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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DAS MÄRCHEN VON IWAN ZAREWITSCH, DEM FEUERVOGEL UND DEM GRAUEN WOLF

In einem Reich, in einem Zarenreich lebte einmal ein Zar, der hieß Wysslav Andronowitsch. Er hatte drei Söhne, Dimitri, Wassilij und Iwan. Der Zar besaß einen Garten, der war so reich und schön, wie es keinen zweiten mehr gab. Darin wuchsen kostbare Bäume mit Früchten aller Art und Bäume ohne Früchte. Audi ein Apfelbaum stand darin, darauf wuchsen Äpfel aus lauterem Golde. Der Feuervogel aber, mit den goldenen Federn und den Augen wie aus orientalischem Kristall, kam jede Nacht in den Garten, setzte sich auf diesen Lieblingsbaum des Zaren, riß sich goldene Äpfel ab und flog davon.

Der Zar grämte sich, weil der Feuervogel die Äpfel holte. Daher rief er seine drei Söhne zu sich und sprach: «Meine lieben Söhne, wer von euch kann den Feuervogel fangen? Wer ihn lebend fängt, dem gebe ich zu meinen Lebzeiten die Hälfte des Reiches und bei meinem Tode das ganze Reich.» Darauf erwiderten die Söhne wie aus einem Munde: «Gnädiger Herr Vater, hoher Zar, wir wollen uns mit großem Eifer bemühen, den Vogel lebendig zu fangen.»

In der ersten Nacht ging Dimitri Zarewitsch in den Garten um zu wachen. Er setzte sich unter den Apfelbaum, von dern der Feuervogel die Äpfel holte. Aber bald schlief er ein und hörte nicht, wie der Feuervogel geflogen kam und wieder viele Äpfelchen brach. Am Morgen rief der Zar Wysslav Andronowitsch seinen Sohn Dimitri Zarewitsch zu sich und fragte: «Mein lieber Sohn, hast du den Feuervogel in der Nacht gesehen?» «Nein, gnädiger Herr Vater, ich habe ihn nicht gesehen. In dieser Nacht ist er nicht gekommen.»

In der nächsten Nacht ging Wassilij Zarewitsch in den Garten, um auf den Vogel zu lauern. Er setzte sich unter den Apfelbaum und wachte. Lange saß er da - eine Stunde - zwei Stunden - dann aber schlief er so fest ein, daß er nicht merkte, wie der Feuervogel herbeiflog und die Äpfel pflückte. Am Morgen rief ihn der Zar zu sich und fragte: «Mein lieber Sohn, sahst du den Feuervogel in der Nacht?»

«Gnädiger Herr Vater, in dieser Nacht ist er nicht gekommen.»

In der dritten Nacht ging der jüngste Sohn, Iwan Zarewitsch, in den Garten und wachte. Lange saß er - eine Stunde - eine zweite Stunde und eine dritte. Mit einemmal leuchtete der Garten, als ob er mit vielen Lichtern erhellt würde. Der Feuervogel kam geflogen, setzte sich auf den Apfelbaum und fing an, die goldenen Äpfel zu brechen. Iwan Zarewitsch griff nach ihm und packte ihn an den Schwanzfedern, aber er konnte ihn nicht festhalten,



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der Feuervogel riß sich los und flog davon. Iwan Zarewitsch behielt jedoch eine Feder in der Hand. Diejenige, an der er sich festgehalten hatte.

Am Morgen, als der Zar vom Schlaf erwacht war, ging Iwan Zarewitsch zu ihm und übergab ihm die Feder des Feuervogels. Der Zar war voller Freude, daß es dem jüngsten Sohn gelungen war, wenigstens eine Feder des Feuervogels zu erringen. Die Feder war so wunderbar und leuchtete mit solcher Kraft, daß ein dunkler Raum kerzenhell wurde. Der Zar bewahrte die Feder in seiner Schatzkammer auf und hütete sie wie ein kostbares Kleinod. Aber von jener Zeit an kam der Feuervogel nicht mehr in den Garten geflogen.

Als eine Zeit vergangen war, rief der Zar Wysslav seine beiden älteren Söhne zu sich und sprach: «Liebe Kinder, ich gebe euch meinen Segen, ziehet aus, sucht den Feuervogel und bringt ihn lebendig zu mir! Derjenige, der ihn bringt, wird erhalten, was ich versprach.»

