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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DER KÖNIG DES MEERES UND WASSILISSA, DIE ALLWEISE

Hinter den dreimal neun Ländern im dreimal zehnten Weltreich lebten einmal ein König und eine Königin, die hatten kein Kind.

Einst ritt der König fort in fremde Länder, in die weite Welt und war lange, lange nicht zu Hause. In dieser Zeit gebar die Königin einen Sohn, den Königssohn Johannes. Der König aber wußte nichts davon.

Endlich ritt er wieder heim in sein Königreich. Schon war er der Heimat nahe, da brannte eines Tages die Sonne heiß und immer heißer auf ihn herab. Ein furchtbarer Durst überfiel ihn -alles, alles hätte er hingegeben für einen einzigen Schluck Wasser. Er schaute sich um - gar nicht weit sah er einen großen See. Er ritt zu dem See, stieg vom Rosse, legte sich ans Ufer und fing an, das kühle Wasser in vollen Zügen zu trinken -trinkt und ahnt kein Unheil. Plötzlich packte ihn der König des Meeres am Barte.

«Lass' mich los!» bittet ihn der König.

«Nein, ich lasse dich nicht los, untersteh dich nicht, hier ohne mein Wissen zu trinken!»

«Ich gebe dir alles, was du verlangst, nur lass' mich los!»

«So gib mir das aus deinem Hause, wovon du nichts weißt!»

Der König dachte hin und her: Was kenne ich denn nicht in meinem Hause? Ich weiß doch alles, kenne doch alles. Und er willigte ein. Er versuchte, seinen Bart herauszuziehen - keiner hielt ihn fest. Er stand von der Erde auf, bestieg sein Roß und ritt heimwärts.

Er kam nach Hause, die Königin empfing ihn voller Freude und zeigte ihm den Sohn. Der König sah sein liebes Kind und brach in bittere Tränen aus. Er erzählte der Königin, was ihm geschehen war, und sie weinten miteinander. Aber was war zu machen? Tränen helfen ja nicht, sie mußten weiterleben wie zuvor.

Der Königssohn wuchs und wuchs, nicht täglich, sondern stündlich, wie ein Hefeteig, der aufgeht in der Wärme, und wurde groß und kräftig. Der König aber dachte in seinem Herzen: wie gerne ich ihn behalten möchte - hergeben muß ich ihn doch, das ist unabänderlich! Er nahm den Königssohn an der Hand und brachte ihn an jenen See. «Suche mir meinen Ring, den ich gestern hier verloren habe!» Damit ließ er den Königssohn Johannes allein und kehrte nach Hause zurück.

Königssohn Johannes fing an, den Ring zu suchen und ging am Ufer entlang. Da kam ihm eine alte Frau entgegen: «Wohin gehst du, Königssohn Johannes?»

«Ach laß mich in Ruhe, langweile mich nicht, alte Hexe, auch ohne dich habe ich Kummer genug!»



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«Nun, so behüte dich Gott», sagte die Alte und ging vorüber. Königssohn Johannes aber dachte plötzlich bei sich: warum habe ich eigentlich die Alte so beschimpft? Ich werde sie zurückholen, alte Leute sind klug und können raten, vielleicht rät sie mir Gutes. Und er rief ihr zu: «Komme zurück, Großmütterchen, und entschuldige mein dummes Wort, das sagte ich nur aus Kummer. Der Vater hat mir befohlen, seinen Ring zu suchen. Ich gehe herum und suche überall, aber von dem Ring ist nichts zu sehen.»

«Nicht des Ringes wegen bist du hier», sagte die Alte. «Dein Vater hat dich dem König des Meeres versprochen, der wird wohl bald heraufkommen, um dich in sein Reich unter dem Wasser zu holen.»

Da begann der Königssohn bitterlich zu weinen.

«So traurig brauchst du nun auch nicht zu sein», sagte die Alte, «auch auf deinem Wege wird noch einmal ein Fest sein! Aber du mußt auf mich altes Weib hören. Setze dich hinter jenen Johannisbeerbusch und sei leise, ganz, ganz leise! Bald werden zwölf Täubchen kommen, das sind in Wahrheit zwölf herrliche Jungfrauen. Zuletzt kommt auf ihrer Spur die dreizehnte Taube geflogen. Sie werden miteinander im See baden. Du aber nimm unterdes der dreizehnten ihr weißes Hemdchen weg und gib es nicht eher wieder her, als bis sie dir ihr Ringlein schenkt. Wenn du das nicht fertig bringst, bist du auf immer und ewig verloren. Rund um das Schloß des Meerkönigs steht ein spitziger Zaun, ganze zehn Werst weit, und auf jeder Spitze sitzt ein Menschenkopf. Ein Pfahl ist dort gerade noch leer, hüte dich, daß dein Kopf nicht darauf kommt!»

