Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DER HELLSICHTIGE TRAUM

Es war einmal ein Kaufmann, der hatte zwei Söhne, Demetrius und Johannes. Einmal, als er sie für die Nacht segnete, sprach er zu ihnen: «Kinder, was ihr heute nacht träumen werdet, sollt ihr mir morgen früh anvertrauen; aber wer seinen Traum verschweigt, den werde ich töten lassen.»

Am anderen Morgen kam der ältere Sohn und sprach: «Vater, mir träumte, daß Bruder Johannes auf zwölf Adlern bis unter das Himmelsgewölbe flog, und daß dein Lieblingslamm umkam.»

«Und was hast du geträumt, Johannes»?

«Ich sage es nicht», antwortete der Sohn. Und wie ihm der Vater auch zuredete, er blieb hartnäckig und erwiderte auf alle Ermahnungen: «Ich sage es nicht, ich sage es nicht!»



153 Russische Ivan Märchen Flip arpa

Der Kaufmann ward zornig, rief seine Diener und befahl, den ungehorsamen Sohn nackt auszuziehen und an einer Säule an der Landstraße festzubinden. Wie gesagt, so getan - die Diener ergriffen ihn und banden ihn fest, ganz fest an eine Säule. Schlecht ging es dem braven Jüngling, die Sonne schien heiß auf ihn herab, Hunger und Durst quälten ihn, und die Mücken stadien ihn.

Da kam ein junger Königssohn des Weges daher und erblickte den Kaufmannssohn. Er empfand Mitleid mit ihm, ließ ihn losbinden und mit seinem eigenen Gewande bekleiden. Dann führte er ihn in sein Schloß und fing an ihn zu fragen: «Wer band dich an jene Säule?»

«Mein eigener Vater, er war zornig auf midi.»

«Was hast du verbrochen?»

«Ich wollte ihm nicht erzählen, was ich geträumt habe.»

«Wie einfältig ist doch dein Vater, eine Kleinigkeit so hart zu bestrafen! Was träumte dir denn?»

«Das sage ich nicht, o Königssohn!»

«Du sagst es nicht, und ich habe dich vom Tode errettet?»

«Ich sagte es dem Vater nicht, ich sage es auch dir nicht!»

Der junge König ward zornig und befahl, Johannes, den Kaufmannssohn, in das Gefängnis zu setzen. Sogleich kamen die Soldaten herbei und brachten den Knecht Gottes in ein dunkles Verließ.

Ein Jahr verging, und der Königssohn wollte sich vermählen. Er rüstete sich und ritt fort in ein fremdes Reich, um Elena, die Wunderschöne, zu freien.

Bald danach ging seine Schwester einmal an dem Turme vorüber. Johannes, der Kaufmannssohn, erblickte sie von seinem Fensterchen aus und rief mit lauter Stimme: «Erbarme dich, o Königstochter, und lasse mich frei! Vielleicht kann ich dir einmal nützlich sein; weiß ich doch, daß der Königssohn fortritt, um Elena, die Wunderschöne, zu freien. Ohne mich wird er sich aber nicht mit ihr vermählen können, am Ende sogar sein Vorhaben mit dem Kopfe bezahlen. Vielleicht hast du selber schon einmal gehört, daß Elena, die Wunderschöne, überaus klug ist und ihretwegen schon viele Freier den Kopf verloren haben.»

«Und du willst dem Königssohn helfen?»

«Ich könnte es schon, aber dem Falken sind die Flügel gebunden.»

Die Königstochter gab Befehl, ihn sogleich aus dem Turme zu befreien. Nun erwählte sich Johannes, der Kaufmannssohn, seine Gefährten. Mit ihm zusammen waren es zwölf, alle einander gleich wie leibliche Brüder. Wuchs wie Wuchs, Stimme wie Stimme, Haar wie Haar. Sie kleideten sich in Röcke von gleicher Farbe und von gleichem Maß, setzten sich auf ihre braven Pferde und ritten los. Sie ritten einen Tag - zwei Tage - drei Tage. Am vierten Tage kamen sie in einen mächtigen, dichten Wald. In diesem Walde



154 Russische Ivan Märchen Flip arpa

hörten sie ein lautes Geschrei. «Haltet an, Brüder», rief Johannes, «wartet hier, ich gehe jenem Lärm nach.»

Er sprang vom Pferde und lief in den Wald. Auf einer Lichtung fand er drei alte Männer, welche heftig miteinander stritten. «Seid gegrüßt, ihr Alten, warum streitet ihr?»

