein Kind seinem Vater schuldig ist." Dann sprach er zu seinem Sohne: "Hörst du es, mein her liebstes Kind, daß ich die Welt zu verlassen begehre und dir meine ganze Grafschaft übergeben Dein Herr Vetter soll hinfort dein Vater sein." Da sprach Schmerzenreich: "Ei, lieber Vater, meinet Ihr auch, daß es recht sei, daß Ihr für Euren Teil den Himmel erwählen wollet und mir für meinen Teil nur ein wenig Erde hinterlassend Nein, Vater, das tue ich nicht; ich will ebensowohl den Himmel haben als Ihr. Wo Ihr leben wollt, will ich auch leben; wo Ihr sterben wollt, will ich auch sterben." Alle verwunderten sich über die Sprache des Knaben. Der Graf mahnte ihn mit weinenden Augen ab: "Mein lieber Sohn", sprach er, "das strenge Leben dort wird dir schwer fallen, dein zärtlicher Leib wird es nicht aushalten können!" - "Ei, besser als Ihr, mein Vater", sprach der junge Schmerzenreich, "habe ich doch sieben Jahre lang die Probe ausgestanden!"

So überließ Schmerzenreich die Grafschaft seinem Ohme, und dieser und der Vater umfingen beide das Kind mit herzlicher Liebe. Vater und Sohn legten Pilgerkleider an, nahmen mit vielen Tränen Abschied von der Verwandtschaft



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und zogen in die rauhe Wildnis, daselbst Gott bis an ihr Ende zu dienen. Sobald der kleine Schmerzenreich hier ankam, erkannten ihn seine alten Gespielen, die wilden Tiere, wieder, kamen in großer Menge herbei und freuten sich seiner Ankunft. Da bezogen Vater und Sohn die Einsiedeleien, brachten darin ihr Leben im Andenken an die fromme Genoveva heilig zu und sind auch daselbst gottselig im Herm entschlafen.


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