Königssohn Johannes bedankte sich, verbarg sich hinter dem Johannisbeerbusch und wartete auf die rechte Stunde. Da kamen zwölf weiße Täubchen geflogen, schlugen auf die feuchte Erde und verwandelten sich in lauter Jungfrauen, alle, von der ersten bis zur letzten von so großer Schönheit, daß man es nicht ausdenken, nicht erraten und nicht beschreiben kann.

Sie warfen ihre Kleider ab, sprangen in den See und fingen an zu spielen, zu plantschen, zu lachen und zu singen. Auf einmal kam auf ihrer Spur die dreizehnte geflogen, schlug auf die feuchte Erde und verwandelte sich in eine Jungfrau. Und sie war die lieblichste und schönste von allen. Sie warf ihr Hemdchen ab von ihrem weißen Leib und ging ins Wasser. Lange konnte der Königssohn kein Auge von ihr wenden, lange schaute er sie an. Plötzlich erinnerte er sich an den Rat der Alten, schlich leise herzu und nahm das weiße Hemdchen.

Die schöne Jungfrau stieg aus dem Wasser - ach, das weiße Hemdchen ist verschwunden, irgend jemand hat es fortgetragen! Alle Jungfrauen stürzten herbei und fingen an zu suchen. Sie suchten und suchten. Aber nirgends war es zu sehen.



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«Sucht nicht, meine lieben Schwestern, fliegt nach Hause, ich bin selber schuld. ich habe mein Hemdchen nicht gehütet, selber muß ich es verantworten.»

Die schönen Jungfrauen warfen sich auf die feuchte Erde, wurden wieder zu Tauben, schwenkten ihre Flügelchen und flogen davon. Die dreizehnte blieb allein zurück. Sie sah sich um. und rief: «Wer du auch seiest, der du mein Hemdchen hast, komm heraus! Wenn du ein alter Mensch bist, sei mein Väterchen, wenn du im mittleren Alter stehst, sei mein Brüderchen, bist du mir aber gleich an Jahren, sei mein geliebter Freund!»

Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, da zeigte sich Johannes, der Königssohn. Sie reichte ihm ihr goldenes Ringlein und sprach: «Ach, Königssohn Johannes, warum bist du so lange ausgeblieben? Der König des Meeres ist böse auf dich. Dort führt der Weg in das Königreich unter dem Wasser. Geh mutig weiter auf diesem Wege, du wirst auch mich dort unten finden; denn ich bin des Meerkönigs Tochter Wassilissa, die Allweise.» Damit verwandelte sie sich wieder in eine Taube und flog fort.

Königssohn Johannes aber begab sich in das Königreich unter dem Wasser. Und was sieht er? Dort leuchtet das gleiche Licht wie bei uns, dort sind Felder, Wiesen und grüne Haine, und die liebe Sonne wärmt. Und er kam zum König des Meeres hinab. Der aber herrschte ihn an: «Wo bist du so lange geblieben? Für dieses Vergehen mußt du mir eine Aufgabe lösen! Ich habe eine Einöde, dreißig Werst lang und dreißig Werst breit, voll tiefer Gräben, Dornhecken und spitzer Steine. In einer Nacht soll sie so eben wie mein Handteller sein und mit Korn besät, und am frühen Morgen soll das Korn schon so hoch stehen, daß eine Krähe sich mit Leichtigkeit darin verbergen kann. Wenn du das nicht fertig bringst, verlierst du deinen Kopf!»

Königssohn Johannes ging hinaus und weinte bittere Tränen. Aus dem Fenster des hohen Frauenturms sah ihn Wassilissa, die Allweise, und fragte ihn: «Sei gegrüßt, Königssohn Johannes, warum weinst du so sehr?»

«Was bleibt mir anderes übrig, als zu weinen?» antwortete der Königssohn. «Der König des Meeres hat eine Einöde, dreißig Werst lang und dreißig Werst breit, voll tiefer Gräben, Dornhecken und spitzer Steine. In einer Nacht soll sie so eben wie ein Handteller sein und mit Korn besät. Und am frühen Morgen soll das Korn schon so hoch stehen, daß eine Krähe sich darin mit Leichtigkeit verbergen kann.»