«Ach, wackerer Jüngling, von unserem Vater erhielten wir drei Wunderdinge: ein unsichtbar machendes Hütlein, einen fliegenden Teppich und ein Paar selbstlaufende Stiefel. Schon siebzig Jahre streiten wir, aber wir können darob nicht einig werden.»

«Wollt ihr, daß ich sie verteile»?

«Habe die Güte!»

Johannes, der Kaufmannssohn, spannte seinen Bogen, legte drei Pfeile darauf und schnellte sie nach verschiedenen Richtungen ab. Dem einen Greis befahl er, nach rechts zu laufen, dem anderen, nach links, und den dritten schickte er geradeaus. «Wer den ersten Pfeil zurückbringt, dem gehört das unsichtbar machende Hütlein, wer als Zweiter erscheint, erhält den fliegenden Teppich, und der letzte mag die selbstlaufenden Stiefel nehmen.» Die Alten liefen hinter den Pfeilen her.

Johannes, der Kaufmannssohn, aber nahm die drei Wunderdinge und kehrte zu seinen Gefährten zurück. «Brüder», sagte er, «laßt die Rosse laufen und setzt euch mit mir auf den fliegenden Teppich!» Sie setzten sich miteinander auf den fliegenden Teppich und flogen in das Reich Elenas, der Wunderschönen. Sie kamen in die Hauptstadt und hielten beim Schlagbaum an. Dann fingen sie an, den Königssohn zu suchen, und fanden seinen Hof.

«Was wollt ihr?» fragte er.

«Nimm uns brave Burschen alle zwölf in deine Dienste! Wir wollen für dich sorgen und dir aus treuem Herzen dienen.»

Der Königssohn nahm sie in seinen Dienst und gab dem einen die Stelle eines Kochs, dem anderen die eines Pferdeknechts - jedem seinen besonderen Platz.

Am gleichen Tage kleidete sich der Königssohn in sein Festgewand und ritt zum Schlosse, um sich Elena, der Wunderschönen, vorzustellen. Sie kam ihm freundlich entgegen, bewirtete ihn mit Speise und Trank und fragte: «Sage mir, o Königssohn, warum du uns besuchst?»

«Ich will um dich freien, Elena, du Wunderschöne, willst du dich mit mir vermählen?»

«Ich bin einverstanden, aber du mußt vorher drei Aufgaben erfüllen; wenn du sie erfüllst, werde ich die Deine, wenn nicht, so sei bereit, deinen Kopf unter ein scharfes Beil zu legen.»

«Gib die erste Aufgabe!»



155 Russische Ivan Märchen Flip arpa

«Ich werde morgen etwas haben - was, das sage ich nicht. Klügle es aus, o Königssohn, und bringe das herbei, was meinem Unbekannten völlig gleich ist!»

Voll großer Sorge kehrte der Königssohn in seine Herberge zurück.

«O Königssohn», fragte Johannes, «warum bist du so traurig, hat dich Elena, die Wunderschöne, gekränkt? Teile mir deinen Kummer mit, dann wird es dir leichter werden!»

Der Königssohn antwortete: «Elena, die Wunderschöne, hat mir eine Aufgabe gestellt, die kein Weiser auf der Welt lösen kann.»

«Nun, das ist noch nicht das größte Übel, bete zu Gott und lege dich schlafen, der Morgen ist weiser als der Abend. Morgen wollen wir die Sache überlegen.»

Der Königssohn legte sich schlafen. Johannes, der Kaufmannssohn, setzte das unsichtbar machende Hütlein auf, zog die selbstlaufenden Stiefel an und eilte zu Elena, der Wunderschönen, ging geradeswegs in ihr Gemach und lauschte. Sie gab gerade ihrer liebsten Magd einen Auftrag: «Nimm diesen kostbaren Stoff und bringe ihn zum Schuhmacher, er soll so schnell wie möglich einen Schuh für meinen Fuß daraus machen!»

Die Magd eilte davon und Johannes hinter ihr her. Der Meister machte sich sogleich an die Arbeit, nähte eilends den Schuh und stellte ihn ans Fenster. Johannes, der Kaufmannssohn, nahm leise den Schuh und steckte ihn in seine Tasche. Der arme Schuster lief hin und her, aber seine Arbeit blieb verschwunden. Er suchte und suchte, durchstöberte alle Winkelchen, aber alles war vergebens. «Das ist ein Wunder», sagte er, «oder irgendein Teufel treibt seinen Scherz mit mir.» Da war nichts zu machen, er mußte noch einmal zur Nadel greifen und einen zweiten Schuh nähen.