Dimitri Zarewitsch und Wassilij Zarewitsch ließen sich segnen und zogen aus, um den Feuervogel zu suchen. Aber im Herzen hegten sie Groll gegen Iwan Zarewitsch, weil es ihm gelungen war, die goldene Feder des Feuervogels zu erlangen.

Auch Iwan Zarewitsch bat den Vater um seinen Segen. Der Zar aber sprach: «Mein geliebter Sohn, du bist noch zu jung für einen so weiten und schweren Weg. Warum soll ich dich von mir lassen? Sind doch deine Brüder schon fortgezogen. Was soll werden, wenn auch du von mir gehst und ihr lange nicht zurückkehrt? Ich bin schon alt und gehe unter Gott. Wenn während eurer Abwesenheit Gott, der Herr, mein Leben nimmt, wer wird dann das Reich verwalten? Es kann Aufruhr entstehen oder Uneinigkeit, und keiner wird da sein, um das Volk zu beschwichtigen. Der Feind kann eindringen in unser Reich, und niemand wird da sein, um das Heer zu führen!» So sehr sich aber der Zar bemühte, Iwan Zarewitsch zurückzuhalten, er konnte ihn doch nicht von seinem Vorhaben abbringen, und endlich gab er ihm seinen Segen.

Iwan Zarewitsch wählte sich ein gutes Roß und machte sich auf den Weg. Er ritt aus, ohne selber zu wissen wohin. Ob er nah ritt oder fern, ob hoch hinauf oder tief hinab - schnell ist nur ein Märchen erzählt, nicht so schnell die Tat getan. Endlich kam er auf ein freies Feld, auf grüne Wiesen. Auf dem freien Felde stand eine Säule und darauf war geschrieben:

Wer geradeaus reitet, hungert und friert.
Wer rechts reitet, bleibt gesund, aber sein Pferd geht zugrund.
Wer links reitet, geht zugrund, sein Pferd aber bleibt gesund.

Iwan Zarewitsch las die Schrift und wandte sich nach rechts. Er dachte,



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wenn er nur selber am Leben bliebe, könnte er ja ein anderes Pferd gewinnen. Er ritt einen Tag, zwei Tage, drei Tage - da kam ihm auf einmal ein großer grauer Wolf entgegen und sprach: «Du bist mir der Rechte, Iwan Zarewitsch, hast du doch auf der Säule gelesen, daß dein Pferd umkäme auf diesem Wege. Warum bist du hierher geritten?» Damit riß er das Pferd mitten entzwei und lief davon. Iwan Zarewitsch war sehr betrübt, weinte bitterlich um sein gutes Roß und ging zu Fuß weiter. Er ging und ging den ganzen Tag und wurde unaussprechlich müde. Als er sich eben niedersetzen wollte, um zu rasten, holte auf einmal der graue Wolf ihn ein und sprach: «Du tust mir leid, Iwan Zarewitsch, weil du dich zu Fuße abmühst. Auch dauert es mich, daß ich dein gutes Roß zerriß. Setze dich auf mich, den grauen Wolf, und sage mir, wohin ich dich tragen soll!»

Iwan Zarewitsch erzählte, daß er den Feuervogel suchen wolle, und der Wolf eilte mit ihm davon, schneller als das schnellste Pferd. Mitten in der Nacht brachte er ihn zu einer steinernen Mauer. Vor der Mauer hielt der graue Wolf an und sprach: «Nun, Iwan Zarewitsch, steige ab von mir, dem grauen Wolf, und klettere über die steinerne Mauer! Dahinter ist ein Garten, in diesem Garten steht ein goldener Käfig, und in dem Käfig sitzt der Feuervogel. Nimm den Feuervogel heraus, aber rühre den goldenen Käfig nicht an! Wenn du den goldenen Käfig berührst, so werden sie dich gefangennehmen, und du kannst nicht mehr herausfinden.»

Iwan Zarewitsch stieg über die Mauer in den Garten, sah den Feuervogel im goldenen Käfig und war geblendet von seinem Glanze. Er nahm den Vogel aus dem Käfig und wandte sich zum Gehen, aber dann dachte er bei sich: «Weshalb habe ich den Feuervogel ohne Käfig genommen, wohin soll ich ihn denn setzen?» Und er kehrte um und griff nach dem goldenen Käfig. Kaum hatte er ihn berührt, als ein Ton erklang und ein Donner durch den Garten hallte, denn es waren Saiten zu dem Käfig gespannt. Die Wächter erwachten, liefen in den Garten, ergriffen Iwan Zarewitsch mit dem Feuervogel und führten ihn zu ihrem Herrn, dem Zaren Dolmat. Zar Dolmat war sehr zornig und rief mit Donnerstimme:

«Wie, schämst du dich nicht zu stehlen, du junger Bursche? Wer bist du, welches Vaters Sohn, und wie ist dein Stand und dein Name?»

«Ich bin aus dem Wysslav'schen Reich», antwortete Iwan Zarewitsch, «bin ein Sohn des Zaren Wysslav Andronowitsch und heiße Iwan. Dein Feuervogel hat sich gewöhnt, jede Nacht in unseren Garten zu fliegen. Er riß von meines Vaters Lieblingsapfelbaum die goldenen Äpfelchen ab und verdarb fast den ganzen Baum. Darum sandte mich mein Vater aus, den Feuervogel zu suchen und ihm zu bringen.»

«Oho, junger Bursche, war denn das recht, was du getan hast? Wärest du zu mir gekommen, dann hätte ich dir den Feuervogel in allen Ehren gegeben.



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Was nun, wenn ich im ganzen Reiche laut werden lasse, wie ehrlos du gehandelt hast? Willst du mir aber einen Dienst leisten und hinter dreimal neun Länder reiten ins dreimal zehnte Reich und mir vom Zaren Aphron das Pferd mit der goldenen Mähne verschaffen, so verzeihe ich dir und gebe dir den Feuervogel samt dem goldenen Käfig in allen Ehren. Leistest du mir diesen Dienst nicht, so werde ich das ganze Reich wissen lassen, daß du ein ehrloser Dieb bist!»

Iwan Zarewitsch verließ den Zaren Dolmat in großem Kummer und versprach, ihm das goldmähnige Pferd zu verschaffen. Er kam zum grauen Wolf und erzählte ihm alles. «Ach, du junger Bursche, Iwan Zarewitsch, warum hast du nicht auf meine Worte gehört und den goldenen Käfig genommen?»

«Ich fühle mich vor dir schuldig», sagte Iwan Zarewitsch.

«Das ist recht so», antwortete der graue Wolf. «Setze dich auf mich, den grauen Wolf, ich werde dich dahin bringen, wohin du mußt.»

Iwan Zarewitsch setzte sich auf den Rücken des grauen Wolfes, und dieser schoß wie ein Pfeil davon. Ober Nacht kam er in das Reich des Zaren Aphron. Vor dem weißsteinernen Marstall des Zarenhofes hielt der Wolf an und sprach: «Alle Wächter schlafen. Geh in den weißsteinernen Stall und hole das Pferd mit der goldenen Mähne. An der Wand hängt der goldene Zaum, aber nimm ihn nicht, sonst wird es dir schlimm ergehen!»

Iwan Zarewitsch ging in den weißsteinernen Stall, nahm das Pferd mit der goldenen Mähne und wollte zurück gehen. Da sah er an der Wand den goldenen Zaum, und der gefiel ihm so sehr, daß er ihn vom Nagel nahm. Kaum hatte er ihn berührt, als ein lauter Donner ertönte, denn es waren Saiten zu jenem Zaume gespannt. Die Stallknechte erwachten, liefen herbei, ergriffen den Zarewitsch und führten ihn zum Zaren Aphron. Der Zar ward zornig und rief:

«He, junger Bursche, du bist mir der Rechte! Sag an, aus welchem Reiche bist du, welches Vaters Sohn und wie ist dein Name?»

Darauf antwortete Iwan Zarewitsch: «Ich bin aus dem Reiche des Wysslav Andronowitsch, bin der jüngste Sohn des Zaren, und man nennt mich Iwan Zarewitsch.»

«Ei, junger Bursche», sagte der Zar, «ziemt es sich für einen Ritter, so zu handeln? Wärest du zu mir gekommen, dann hätte ich dir das goldmähnige Pferd in Ehren gegeben. Wird es dir zur Ehre gereichen, wenn ich überall verkünden lasse, wie du ehrlos in meinem Reich gehandelt hast? Aber höre, Iwan Zarewitsch, leiste mir einen Dienst: Reite hinter das dreimal neunte Land in das dreimal zehnte Reich und bringe mir Elena, die Wunderschöne, die ich seit langer Zeit mit Herz und Seele liebe und die ich nicht erreichen kann, dann verzeihe ich dir diese Schuld und gebe dir



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das Pferd mit der goldenen Mähne und den goldenen Zaum in allen Ehren. Leistest du mir diesen Dienst nicht, so lasse ich im ganzen Reiche bekanntmachen, was du Unrechtes verübt hast.» Da versprach Iwan Zarewitsch, Elena, die Wunderschöne, zu holen. Dann ging er aus dem Palast hinaus und weinte bitterlich.

Er erzählte dem grauen Wolf alles, was ihm zugestoßen war. «Du bist mir der Rechte», sagte der graue Wolf, «warum hörtest du nicht auf meine Worte und nahmst den goldenen Zaum?»

«Ich fühle mich schuldig vor dir», antwortete Iwan Zarewitsch.

«Nun, das ist gut», fuhr der Wolf fort. «Setze dich auf mich, den grauen Wolf, ich bringe dich dahin, wohin du reiten mußt.»

Iwan Zarewitsch setzte sich auf den Rücken des grauen Wolfes und der Wolf schoß davon, schnell wie ein Pfeil, und lief so, wie man es im Märchen erzählt, gar nicht lange, und kam bald in das Reich der Königstochter Elena, der Wunderschönen, und an ihren Garten. Als er an das goldene Gitter kam, welches den Garten umgab, sagte der graue Wolf: «Nun, Iwan Zarewitsch, steige jetzt ab von mir, dem grauen Wolf, gehe auf demselben Weg zurück, auf dem wir gekommen sind, und erwarte mich auf dem freien Felde bei der grünen Eiche!»

Iwan Zarewitsch ging, wie es ihn der Wolf geheißen hatte. Der graue Wolf aber setzte sich vor das goldene Gitter und wartete, bis Elena, die Wunderschöne, im Garten lustwandeln würde.

Als am Abend die Sonne im Westen sich neigte und die Luft nicht mehr so heiß war, erging sich Elena, die Wunderschöne, mit ihren Ammen und Wärterinnen im Garten. Als sie sich der Stelle näherte, wo der graue Wolf hinter dem Gitter saß, sprang dieser plötzlich in den Garten, ergriff Elena, die Wunderschöne, sprang mit ihr zurück und in mächtigen Sätzen davon. Er lief auf das freie Feld zu der grünen Eiche, wo Iwan Zarewitsch ihn erwartete, und sprach zu ihm: «Setze dich so schnell wie. möglich auf mich, den grauen Wolf!» Iwan Zarewitsch setzte sich auf den grauen Wolf und der graue Wolf trug beide ins Zarenreich. Die Ammen und Wärterinnen schickten sofort Leute hinter ihnen her. Die Läufer liefen, konnten sie aber doch nicht einholen, und so kehrten sie wieder zurück.

Als Iwan Zarewitsch mit Elena, der Wunderschönen, auf dem Rücken des grauen Wolfes saß, fing er an, sie von Herzen zu lieben und sie ihn. So gelangten sie in das Reich des Zaren Aphron. Als aber Iwan Zarewitsch Elena, die Wunderschöne, zum Zaren führen sollte, da wurde er betrübt und weinte.

«Warum weinst du, Iwan Zarewitsch?» fragte der graue Wolf.

«Warum soll ich nicht betrübt sein und weinen? Ich liebe Elena, die Wunderschöne, und soll sie nun für das Roß mit der goldenen Mähne zu



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dem Zaren Aphron führen. Gebe ich sie ihm nicht, so wird er mich im ganzen Reiche ehrlos machen.»

«Ich habe dir viel gedient, Iwan Zarewitsch», sprach der graue Wolf, «ich will dir auch noch diesen Dienst leisten. Höre, was ich dir sage: Ich verwandle mich in Elena, die Wunderschöne, und du führst mich zum Zaren Aphron. Er wird mich für die wirkliche Elena halten und dir dafür das Pferd mit der goldenen Mähne geben. Wenn du auf dem goldmähnigen Pferde davongeritten bist, werde ich den Zaren Aphron bitten, daß er mich auf das freie Feld spazierengehen läßt; und wenn ich dann mit den Ammen und Wärterinnen und Bojarinnen da draußen bin auf dem freien Felde, dann erinnere dich an mich, und ich werde wieder bei dir sein.» Der graue Wolf sprach es, warf sich auf die feuchte Erde und wurde zu Elena, der Wunderschönen, und es wäre keinem möglich gewesen, ihn wiederzuerkennen.

