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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DAS WASSER DES LEBENS

In einem Reiche, in einem Königreiche lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne. Zwei waren klug, der dritte ein Dummling.

Einstmals hatte der König einen Traum. Es träumte ihm, daß hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Königreich eine schöne Jungfrau lebt, von deren Händen und Füßen Wasser fließt. Wer von diesem Wasser trinkt, wird um dreißig Jahre jünger. Der König aber war sehr alt. Da rief er seine Söhne zu sich und seinen ganzen Rat und sprach zu ihnen: «Verma es jemand, meinen Traum zu deuten?»

Die Räte antworteten dem König: «Hoher König, nicht mit den Augen haben wir es gesehen, nicht mit den Ohren vernommen, daß es eine so schöne Jungfrau gibt. Wie man zu ihr gelangen könnte, das wissen wir nicht.»

Da meldete sich der älteste Sohn, Königssohn Demetrius: «Väterchen, gib mir deinen Segen, ich will in alle vier Himmelsrichtungen reiten, die Menschen betrachten, mich selber zeigen und die schöne Jungfrau finden.»

Der König gab ihm seinen väterlichen Segen. «Nimm Krongeld mit, soviel du willst, und auch an Heerscharen, soviel du nur brauchst!»

Demetrius, der Königssohn, nahm hunderttausend Krieger und machte sich auf den Weg. Er ritt einen Tag, eine Woche, einen Monat - und zwei und drei. Wen er auch fragte, niemand wußte etwas von der schönen Jungfrau. Endlich kam er in öde Gegenden, da war nichts zu sehen, nur Himmel und Erde. Er jagte sein Pferd weiter, und auf einmal stand vor ihm ein hoher, hoher Berg. Kaum konnten die Augen seine Höhe ermessen. Irgendwie erklomm er den Berg und fand dort einen uralten, grauen Mann. «Ich grüße dich, Väterchen!»

«Sei gegrüßt, tapferer Jüngling! Scheust du die Tat, oder willst du eine vollbringen?»

«Ich suche eine Tat.»

«Was brauchst du denn dazu?»

«Ich habe gehört, daß hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Reich eine schöne Jungfrau lebt, von deren Händen und Füßen heilendes



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Wasser fließt. Wer dieses Wasser gewinnt und trinkt, der wird um dreißig Jahre jünger.»

«Nun, Bruder, du wirst nicht bis dahin kommen!»

«Warum denn nicht?»

«Weil auf dem Wege dahin drei breite Ströme fließen, drei Fähren fahren. Auf der ersten wird man dir die rechte Hand abschlagen, auf der zweiten den linken Fuß, auf der dritten den Kopf.»

Königssohn Demetrius betrübte sich sehr. Er ließ seinen verwegenen Kopf hängen, tiefer als die mächtigen Schultern, und dachte bei sich: Entweder muß ich mit dem Kopf des Vaters Mitleid haben, oder mit meinem eigenen! Besser, ich kehre um! Er stieg den Berg hinab, kam zum Vater zurück und sprach: «Nein, Väterchen, ich konnte nichts finden. Von dieser Jungfrau hat niemand etwas gehört.»

Da bat der mittlere Sohn, Basilius, den Vater: «Väterchen, gib mir deinen Segen, vielleicht werde ich die Jungfrau finden!»

«Gehe, mein Sohn!»

Der Königssohn Basilius nahm hunderttausend Krieger und machte sich auf den Weg.

Er ritt einen Tag, eine Woche, einen Monat - und zwei und drei - und kam in eine Öde voller Wälder und Sümpfe. Da fand er die Baba Jaga mit dem knöchernen Bein. «Sei gegrüßt, Baba Jaga mit dem knöchernen Bein!»

«Sei gegrüßt, tapferer Jüngling! Scheust du die Tat, oder willst du eine vollbringen?»

«Ich suche eine Tat. Ich habe gehört, daß hinter dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Reich eine schöne Jungfrau lebt, von deren Händen und Füßen heilendes Wasser fließt.» «Das gibt es, das gibt es, aber dir wird es nicht gelingen, dorthin zu gelangen.»

«Warum denn nicht?»

«Weil auf dem Wege dahin drei breite Ströme fließen, drei Fähren fahren. Auf der ersten wird man dir die rechte Hand abschlagen, auf der zweiten den linken Fuß und auf der dritten den Kopf.»

Basilius, der Königssohn, wurde nachdenklich: Entweder muß ich Mitleid haben mit des Vaters Haupt oder meinen eigenen Kopf hüten. Ich gehe lieber heil und gesund nach Hause.

Er kehrte heim und sagte zum Vater: «Nein, Väterchen, ich konnte nichts finden, keiner hat von dieser Jungfrau gehört.»

Nun bat der Jüngste, Königssohn Johannes: «Väterchen, segne mich, vielleicht finde ich die wunderbare Jungfrau!»

Der Vater segnete ihn: «Gehe, mein geliebter Sohn! Nimm Krongeld und Krieger mit, soviel du nur brauchst!»



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«Ich brauche nichts, gib mir nur ein gutes Roß und ein Heldenschwert aus echtem Stahl!»

Königssohn Johannes bestieg das Roß, nahm das Schwert aus echtem Stahl und begab sich auf den Weg. Er ritt einen Tag, eine Woche, er ritt einen Monat und zwei und drei. Und kam in eine Gegend, wo sein Pferd bis zu den Knien im Wasser versank, bis zur Brust im Grase ging. Er aber, der tapfere Jüngling, hatte nichts mehr zu essen. Da sah er ein Häuschen, das stand auf Hühnerfüßchen, und er trat hinein. Indem Häuschen saß die Baba Jaga mit dem knöchernen Bein. «Sei gegrüßt, Großmütterchen!»

«Sei gegrüßt, Königssohn Johannes! Scheust du die Tat, oder willst du eine vollbringen?»

«Und was für eine Tat! Ich reite in das dreimal zehnte Reich, dort, so sagt man, sei eine schöne Jungfrau, von deren Händen und Füßen heilendes Wasser herabfließt.»

«So etwas gibt es! Wenn ich sie auch nicht mit meinen Augen gesehen habe, habe ich doch mit den Ohren von ihr gehört. Aber du wirst sie nicht erreichen.»

«Warum denn nicht?»

«Weil auf dem Wege dahin drei breite Ströme fließen, drei Fähren fahren: Auf der ersten wird man dir die rechte Hand abschlagen, auf der zweiten den linken Fuß, auf der dritten den Kopf.»

«Nun, Großmütterchen, ein Kopf weniger macht mich nicht arm. Ich reite, wie es Gott gibt.»

«Ach, Königssohn Johannes, kehre lieber heim! Du bist noch so jung, du bist noch nie in gefährlichen Gegenden gewesen, du hast noch keine großen Ängste ausgestanden.»

«Nein, wer etwas anfängt, muß es auch zu Ende führen.»

Der Königssohn nahm Abschied von der Baba Jaga und ritt weiter. Er ritt einen Tag, einen zweiten und dritten und kam zur ersten Fähre. Die Fährmänner schliefen auf der anderen Seite. Was soll ich tun, dachte Königssohn Johannes, wenn ich rufe, mache ich sie taub für ewige Zeiten, wenn ich pfeife, versenke ich die Fähre. Er pfiff mit halblautem Pfiff. Die Fährmänner erwachten sofort und holten ihn über den Fluß.

«Was wollt ihr für eure Arbeit haben, Brüder?»

«Gib deine rechte Hand!'>

«Nein, meine Hand brauche ich selber.»

Der Königssohn schwenkte sein Schwert nach rechts und links und tötete alle Fährmänner. Dann bestieg er sein Roß und sprengte davon. Auf den beiden anderen Fähren tat er dasselbe. Und bald näherte er sich dem dreimal zehnten Reich.

An der Grenze stand ein wilder Mensch, im Wuchs so hoch wie der Wald,



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im Umfang wie ein Heuschober, und in den Händen hielt er einen wurzelstarken Eichbaum.

«Wohin reitest du, du Wurm?» rief der Riese.

«Ich reite in das dreimal zehnte Reich, ich will die schöne Jungfrau schauen, von deren Händen und Füßen das heilende Wasser fließt.»

«Wo denkst du hin, du Knirps, schon hundert Jahre behüte ich ihr Reich. Sie taugt nicht für dich. Viele mächtige Helden sind hierher gekommen und sind von meiner starken Hand gefallen. Und was bist du? Nichts als ein Wurm!»

Der Königssohn sah, daß er nicht mit dem Riesen fertigwerden konnte und ging zur Seite. Er ging und ging und trat in einen dunklen Wald. Im Walde stand ein Häuschen, und in dem Häuschen saß eine uralte Frau. Sie sah den tapferen Jüngling und sprach: «Sei gegrüßt, Königssohn Johannes, warum hat Gott dich zu mir geführt?»

Er erzählte ihr alles, ohne etwas zu verschweigen. Da gab ihm die Alte ein Zauberkraut und ein kleines Knäuel. «Geh auf das freie Feld», sagte sie zu ihm. «Zünde ein Reisigfeuer an und wirf dies Kraut hinein! Aber sieh zu, daß du selber hinter dem Winde stehst. Durch dieses Zauberkraut wird der Riese in einen tiefen Schlaf verfallen. Schlage ihm den Kopf ab, dann lass' das Knäuelchen rollen und reite auf seiner Spur. Das Knäuelchen wird dich dahin bringen, wo die schöne Jungfrau herrscht. Sie lebt in einem großen, goldenen Schlosse, und oft reitet sie mit ihrem Heer auf die grünen Wiesen hinaus, um sich zu erfreuen. Neun Tage erfreuen sie sich, dann schlafen sie neun Tage und neun Nächte den Heldenschlaf.»

Königssohn Johannes dankte der Alten und ritt auf das freie Feld. Im freien Felde zündete er ein Reisigfeuer an und warf das Zauberkraut in die Flamme. Der starke Wind trug den Rauch auf die Seite, wo jener Wilde auf Wache stand. Dem wurde bald schwarz vor den Augen. Er legte sich auf die feuchte Erde und schlief fest, fest ein. Königssohn Johannes hieb ihm den Kopf ab, ließ das Knäuelchen rollen und folgte seiner Spur. Er ritt und ritt, und schon glänzte in der Ferne das goldene Schloß. Da bog er vom Wege ab, ließ sein Roß grasen und verbarg sich im Gebüsch. Kaum war es ihm gelungen, sich zu verstecken, als sich vom goldenen Schlosse her eine riesige Staubwolke erhob. Die schöne Jungfrau kam mit ihren Heerscharen geritten, um sich auf den grünen Wiesen zu erfreuen. Der Königssohn schaute: das ganze Heer bestand aus lauter Jungfrauen, war die eine schön, so war die andere noch schöner, aber am schönsten war die Königin selber. Neun Tage erging sie sich in den grünen Auen. Der Königssohn wandte kein Auge von ihr, konnte nicht genug schauen.

Am zehnten Tage betrat er das goldene Schloß, auf dem Daunenlager lag die schöne Jungfrau, sie schlief den Heldenschlaf, und von ihren Händen



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und Füßen tropfte das heilende Wasser. Mit ihr schlief das ganze treue Heer.

Königssohn Johannes füllte zwei Bläschen mit heilendem Wasser. Aber sein junges Herz ertrug es nicht - er zerdrückte die jungfräuliche Schönheit. Dann verließ er das Schloß, bestieg sein gutes Roß und sprengte heimwärts.

Neun Tage schlief die schöne Jungfrau. Als sie erwachte, ward sie zornig, stampfte mit den Füßen und rief mit lauter Stimme: «Welch ein Nichtswürdiger war hier? Wer hat von meinem Kwas getrunken und hat ihn nicht bedeckt?»

Sie schwang sich auf ihre schnellfüßige Stute, und in raschem Lauf verfolgte sie den Königssohn.

Die Stute läuft, die Erde bebt. Die Jungfrau holt den tapferen Jüngling ein, sie schwingt ihr Schwert und trifft ihn in die Brust. Der Königssohn sinkt auf die feuchte Erde, die klaren Augen schließen sich, das rote Blut erstarrt. Die schöne Jungfrau schaut ihn an, und tiefes Mitleid ergreift sie. Einen zweiten Jüngling von solcher Schönheit findet man auf der ganzen Welt nicht mehr.

Sie legt ihre weiße Hand auf seine Wunde und benetzt sie mit dem heilenden Wasser. Da schließt sich die Wunde, und Königssohn Johannes erhebt sich heil und unversehrt.

«Wirst du mich zum Weibe nehmen?»

«Ich nehme dich, schöne Jungfrau!»

«Nun, so reite nach Hause und erwarte mich nach drei Jahren!»

Königssohn Johannes nahm Abschied von seiner angelobten Braut und setzte seinen Weg fort.

Er kam in die Nähe seines Reiches, aber die älteren Brüder hatten überall Wachen aufgestellt, um ihn nicht zum Vater zu lassen, und die Wächter verkündeten seine Ankunft. Die älteren Brüder eilten ihm auf dem Wege entgegen und gaben ihm zu trinken, bis er berauscht war. Dann nahmen sie ihm die beiden Bläschen mit dem heilenden Wasser weg und warfen ihn in einen tiefen Abgrund. Königssohn Johannes befand sich auf einmal in der anderen Welt.

Er ging und ging. Auf einmal erhob sich ein heftiger Sturm, die Blitze zuckten, der Donner grollte, und der Regen floß. Er kam zu einem Baum und wollte sich darunter bergen. Da sah er auf dem Baume ein paar junge Vöglein sitzen, die waren völlig durchnäßt. Er nahm seine Kleider ab, deck te sie damit zu und setzte sich unter den Baum. Plötzlich kam ein riesiger Vogel geflogen, der war so groß, daß er das Licht mit seinen Schwingen verdeckte. Es war schon dunkel, aber jetzt wurde es ganz finster. Das war die Mutter der jungen Vöglein, die der Königssohn zugedeckt hatte. Als der



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Vogel sah, daß seine Jungen eingehüllt waren, fragte er: «Wer hat meine Vögelchen zugedeckt?» Und als er den Königssohn erblickte, rief er: «Das hast du getan, ich danke dir. Erbitte von mir, was du willst, ich werde alles für dich tun!»

Da antwortete der Königssohn: «Trage mich hinauf in jene Welt!»

«Mache einen ganz großen Zwerchsack, fange allerlei Wild und stecke es in die eine Hälfte, in die andere gieße Wasser, damit du Nahrung für mich hast!»

Der Königssohn tat, wie ihm geheißen war. Dann nahm der Vogel den Sack auf seinen Rücken, der Königssohn setzte sich in die Mitte, und sie flogen. Und über kurz oder lang trug ihn der Vogel hinauf in die andere Welt. Sie nahmen Abschied voneinander, und der Vogel flog wieder in sein Reich.

Königssohn Johannes kehrte nach Hause zurück, aber der Vater liebte ihn nicht mehr und verbannte ihn von seinen Augen. Drei Jahre lang war er daheim und doch nicht daheim und lebte überall herum.

Als drei Jahre vergangen waren, kam die königliche Jungfrau auf ihrem Schiff gefahren. Sie schickte dem König einen Brief und verlangte, daß er den Schuldigen herausgeben solle; weigere er sich, würde sie das ganze Reich zusammenschlagen und verbrennen, daß nichts mehr übrig bliebe.

Der König schickte seinen ältesten Sohn zum Schiff. Die beiden Söhnlein der königlichen Jungfrau sahen ihn kommen und fragten die Mutter: «Ist das vielleicht unser Väterchen?»

«Nein, das ist euer Oheim.»

«Wie sollen wir ihn empfangen?»

«Nehmt jeder eine Peitsche und treibt ihn zurück!»

Der älteste Königssohn ging niedergeschlagen nach Hause, als wenn er salzlos gegessen hätte, so ging er.

Aber die königliche Jungfrau drohte und forderte weiter, und der König schickte seinen zweiten Sohn hinaus. Jedoch mit ihm geschah dasselbe.

Da befahl der König, den jüngsten Sohn zu suchen, und als man ihn gefunden hatte, wollte er ihn auf das Schiff der königlichen Jungfrau senden.

Königssohn Johannes aber sprach: «Ich gehe nur dann dahin, wenn eine Brücke aus Kristall bis hin zum Schiffe gebaut wird und auf dieser Brücke kostbare Speisen und edle Weine stehen.»

Da war nichts zu machen, man baute die kristallene Brücke und bereitete die Speisen und Wein und Honigmet.

Der Königssohn versammelte seine Freunde und sprach: «Kommt alle mit mir, begleitet mich, eßt und trinkt und laßt es euch nicht leid sein!»

Als er über die Brücke kam, riefen die Knaben: «Mütterchen, wer ist das?»

«Das ist euer Väterchen!»

«Wie sollen wir ihn empfangen?»



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«Nehmt ihn an der Hand und führt ihn zu mir!»

Sie umarmten sich, liebkosten einander und küßten sich. Dann gingen sie zum König und erzählten ihm alles, was geschehen war.

Da jagte der König die beiden älteren Söhne von seinem Hofe und fing an, mit dem Jüngsten zusammen zu leben, und sie lebten und lebten und mehrten ihr Hab und Gut.


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