«Was bist du für ein langsamer Mensch», sagte Elena, die Wunderschöne, als er ihr den Schuh brachte. «Soviel Zeit hast du auf einen einzigen Schuh verwendet!» Sie setzte sich an ihren Arbeitstisch und fing an, den Schuh mit Gold zu besticken und mit großen Perlen und wunderbaren Edelsteinen zu besetzen. Aber Johannes war auch da, holte seinen Schuh hervor und tat dasselbe. Wenn sie ein Steinchen nahm, wählte er genau das gleiche, wenn sie eine Perle befestigte, tat er es auch. Elena, die Wunderschöne, beendete ihre Arbeit, lächelte und sprach: «Was wird der Königssohn mir morgen zeigen?»

«Warte nur», dachte Johannes, «man weiß noch nicht, wer klüger ist!» Er kehrte in die Herberge zurück und legte sich schlafen.

Bei der Morgenröte stand er auf, kleidete sich an und ging hin, um den Königssohn zu wecken. Er weckte ihn und gab ihm den Schuh. «Geh zu Elena, der Wunderschönen, und zeige ihr den Schuh, das ist die erste Aufgabe!»



156 Russische Ivan Märchen Flip arpa

Der Königssohn wusch sich, kleidete sich schön an und sprengte zur Braut. Alle Räume waren voller Gäste: Bojaren, Magnaten und Ratsherren. Als der Königssohn eintrat, spielte die Musik, die Gäste sprangen von ihren Plätzen auf, und die Soldaten machten Front.

Elena, die Wunderschöne, holte ihren mit Perlen und Edelsteinen bestickten Schuh hervor, sah auf den königlichen Freier und lächelte.

«Das ist ein schöner Schuh», sprach der Königssohn, «aber wenn man nicht den gleichen dazu hat, ist er zu nichts zu gebrauchen. Offenbar muß ich dir den anderen geben!» Mit diesen Worten holte er aus seiner Tasche den Schuh hervor und stellte ihn auf den Tisch. Da klatschten alle Gäste und riefen mit lauter Stimme: «Heil dem Königssohn, er ist würdig, Elena, die Wunderschöne, unsere Herrin, zu freien!»

«Nun, das werden wir sehen, möge er zuerst die zweite Aufgabe erfüllen! — Ich werde morgen etwas haben, was, das sage ich nicht. Klügle es aus, o Königssohn, und bringe das herbei, was meinem Unbekannten völlig gleich ist!»

Spät am Abend kehrte der Königssohn zurück, noch trüber gestimmt als zuvor.

«Höre auf, dich zu grämen», sagte Johannes, der Kaufmannssohn, «bete zu Gott und lege dich schlafen, der Morgen ist weiser als der Abend!»

Er brachte den Königssohn zu Bett, zog die selbstlaufenden Stiefel an, setzte das unsichtbar machende Hütlein auf und lief zu Elena, der Wunderschönen. Sie gab gerade ihrer Lieblingsmagd folgenden Auftrag: «Geh so schnell wie möglich zum Geflügelhof hinab und hole mir ein weißes Entlein!»

Die Magd lief in den Geflügelhof und Johannes hinter ihr her. Sie packte ein Entchen und Johannes einen Enterich, und beide kehrten auf demselben Wege zurück. Elena, die Wunderschöne, setzte sich an ihren Arbeitstisch, nahm das Entchen und schmückte seine Flügel mit seidenen Bändern und das Schöpfchen mit Diamanten. Johannes, der Kaufmannssohn, sah zu und tat mit seinem Enterich genau das Gleiche.

Am anderen Tage waren bei Elena, der Wunderschönen, abermals alle Gäste versammelt, und die Musik ertönte. Sie ließ ihr Entlein los und fragte den Königssohn: «Hast du meine Aufgabe erraten?»

«Ja, Elena, du Wunderschöne, hier ist zu deinem Entchen der Enterich!» Damit ließ er diesen los.

Einstimmig riefen alle Bojaren: «Ha, der Königssohn, er ist würdig, Elena, die Wunderschöne, zu freien!»

«Halt, muß er doch vorher die dritte Aufgabe lösen! Ich werde morgen etwas haben - was, das sage ich nicht. Klügle es aus, u Königssohn, und bringe das herbei, was meinem Unbekannten völlig gleich ist!»



157 Russische Ivan Märchen Flip arpa

Am Abend kehrte der Königssohn so traurig nach Hause zurück, daß er gar nicht sprechen konnte.