Iwan Zarewitsch ging mit ihm an den Hof des Zaren Aphron. Elena, die Wunderschöne, wartete hinter der Stadt.

Als Iwan Zarewitsch mit der vermeintlichen Elena zum Zaren kam, freute der sich überaus, daß er das Kleinod erlangte, das er sich schon so lange gewünscht hatte. Er nahm die vermeintliche Königstochter zu sich und übergab dem Zarewitsch das Pferd mit der goldenen Mähne und dem goldenen Zaum. Iwan Zarewitsch setzte sich auf das Pferd und ritt hinter die Stadt. Dort hob er Elena, die Wunderschöne, zu sich auf das Pferd und ritt geradeswegs mit ihr in das Reich des Zaren Dolmat.

Der graue Wolf aber blieb, statt der herrlichen Königin, bei dem Zaren Aphron einen Tag - zwei Tage drei Tage. Am vierten Tage ging er zum Zaren Aphron und bat, ihn auf das freie Feld hinausgehen zu lassen, um seinen Hann und seine Traurigkeit zu vertreiben. Da antwortete der Zar Aphron: «Ach, meine liebe, wunderschöne Königstochter Elena, ich tue alles für dich, ich lasse dich auch auf das freie Feld spazierengehen.» Er befahl den Ammen, Wärterinnen und Bojarinnen, Elena, die Wunderschöne, auf das freie Feld zu begleiten.

Unterdes ritt Iwan Zarewitsch mit Elena, der Wunderschönen, seinen Weg, plauderte mit ihr und hätte beinahe darüber den grauen Wolf vergessen. Auf einmal erinnerte er sich und sprach: «Wo bist du, mein grauer Wolf?» Und im nächsten Augenblick stand der graue Wolf vor dem Zarewitsch und sagte: «Setze dich auf mich, den grauen Wolf, und Elena, die Wunderschöne, soll auf dem Pferd mit dei goldenen Mähne reiten.» Da setzte sich Iwan Zarewitsch auf den Rücken des Wolfes und sie ritten fort in das Reich des Zaren Dolmat.

Über kurz oder lang kamen sie in das Reich des Zaren Dolmat und hielten drei Werst vor der Stadt an. Da fing Iwan Zarewitsch an, den grauen Wolf zu bitten: «Höre, du grauer Wolf, mein lieber Freund, du hast mir



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viele Dienste getan, leiste mir auch noch den letzten: Verwandle dich in das Pferd mit der goldenen Mähne, ich mag mich nicht davon trennen!» Da warf sich der graue Wolf auf die feuchte Erde und wurde zum goldmähnigen Pferde. Iwan Zarewitsch ließ Elena, die Wunderschöne, mit seinem goldmähnigen Pferd auf einer grünen Wiese zurück, stieg auf den grauen Wolf und ritt in das Hoflager des Zaren Dolmat.

Als der Zar Dolmat ihn auf dem goldmähnigen Pferde kommen sah, freute er sich sehr, kam aus dem Palast in den weiten Hof, begrüßte den Zarewitsch und küßte ihn auf seinen süßen Mund. Dann nahm er ihn an die rechte Hand und führte ihn in seinen Palast und befahl, ein festliches Mahl zu richten. Sie setzten sich an eichene Tische, geschmückt mit schön gestickten Tüchern, aßen und tranken und trieben Kurzweil zwei Tage lang. Am dritten Tage überreichte der Zar Dolmat Iwan Zarewitsch den Feuervogel mit dem goldenen Käfig.

Iwan Zarewitsch nahm den Feuervogel, ging vor die Stadt, setzte sich zusammen mit der herrlichen Zarentochter auf das goldmähnige Pferd und ritt in sein Vaterland, in das Reich des Zaren Wysslav.

Am anderen Tage wollte Zar Dolmat das goldmähnige Pferd auf freiem Felde zureiten. Er ließ es satteln, bestieg es und ritt auf das freie Feld. Kaum aber war das Pferd im freien Felde, da warf es den Zaren ab und verwandelte sich wieder in den grauen Wolf, und nachdem er sich verwandelt hatte, lief er hinter Iwan Zarewitsch her und holte ihn ein.

«Iwan Zarewitsch, setze dich auf mich, den grauen Wolf!» sagte er, «und Königin Elena, die Wunderschöne, soll auf dem goldmähnigen Pferde reiten.»

Iwan Zarewitsch bestieg den grauen Wolf, und sie setzten ihren Weg miteinander fort. Als der graue Wolf sie an den Ort gebracht hatte, wo er das Pferd des Iwan Zarewitsch in zwei Stücke zerrissen hatte, machte er halt und sprach: «Iwan Zarewitsch, ich habe dir treu gedient. Siehe, an dieser Stelle habe ich dein Pferd in zwei Stücke gerissen, und hierher habe ich dich auch wieder zurückgebracht. Steige herab von mir, dem grauen Wolf. Jetzt hast du ein Roß mit einer goldenen Mähne, schwinge dich darauf und reite, wohin du mußt. Ich aber bin nicht mehr dein Diener.» Als der graue Wolf das gesagt hatte, lief er davon.

Iwan Zarewitsch weinte bitterlich um den grauen Wolf. Dann machte er sich mit Elena, der Wunderschönen, auf den Weg. Er ritt mit ihr auf dem goldmähnigen Pferde fort, und über kurz oder lang hatte er das Reich seines Vaters bis auf zwanzig Werst erreicht. Da hielt er an, stieg vom Pferde herab und legte sich mit Elena, der Wunderschönen, unter einen Baum, um bei der Sonnenhitze zu ruhen. Das Pferd mit der goldenen Mähne band er an denselben Baum, und das Bauer mit dem Feuervogel stellte er neben



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sich. Während sie auf dem weichen Grase lagen und miteinander verliebte Gespräche führten, schliefen sie beide fest ein.

Gerade um dieselbe Zeit kehrten die beiden Brüder Dimitri und Wassilij, die nach verschiedenen Reichen geritten waren, mit leeren Händen in das Reich des Vaters zurück. Unverhofft stießen sie auf ihren schlafenden Bruder Iwan Zarewitsch und Elena, die Wunderschöne. Als sie den Feuervogel im goldenen Käfig sahen und daneben das goldmähnige Pferd, freuten sie sich sehr. Sie beschlossen, ihren Bruder Iwan Zarewitsch zu erschlagen. Dimitri zog sein Schwert aus der Scheide, hieb auf Iwan Zarewitsch ein und schlug ihn in Stücke. Darauf weckte er Elena, die Wunderschöne: «Schöne Jungfrau, aus welchem Reiche und welches Vaters Tochter bist du, und wie ist dein Name?»

Als Elena, die Wunderschöne, sah, daß Iwan Zarewitsch tot war, erschrak sie sehr und fing an, bitterlich zu weinen. «Ich bin die Königin Elena, die Wunderschöne», sagte sie unter Tränen. «Iwan Zarewitsch, den ihr getötet habt, hat mich erworben. Wäret ihr echte Helden, so hättet ihr ihn auf dem freien Felde, im offenen Kampfe und im Wachen besiegt. Aber ihr habt ihn im Schlafe getötet, das bringt euch keine Ehre. Ist doch ein Schlafender wie ein Toter.»

Da richtete Dimitri Zarewitsch sein Schwert auf das Herz der Königstochter und sprach: «Höre, Elena, du Wunderschöne, du bist jetzt in unserer Hand. Wir führen dich zu unserem Vater, dem Zaren Wysslav Andronowitsch, und du wirst ihm sagen, daß wir dich errungen haben, dich, den Feuervogel und das Pferd mit der goldenen Mähne. Sagst du es nicht, so wirst du auf der Stelle getötet!»

Elena, die Wunderschöne, erschrak. Mit einem Eid mußte sie versprechen, das zu sagen, was die Brüder befohlen hatten. Dann warfen Dimitri und Wassilij das Los, wem die Königstochter gehören solle und wem das goldmähnige Pferd. Das Los fiel so, daß Wassilij Zarewitsch die Königstochter gewann und Dimitri Zarewitsch das Pferd mit der goldenen Mähne.

Darauf nahm Wassilij Elena, die Wunderschöne, und setzte sie auf sein Pferd. Dimitri bestieg das Pferd mit der goldenen Mähne und nahm den Feuervogel, um ihn seinem Vater, dem Zaren Wysslav Andronowitsch, zu bringen. Und so zogen sie ihren Weg.

Dreißig Tage lag Iwan Zarewitsch tot an jenem Orte. Da kam der graue Wolf herbei und witterte, was geschehen war. Er wollte Iwan Zarewitsch zum Leben erwecken, aber er wußte nicht wie. Da sah er einen alten Raben mit seinen zwei Jungen über dem Leichnam fliegen, die wollten sich am Fleisch des toten Iwan satt fressen. Schnell verbarg sich der graue Wolf in einem Busche, und als die jungen Raben sich auf die Erde niederließen, um den Leib Iwans zu fressen, sprang der graue Wolf aus dem Gebüsch



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hervor, packte einen der jungen Raben und tat, als wolle er ihn in Stücke reißen. Da ließ sich der alte Rabe auf die Erde nieder, setzte sich dem grauen Wolf zu Füßen und sprach: «Ach, du bist ja der graue Wolf! Rühre mein Junges nicht an, es hat dir ja nichts zuleide getan!»

«Höre, Rabe Rabensohn», sagte der Wolf, «ich werde dein Junges nicht anrühren und werde es gesund und unversehrt lassen, wenn du mir einen Dienst leistest. Fliege hinter das dreimal neunte Land, in das dreimal zehnte Reich und bringe mir Wasser des Lebens und Wasser des Todes!» «Ich werde dir diesen Dienst leisten», antwortete der Rabe, «aber rühre meinen Sohn nicht an!» Danach schwang er sich in die Lüfte und war bald nicht mehr zu sehen.

Am dritten Tage kehrte der Rabe zurück und brachte zwei Bläschen mit: in einem war Wasser des Lebens, in dem anderen Wasser des Todes. Der graue Wolf nahm die beiden Bläschen, zerriß den jungen Raben in zwei Stücke, besprengte ihn mit dem Wasser des Todes, und die Stücke schlossen sich wieder zusammen. Dann tat er dasselbe mit dem Wasser des Lebens, und der junge Rabe schlug mit den Flügeln und flog davon. Darauf besprengte der graue Wolf den Leichnam des Iwan Zarewitsch mit dem Wasser des Todes, und die Stücke wuchsen wieder zusammen. Dann besprengte er ihn mit dem Wasser des Lebens, und Iwan Zarewitsch stand auf und sprach: «Ach, wie habe ich lange geschlafen!»

«Ja», sagte der graue Wolf zu ihm, «du hättest ewig geschlafen, wenn ich nicht gekommen wäre. Siehe, deine Brüder hieben dich in Stücke und nahmen Elena, die Wunderschöne, das Pferd mit der goldenen Mähne und den Feuervogel mit sich fort. Eile so schnell wie möglich ins Reich deines Vaters. Dein Bruder Wassilij will sich heute mit deiner Braut vermählen! Setze dich auf mich, den grauen Wolf, damit du schnell dahin gelangst. Ich will dich dahin tragen.»

Iwan Zarewitsch setzte sich auf den grauen Wolf, und dieser lief mit ihm in das Reich des Wysslav Andronowitsch, und über kurz oder lang kam er vor des Zaren Stadt.

Iwan Zarewitsch stieg herab vom grauen Wolfe, ging in die Stadt und hin zur Hofburg. Er kam gerade an, als Wassilij Zarewitsch mit Elena, der Wunderschönen, getraut worden war und mit ihr beim Mahle saß. Als Elena, die Wunderschöne, Iwan Zarewitsch erblickte, sprang sie vom Tische auf, küßte ihn auf seinen Honigmund und rief: «Dieser hier ist mein geliebter Bräutigam und nicht der böse Wicht, der dort beim Mahle sitzt!»

Da erhob sich der Zar Wysslav Andronowitsch und fing an, Elena, die Wunderschöne, zu fragen, was das zu bedeuten habe. Nun erzählte ihm Elena, die Wunderschöne, die lautere Wahrheit: Wie Iwan Zarewitsch sie gewonnen habe und dazu das goldmähnige Pferd und den Feuervogel, wie



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die älteren Brüder ihn töteten, während er schlief, und sie dann gezwungen wurde zu sagen, die Brüder hätten dies alles erworben. Da wurde der Zar zornig und ließ die bösen Brüder in den Kerker werfen.

Iwan Zarewitsch aber wurde mit Elena, der Wunderschönen, vermählt, und sie fingen an, in Liebe und Eintracht zusammen zu leben, und keines wollte auch nur einen Augenblick mehr ohne das andere sein.


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