«Das ist kein Kummer», rief Wassilissa, die Allweise, «der echte Kummer kommt noch! Lege dich hin und schlafe mit Gott, der Morgen ist weiser als der Abend, es wird alles getan.» Königssohn Johannes legte sich schlafen. Wassilissa, die Allweise, aber trat auf die Freitreppe hinaus und rief mit lauter Stimme: «Ihr, meine treuen Diener, kommt herbei und ebnet die



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Gräben, schafft Dornhecken und Steine fort und sät den Samen des ährenreichen Roggen, auf daß am frühen Morgen alles vollendet sei!»

Im Morgengrauen erwacht Königssohn Johannes. Und siehe, es ist alles getan. Da ist kein Graben mehr, kein Dornbusch, kein Stein. Vor ihm liegt das Feld, glatt wie der Teller der Hand und schön steht der Roggen darauf und so hoch, daß eine Krähe sich mit Leichtigkeit darin verbergen kann.

Johannes, der Königssohn, ging zum König des Meeres, um es ihm anzuzeigen. «Ich danke dir», sagte der König des Meeres, «daß du mir diesen Dienst erwiesen hast. Aber hier hast du noch eine zweite Aufgabe: Ich habe dreihundert Haufen Getreide, jeder Haufen hat dreihundert Garben reinen, hellen Weizen. Bis zum Morgenrot muß aller Weizen gedroschen sein, ganze sauber bis zum letzten Körnlein. Aber die Haufen zerbrich nicht, und die Garben zerreiß nicht! Und wenn du das nicht fertig bringst, so rollt dein Kopf von den Schultern.»

«Ich gehorche euch, hoher König», sagte Königssohn Johannes. Und wieder ging er den Hof entlang und weinte bitterlich.

«Warum weinst du so sehr?» fragte Wassilissa, die Allweise.

«Wie soll ich denn nicht weinen? Der König des Meeres hat mir befohlen, in einer Nacht alle seine Garben zu dreschen. Kein Körnlein soll fehlen, und doch dürfen die Haufen nicht auseinandergerissen werden und die Garben nicht zerstört.»

«Das ist kein Kummer, der rechte Kummer kommt noch. Lege dich mit Gott nieder und schlafe, der Morgen ist weiser als der Abend!»

Der Königssohn legte sich hin und schlief ein. Wassilissa, die Allweise, aber trat auf die Freitreppe hinaus und rief mit lauter Stimme: «Auf, ihr Ameisen, ihr kriechenden alle, so viel ihr auch seid auf der weiten Welt, kommt herbei und sucht mir die Körnlein aus Väterchens Garben, alle bis auf das letzte!»

Am frühen Morgen rief der König des Meeres nach Königssohn Johannes. «Nun, hast du meinen Befehl erfüllt?»

«Hoher König, ich habe ihn erfüllt.»

«So wollen wir gehen und schauen.»

Sie kamen zur Tenne. Alle Haufen standen unberührt. Sie gingen zur Kornkammer, die war voll mit Korn.

«Ich danke dir, Bruder», sagte der König des Meeres. «Und nun kommt noch eine Aufgabe: Baue mir bis zum Morgengrauen eine Kirche aus reinem Wachs! Dies soll dein letzter Dienst sein.»

Abermals ging Johannes, der Königssohn, auf den Hof hinaus und badete sein Gesicht in Tränen.

«Warum weinst du so bitterlich?» fragte Wassilissa aus ihrem hohen Frauenturm.



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«Wie soll ich wackerer Jüngling nicht weinen? Der König des Meeres hat mir befohlen, in einer einzigen Nacht eine Kirche aus reinem Wachs zu bauen.»

«Das ist kein Kummer, der rechte Kummer kommt noch. Lege dich mit Gott nieder und schlafe, der Morgen ist weiser als der Abend!»

Königssohn Johannes legte sich hin und schlief. Wassilissa, die Allweise, trat auf die Freitreppe hinaus und rief mit heller Stimme: «Ihr Immen all, die ihr auf der weiten Welt lebt, fliegt alle, alle herbei, baut mir die Kirche aus reinem Wachs und seht zu, daß am frühen Morgen alles vollendet ist!»

Bei der Morgenröte wachte Königssohn Johannes auf und schaute: Da stand die Kirche aus reinem Wachs. Und er ging zum König des Meeres, es ihm zu sagen.

«Ich danke dir, Königssohn Johannes, so viele Diener ich auch schon gehabt habe, keiner verstand es so wie du. Dafür wirst du mein Erbe sein und des ganzen Reiches Hüter. Wähle dir die schönste von meinen dreizehn Töchtern zur Gemahlin!»

Königssohn Johannes erwählte Wassilissa, die Allweise. Und die Hochzeit wurde sogleich gehalten und dauerte drei Tage und drei Nächte lang.

War viel Zeit vergangen, war es wenig nur -Königssohn Johannes sehnte sich nach seinen Eltern, und er wollte heim ins heilige Rußland.

«Warum bist du so traurig, Königssohn Johannes?»

«Ach, meine weise Wassilissa, ich habe Heimweh nach Vater und Mutter, und es zieht mich fort ins heilige Rußland!»

«Jetzt ist der rechte Kummer gekommen! Wenn wir dahin gehen, ins heilige Rußland, bricht eine furchtbare Verfolgung aus. Der König des Meeres in seinem Zorn wird uns töten. Wir müssen klug sein, Königssohn Johannes!»

Wassilissa, die Allweise, spuckte in drei Ecken und schloß die Türen des Turmes zu. Und sie floh mit Königssohn Johannes ins heilige Rußland.

Am anderen Morgen, ganz in der Frühe, kamen die Boten des Meerkönigs, um das junge Paar zu wecken und in das Schloß zu laden. Sie klopften an die Türe: «Wacht auf, steht auf, der Vater ruft euch!»

«Es ist noch viel zu früh, wir sind noch nicht ausgeschlafen, kommt später», antwortete ein Spuckchen.

Die Boten gingen und warteten, warteten eine Stunde, zwei Stunden, dann kamen sie wieder und klopften an: «Es ist jetzt keine Zeit zum Schlafen, es ist Zeit zum Aufstehen!»

«Wartet ein bißchen, wir stehen auf und ziehen uns an», antwortete das zweite Spuckchen.

Zum dritten Male kamen die Boten: «Der König des Meeres ist zornig, was zögert ihr so lange?»

«Sofort, wir kommen gleich», antwortete das dritte Spuckchen.



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Die Boten warteten und warteten und fingen wieder an zu klopfen - keine Antwort, kein Widerhall. Sie brachen die Tür auf - das Türmchen war leer.

Schnell gingen sie zum König des Meeres und berichteten ihm, daß das junge Paar geflohen sei. Der König des Meeres war außer sich vor Zorn und schickte seine Verfolger hinter den beiden her. Aber Wassilissa, die Allweise, und Königssohn Johannes waren schon weit - ganz weit. Sie sprengten auf schnellsten Rossen ohne Rast und Ruh nach dem heiligen Rußland.

«Königssohn Johannes, steig ab vom Pferde, leg dein Ohr auf die feuchte Erde, horche, ob der Verfolger naht!»

Königssohn Johannes sprang vom Pferde herab und legte sein Ohr auf die feuchte Erde: «Ich höre Menschengemurmel und Pferdegetrappel!»

«Man verfolgt uns!» rief Wassilissa, die Allweise, und sogleich verwandelte sie die Pferde in eine grüne Wiese, Königssohn Johannes in einen alten Hirten, sich selber aber in ein sanftes Lamm.

Schon sprengte der Troß heran: «Hör', Alter, hast du nicht einen wackeren Jüngling reiten sehen mit einer wunderschönen Jungfrau?»

«Nein, ihr guten Leute, ich habe nichts gesehen. Schon vierzig Jahre hüte ich am selben Platz. Kein Vogel flog vorbei, kein Tier lief vorüber.»

Da kehrten die Verfolger wieder um: «Hoher König, wir haben auf dem Weg niemanden gefunden. Wir sahen nur einen alten Hirten, der sein Lämmchen weidete.»

«Das sind sie gewesen, warum habt ihr sie nicht mitgenommen?» schrie der könig, und er schickte neue Verfolger aus. Aber Königssohn Johannes und Wassilissa, die Allweise, sprengten weiter auf ihren schnellen Rossen.

«Königssohn Johannes, steig ab vom Pferde, lege dein Ohr auf die feuchte Erde, horche, ob der Verfolger naht!»

Königssohn Johannes sprang vom Pferde herab und legte sein Ohr auf die feuchte Erde: «Ich höre Menschengemurmel und Pferdegetrappel!»

«Man verfolgt uns!» rief Wassilissa, die Allweise. Sie verwandelte sich selber in eine Kirche und Königssohn Johannes in einen ganz alten Popen. Die Pferde aber wurden zu Bäumen.

Schon kamen die Verfolger heran: «Hör', Väterchen, hast du vielleicht einen Hirten mit seinem Lamm gesehen?» «Nein, ihr guten Leute, ich habe nichts gesehen. Schon vierzig Jahre diene ich in dieser Kirche, kein Vogel flog vorbei, kein Tier lief vorüber.»

Da kehrten die Verfolger wieder um: «Hoher König, den Hirten und das Lamm haben wir nicht gefunden. Unterwegs sahen wir nur ein altes Kirchlein und den greisen Popen darin.»

«Warum habt ihr die Kirche nicht zerstört und den Popen mitgenommen? Das waren sie doch!» rief der König des Meeres.



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Und nun jagte er selber hinter Königssohn Johannes und Wassilissa, der Allweisen, her. Königssohn Johannes und Wassilissa, die Allweise, aber waren schon weit, ganz ganz weit.

Wieder rief Wassilissa, die Allweise: «Königssohn Johannes, steig ab vom Pferde, lege dein Ohr auf die feuchte Erde, horche, ob der Verfolger naht!»

Königsohn Johannes sprang vom Pferde herab und legte sein Ohr auf die feuchte Erde: «Ich höre Menschengemurmel und Pferdegetrappel, stärker als zuvor.»

«Da sprengt der Meerkönig selber heran!» Wassilissa, die Allweise, verwandelte die Pferde in einen See. Königssohn Johannes wurde ein Enterich, sie selber ein weißes Entlein.

Als der König des Meeres an den See gekommen war, erkannte er sogleich, wer Entlein und Enterich waren. Er warf sich auf die feuchte Erde und verwandelte sich in einen Adler. Der Adler wollte sie tödlich schlagen. Aber was geschah? Um ein Haar hätte er den Enterich getroffen, aber der tauchte schnell unter das Wasser. Jetzt stößt er auf das Entlein herab, aber auch das Entlein tauchte schnell in das Wasser. Wie sich der König des Meeres auch mühte, er konnte nichts erreichen, und zornentbrannt sprengte er in das Königreich unter dem Wasser zurück.

Wassilissa, die Allweise, und Königssohn Johannes warteten eine Zeit lang, warteten auf die rechte Stunde und ritten ins heilige Rußland.

War viel Zeit vergangen, war es wenig nur - endlich erreichten sie das dreimal zehnte Weltreich.

«Erwarte mich in diesem Wäldchen», sagte Königssohn Johannes zu Wassilissa, der Allweisen. «Ich will zuerst gehen und mich vor Vater und Mutter verneigen.»

«Du wirst mich vergessen, Königssohn Johannes!»

«Nein, ich vergesse dich nicht!»

«Königssohn Johannes, sage das nicht; du wirst mich vergessen! Denke an mich wenigstens dann, wenn zwei Täubchen an dein Fenster pochen!»

Königssohn Johannes kam zum Schloß. Die Eltern erblickten ihn, warfen sich an seinen Hals, streichelten und küßten ihn. Und vorlauter Freude vergaß Königssohn Johannes Wassilissa, die Allweise.

Er lebte einen Tag und den andern mit Vater und Mutter. Am dritten Tag kam es ihm in den Sinn, um irgendeine Königstochter zu freien.

Wassilissa, die Allweise, aber ging in die Stadt. Sie verdingte sich bei der Opferbrotbäckerin als Magd. Sie fingen an, miteinander die Weihebrote zu backen. Wassilissa, die Allweise, nahm zwei Hand voll Teig, formte daraus ein Paar Täubchen und setzte sie in den Backofen.

«Nun errate, Frau, was wird aus diesen Täubchen?»

«Was wird schon sein, wir essen sie auf, das ist alles.»



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«Oh, du hast es nicht erraten!» Wassilissa, die Allweise, machte die Ofentür auf und öffnete schnell das Fenster. In diesem Augenblick hoben die Täubchen ihre Flügelchen, flogen schnurstracks zum Schlosse hin und begannen, ans Fenster zu pochen. Und wie sich audi die Dienerin des Königs mühte, sie zu verjagen, es gelang ihr nicht. Da sah Königssohn Johannes die Täubchen, und auf einmal erinnerte er sich: «Denke an midi, wenigstens dann, wenn zwei Täubchen an dein Fenster pochen!»

Überall hin - nach allen Richtungen sandte er Boten aus, zu suchen und zu forschen, und er fand Wassilissa, die Allweise. Königssohn Johannes nahm sie an den weißen Händen, küßte ihren süßen Mund, führte sie zum Vater, zur Mutter.

Und sie fingen an, alle miteinander in Eintracht zu leben und zu sein, und sie lebten und mehrten ihr Hab und Gut.



Schwab Bd 1-0003 Flip arpa


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