«Betrübe dich nicht, lege dich schlafen, bete, der Morgen ist weiser als der Abend», sagte Johannes, der Kaufmannssohn. Er setzte schnell das unsichtbar machende Hütlein auf, zog die selbstlaufenden Stiefel an und eilte zu Elena, der Wunderschönen. Sie machte sich gerade zurecht, um an das blaue Meer zu fahren. Sie setzte sich in einen Wagen und fuhr mit großer Geschwindigkeit davon, aber Johannes, der Kaufmannssohn, blieb keinen Schritt hinter ihr zurück. Elena kam an das blaue Meer, um ihr Großväterchen zu rufen. Die Wellen wallten und wogten, und aus dem Meere erhob sich der große Alte. Sein Haupthaar war silbern, der Bart aus Gold. Er kam heraus ans Ufer: «Sei gegrüßt, Großtöchterchen, lange, lange habe ich dich nicht gesehen. Suche mir den Kopf ab und kämme mir das Haar!»

Er legte den Kopf auf ihre Knie und schlief ein. Elena, die Wunderschöne, suchte ihm den Kopf ab. Johannes, der Kaufmannssohn, aber stand hinter ihr. Als sie sah, daß der Greis eingeschlafen war, riß sie ihm drei silberne Haare aus. Johannes, der Kaufmannssohn, aber nahm nicht nur drei Haare, sondern ergriff ein ganzes Büschel. «Au!» schrie der Großvater und fuhr hoch, «bist du von Sinnen, das tut mir weh!»

«Verzeih, Großväterchen», sagte Elena, die Wunderschöne, «ich habe dich solange nicht gekämmt. Alle Haare haben sich verwirrt.»

Der Alte beruhigte sich und schlief wieder ein. Elena, die Wunderschöne, zog ihm drei goldene Haare aus dem Bart. Johannes aber faßte den Bart und riß ihn fast ganz aus. Der Alte schrie auf, sprang in die Höhe und warf sich ins Meer.

«Jetzt ist es mit dem Königssohn vorbei», dachte Elena, die Wunderschöne, «denn diese Haare kann er nicht erlangen.»

Am anderen Tag versammelten sich die Gäste, und auch der Königssohn fuhr zum Schloß. Elena, die Wunderschöne, zeigte ihm die drei silbernen und die drei goldenen Haare. «Sahst du jemals so ein Wunder?» fragte sie ihn.

«Du fandest etwas Rechtes, um dich zu rühmen; wenn du willst, gebe ich dir eine ganze Handvoll davon!» Er holte das silberne und das goldene Büschel hervor und schenkte es ihr.

Da wurde Elena, die Wunderschöne, zornig und lief in ihr Schlafgemach, um in ihrem Zauberbuche nachzusehen, ob der Königssohn alles selber erraten habe, oder ob ihm jemand helfe. In diesem Buche las sie, daß nicht er der Kluge war, sondern sein Diener Johannes, der Kaufmannssohn. Da kehrte sie zu den Gästen zurück und sprach zu dem Königssohn: «Stelle mir deinen Lieblingsdiener vor!»

«Ich habe deren zwölf.»



158 Russische Ivan Märchen Flip arpa

«Schicke mir den, der Johannes heißt!»

«Sie heißen alle Johannes.»

«Gut, so sollen alle kommen!» Denn sie hoffte, dann den Schuldigen herauszufinden.

Der Königssohn gab den Befehl, und sofort erschienen die zwölf braven Burschen, seine treuen Diener, alle im Gesicht völlig einander gleich, Wuchs wie Wuchs, Stimme wie Stimme, Haar wie Haar.

«Wer ist der Älteste unter euch?» fragte Elena, die Wunderschöne.

«Ich, ich, ich bin der Älteste!» riefen alle zu gleicher Zeit.

«So kann ich nichts erfahren», dachte Elena, die Wunderschöne, und sie befahl, elf gewöhnliche Becher zu bringen und als zwölften ihren eigenen goldenen Becher. Sie füllte die zwölf Becher mit edlem Wein und bewirtete die braven Burschen, aber keiner von ihnen trank aus einem gewöhnlichen Becher, alle zwölf streckten ihre Hände nach dem goldenen aus. Jeder wollte ihn nehmen, und der Wein wurde verschüttet. Als Elena, die Wunderschöne, sah, daß es ihr so nicht geraten wollte, befahl sie den Burschen, Speise und Trank zu nehmen und sich zum Schlafen niederzulegen.

In der Nacht, als alle im Schlafe lagen, ging sie mit ihrem Zauberbuche zu ihnen, schaute in das Buch und erkannte sogleich den Richtigen. Sie nahm eine Schere und schnitt ihm die Haare an den Schläfen ab. «An diesem Zeichen werde ich ihn morgen erkennen und ihn töten lassen.»

Am Morgen erwachte Johannes, der Kaufmannssohn, griff an den Kopf und fand seine Schläfen geschoren. Schnell sprang er auf und weckte seine Gefährten. «Ihr habt genug geschlafen», rief er, «Unheil ist nahe. Nehmt Scheren und schert eure Schläfen!»

Nach einer Stunde rief Elena, die Wunderschöne, alle zu sich, um den Schuldigen herauszufinden. Aber - o Wunder - wen sie auch ansah, ein jeder hatte geschorene Schläfen. Verzweifelt ergriff sie ihr Zauberbuch und warf es in den Ofen. Nun konnte sie sich nicht mehr weigern, sie mußte sich mit dem Königssohn vermählen.

Froh wurde die Hochzeit gefeiert. Drei Tage und drei Nächte lang ging niemand schlafen, drei Tage und drei Nächte lang waren alle Wirtshäuser geöffnet und jedermann konnte umsonst essen und trinken, soviel er nur wollte.

Als die Gastmähler zu Ende waren, machte sich der Königssohn auf, um mit seiner jungen Gemahlin in sein Reich zu fahren. Voraus schickte er die zwölf Diener. Sie eilten vor die Stadt, breiteten den fliegenden Teppich aus, setzten sich darauf und erhoben sich in die Luft. Hoch stiegen sie hinauf, höher als die Wolken, flogen und flogen, bis sie über jenem dichten Walde angelangt waren, wo sie ihre wackeren Pferde wußten. Im Augenblick, als sie von ihrem Teppich herunterstiegen, kam der erste Greis mit seinem Pfeil



159 Russische Ivan Märchen Flip arpa

gelaufen, und Johannes, der Kaufmannssohn, übergab ihm das unsichtbarmachende Hütlein. Hinter dem Alten erschien sogleich der zweite und bekam den fliegenden Teppich, und zuletzt lief der dritte herbei und erhielt die selbstlaufenden Stiefel.

Dann rief Johannes seine Gefährten und sprach: «Jetzt, Brüder, sattelt eure Pferde, es ist Zeit, daß wir uns auf den Weg machen!» Sie fingen die Pferde ein, sattelten sie und ritten in ihr Vaterland. Als sie in ihrem Vaterlande angekommen waren, erschienen sie sogleich vor der Königstochter. Die Königstochter freute sich über alle Maßen und fragte nach ihrem Bruder, nach seiner Hochzeit und wann er zurückkehre. «Womit kann ich eure großen Dienste belohnen?» fragte sie.

«Setze mich wieder in den Turm!» antwortete Johannes, der Kaufmannssohn. Und was die Königstochter auch dagegen sagte, er bestand auf seinem Willen. Die Soldaten nahmen ihn und führten ihn in das Gefängnis zurück.

Nach dreißig Tagen erschien der Königssohn mit seiner jungen Gemahlin und wurde feierlich empfangen: die Glocken läuteten, die Böller schossen, und die Musik spielte. So viele Leute waren beisammen, daß man auf ihren Köpfen hätte gehen können. Die Bojaren und alle anderen Stände kamen, um sich vorzustellen. Der Königssohn aber schaute sich um und fragte: «Wo ist Johannes, mein treuer Diener?»

«Er sitzt im Gefängnis.»

«Wer wagte es, ihn hineinzusetzen?»

«Du selbst, Bruder, hast es getan», sagte die Königstochter. «Du warst zornig auf ihn und ließest ihn in den Turm bringen. Erinnere dich, du hattest ihn nach einem Traume gefragt, und er wollte ihn dir nicht erzählen.»

«Ist mein Diener wirklich Johannes, der Kaufmannssohn?»

«Ja, er ist es», sagte die Königstochter. «Ich gab ihn für kurze Zeit frei.»

Der Königssohn ließ Johannes, den Kaufmannssohn, holen, fiel ihm um den Hals und bat ihn, sich nicht mehr an das vergangene Böse zu erinnern.

«Du mußt wissen, o Königssohn», sagte Johannes, «daß ich alles vorausgewußt habe, was sich mit dir zugetragen hat, denn alles dieses habe ich im Traume gesehen. Darum habe ich es dir nicht erzählt.»

Der Königssohn erhob Johannes, den Kaufmannssohn, zum General, nahm ihn in sein Schloß und teilte ihm große Güter zu.

Johannes ließ seinen Vater und Demetrius, seinen älteren Bruder, zu sich kommen, und alle miteinander lebten in Frieden und Eintracht und vermehrten ihr Hab und Gut.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt