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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


MARIA, DIE TOCHTER DES MEERES

In einem Reich, in einem Weltreich, lebte einmal der Königssohn Johannes. Er hatte drei Schwestern: die erste hieß Königstochter Maria, die zweite Königstochter Olga und die dritte Königstochter Anna. Die Eltern waren gestorben. Sterbend hatten sie ihrem Sohne Johannes anbefohlen: Den Freiem, die sich zuerst um deine Schwestern bewerben, sollst du sie geben, behalte sie nicht zu lange bei dir! Der Königssohn begrub seine Eltern. Und vor Kummer erging er sich mit den Schwestern in den grünen Gärten.

Da zog plötzlich am Himmel eine schwarze Wolke herauf, und es kam ein fürchterliches Gewitter. «Laßt uns nach Hause gehn, ihr Schwesterlein!» sagte Königssohn Johannes.

Als sie in das Schloß gekommen waren, rollte der Donner, die Zimmerdede



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öffnete sich, und herein zu ihnen flog ein heller Falke. Der Falke schlug auf den Boden, verwandelte sich in einen schönen Jüngling und sprach: «Sei gegrüßt, Königssohn Johannes! Früher bin ich als Gast bei dir gewesen, aber heute komme ich als Freiersmann. Ich werbe bei dir um die Hand deiner Schwester, der Königstochter Maria.»

«Wenn dich meine Schwester mag, so halte ich sie nicht; möge sie in Gottes Namen ziehen!»

Die Königstochter Maria willigte ein, der Falke nahm sie zur Frau und führte sie in sein Reich.

Stunden folgten auf Stunden, Tage auf Tage, ein ganzes Jahr verflog, als ob nichts geschehen wäre. Wieder einmal ging Königssohn Johannes mit seinen beiden Schwestern in den grünen Gärten spazieren. Abermals zog eine Wolke herauf, der Wirbelwind toste, und die Blitze zuckten. «Laßt uns nach Hause gehen, ihr Schwesterlein!» sagte Königssohn Johannes.

Kaum waren sie in das Schloß gekommen, da rollte der Donner, das Dach zerfiel, die Zimmerdecke teilte sich in zwei Teile, und ein Adler stieß herab. Der Adler schlug auf den Boden und verwandelte sich in einen schönen Jüngling.

«Sei gegrüßt, Königssohn Johannes! Früher bin ich als Gast bei dir gewesen, heute komme ich als Freiersmann.» Und er warb um die Königstochter Olga.

«Wenn die Königstochter Olga dich liebt, so mag sie dir folgen; ich werde ihr ihre Freiheit nicht nehmen.»

Die Königstochter Olga willigte ein, der Adler erhob sich mit ihr und nahm sie mit sich in sein Reich.

Wieder verging ein Jahr. «Lass' uns ein wenig im grünen Garten spazierengehen», sprach Königssohn Johannes zu seiner jüngsten Schwester. Als sie so gingen, erhob sich abermals eine Wolke unter Sturmwind und Blitz. «Lass' uns heimkehren, Schwesterlein!»

Eben traten sie ins Gemach, da rollte der Donner, die Zimmerdecke tat sich auseinander, und ein Rabe flog herab. Er schlug auf den Boden und verwandelte sich in einen schönen Jüngling. Wohl waren die anderen Freier schön, aber dieser war der herrlichste von allen.

«Königssohn Johannes, früher kam ich als Gast zu dir, aber heute erscheine ich als Freiersmann. Gib mir die Königstochter Anna zur Frau!»

«Ich werde der Schwester die Freiheit nicht nehmen; wenn sie dich liebt, mag sie mit dir gehen.»

Die Königstochter folgte dem Raben, und er führte sie in sein Reich.

Königssohn Johannes blieb allein zurück. Ein ganzes Jahr lebte er ohne die Schwestern, und er fing an, sich nach ihnen zu sehnen. «Ich werde mich aufmachen und die Schwestern aufsuchen», sagte er.



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Er machte sich auf den Weg - ging und ging. Und plötzlich sieht er - da liegt ein ganzes Heer erschlagen auf dem Felde. «Wer erschlug dies ganze große Heer? Lebt noch ein Mensch, so rufe er!»

Da antwortete einer: «Maria, die Tochter des Meeres, die Königstochter, hat dieses ganze große Heer erschlagen!»

Königssohn Johannes zog weiter, bis er zu weißen Zelten kam. Da trat heraus Maria, die Tochter des Meeres, die herrliche Königstochter. «Sei gegrüßt, Königssohn, wohin führt dich Gott? Gehst du freiwillig oder unfreiwillig?»

Königssohn Johannes antwortete: «Rechtschaffene Burschen fahren nicht unfreiwillig daher!»

«Nun, wenn dein Vorhaben keine Eile hat, so bleibe als Gast in meinen Zelten!»

Königssohn Johannes war gern dazu bereit und blieb zwei Nächte in den Zelten der Königstochter. Und er gewann sie lieb und nahm sie zum Weibe. Maria, die Tochter des Meeres, die wunderschöne Königstochter, nahm ihn mit sich in ihr Reich.

Wie lange sie dort lebten, weiß niemand zu sagen. Da gedachte die Königstochter in den Krieg zu ziehen. Sie übergab Königssohn Johannes das ganze Hauswesen und trug ihm auf: «Überall magst du hingehen, über alles die Aufsicht führen, aber in die kleine Kammer sollst du nicht hineinschauen!»

Aber Königssohn Johannes hielt es nicht aus. Als Maria, die Tochter des Meeres, abgefahren war, eilte er sogleich zu der Kammer, öffnete die Tür und schaute hinein. Da hing der unsterbliche Knochenmann angeschmiedet an zwölf eiserne Ketten. «Erbarme dich und gib mir zu trinken!» rief der Knochenmann. «Schon zehn Jahre schmachte ich hier, aß nicht und trank nicht, ganz trocken ist meine Kehle.»

Der Königssohn gab ihm einen ganzen Eimer voll Wasser, und der Knochenmann trank ihn aus. «Mit einem Eimer ist mein Durst noch nicht gelöscht, gib mir mehr!»

Der Königssohn gab ihm einen zweiten Eimer. Auch diesen trank 'r aus und verlangte einen dritten. Als er aber den dritten ausgetrunken hatte, kehrte seine alte Kraft zurück. Er rüttelte an den zwölf Ketten, und plötzlich zerrissen sie. «Ich danke dir, Königssohn Johannes», sprach der unsterbliche Knochenmann, «jetzt sollst du Maria, die Tochter des Meeres, nie mehr mit Augen sehen, so wenig wie deine eigenen Ohren!» In einem schrecklichen Sturmwind wirbelte er zum Fenster hinaus, holte Maria, die Tochter des Meeres, die Königstochter, ein, ergriff sie und führte sie mit sich davon.

Königssohn Johannes weinte heiße, heiße Tränen. Dann rüstete er sich und zog in die Welt: «Was auch kommen mag, ich werde Maria, die Tochter des Meeres, finden!»



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Er wanderte einen Tag, zwei Tage, bei Anbruch des dritten Tages erblickte er ein wunderbares Schloß. Vor dem Schlosse stand eine Eiche, und auf der Eiche saß ein lichter Falke. Der Falke flog herab, schlug auf den Boden, verwandelte sich in einen stattlichen Jüngling und rief: «Wie hat dich der Herrgott gnädig geführt!» Auch die Königstochter Maria empfing ihn voll Freude, fragte nach seiner Gesundheit und erzählte von ihrem eigenen Leben und Treiben.

Der Königssohn blieb drei Tage bei ihnen zu Gaste. Dann sprach er: «Ich kann nicht länger bei euch bleiben, ich gehe, mein Weib suchen, Maria, die Tochter des Meeres, die herrliche Königin.»

«Schwer wird es sein, sie aufzufinden», versetzte der Falke. «Aber auf jeden Fall lass' uns dein silbernes Löffelchen hier, wir werden nach ihm schauen und dabei an dich denken!»

Königssohn Johannes ließ ihnen sein silbernes Löffelchen und machte sich auf den Weg. Er ging einen Tag, einen zweiten - bei Anbruch des dritten Tages erblickte er ein Schloß, schöner als das erste. Neben dem Schloß stand ein Eichbaum, oben auf dem Eichbaum saß ein Adler. Der Adler flog vom Baume herab, schlug auf die Erde, verwandelte sich in einen stattlichen Jüngling und rief: «Steh auf, Königstochter Olga, unser lieber Bruder ist da!» Königstochter Olga lief ihm sogleich entgegen, umarmte und küßte ihn, fragte ihn nach seiner Gesundheit und erzählte von ihrem eigenen Leben und Treiben.

Drei Tage blieb Königssohn Johannes bei ihnen zu Caste. «Länger darf ich nicht verweilen», sagte er, «ich gehe mein Weib suchen, Maria, die Tochter des Meeres, die herrliche Königin.»

«Schwer wird es sein, sie aufzufinden», antwortete der Adler. «Aber lass' uns doch dein silbernes Gäbelchen da, wir werden es betrachten und dabei an dich denken!»

Königssohn Johannes gab ihnen das silberne Gäbelchen und zog seines Weges. Er ging einen Tag, einen zweiten - bei Anbruch des dritten Tages erblickte er ein Schloß, schöner als die beiden andern. Neben dem Schlosse stand ein Eichbaum, und auf dem Eichbaum saß ein Rabe. Der Rabe flog herab, schlug auf die Erde, verwandelte sich in einen stattlichen Jüngling und rief: «Königstochter Anna, komm heraus, unser Bruder ist da!» Königstochter Anna eilte heraus, empfing ihn voller Freude, umarmte und küßte ihn, fragte nach seiner Gesundheit und erzählte von ihrem eigenen Leben und Treiben.

Der Königssohn blieb drei Tage bei ihnen zu Gast. Danach sprach er zu ihnen: «Lebt wohl, ich will gehen, mein Weib zu suchen, Maria, die Tochter des Meeres, die herrliche Königin.»

«Schwer ist es für dich, sie aufzufinden», erwiderte der Rabe. «Doch lass'



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uns dein silbernes Döschen hier, wir werden es betrachten und dabei an dich denken!»

Der Königssohn gab ihnen sein silbernes Döschen, nahm Abschied und zog weiter. Er wanderte einen Tag, einen zweiten - am dritten gelangte er zu Maria, der Tochter des Meeres. Als sie ihren Geliebten erblickte, warf sie sich an seinen Hals, vergoß bittere Tränen und sprach: «Warum hast du nicht auf mich gehört? Du schautest in die Kammer und ließest den unsterblichen Knochenmann heraus.»

«Verzeihe mir, Maria, Tochter des Meeres, denke nicht an das Vergangene! Lass' uns heimkehren, solange der unsterbliche Knochenmann nicht zu sehen ist. Vielleicht entkommen wir ihm!»

Sie machten sich bereit und eilten davon. Aber der Knochenmann war auf der Jagd gewesen und kehrte gegen Abend zurück. Da strauchelte sein gutes Roß.

«Was stolperst du, hungrige Schindmähre, oder witterst du irgendein Unheil?»

Antwortete das Roß: «Königssohn Johannes ist gekommen und hat Maria, die Tochter des Meeres, entführt.»

«Kann man sie einholen?»

«Man kann Weizen säen und warten, bis er wächst. Man kann ihn ernten, dreschen und zu Mehl mahlen, schließlich fünf Öfen voll Brot backen, das Brot essen und dann aufbrechen, um sie einzuholen - und selbst dann werden wir es schaffen.»

Der Knochenmann sprengte los und holte die beiden ein: «Königssohn Johannes, einmal will ich dir verzeihen um deiner Güte willen, hast du mir doch Wasser zu trinken gegeben. Auch ein zweites Mal würde ich dir verzeihen. Aber beim dritten Mal sei auf der Hut, da haue ich dich in Stücke!» Und er nahm Maria, die Tochter des Meeres, und entführte sie.

Königssohn Johannes setzte sich auf einen Stein und weinte. Er weinte und weinte. Dann kehrte er wieder zu Maria, der Tochter des Meeres, zurück. Der unsterbliche Knochenmann war gerade nicht zu Hause. «Lass' uns aufbrechen, Maria, Tochter des Meeres!»

«Ach, Königssohn Johannes, er holt uns ein!»

«Wenn auch, Maria, Tochter des Meeres, lass' ihn uns einholen. Ein oder zwei Stündlein können wir doch wenigstens zusammen verbringen.» Sie brachen auf und ritten davon.

Der unsterbliche Knochenmann kehrte nach Hause zurück. Unter ihm strauchelte sein gutes Roß. «Hungrige Schindmähre, was stolperst du, oder witterst du irgendein Unheil?»

«Königssohn Johannes ist gekommen und hat Maria, die Tochter des Meeres, entführt.»



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«Und kann man sie einholen?»

«Man kann Gerste säen und warten, bis sie wächst. Man kann sie ernten, dreschen und Bier daraus brauen, schließlich bis zur Trunkenheit davon trinken, den Rausch noch ausschlafen - dann aufbrechen, um sie einzuholen, und selbst dann werden wir es schaffen.»

Der Knochenmann sprengte davon und holte Königssohn Johannes ein: «Ich sagte dir doch, daß du Maria, die Tochter des Meeres, so wenig sehen sollst, wie deine eigenen Ohren.» Und er nahm Maria, die Tochter des Meeres, ihm fort und entführte sie.

Königssohn Johannes blieb allein zurück, weinte und weinte. Dann eilte er abermals zu Maria, der Tochter des Meeres. Um diese Zeit war der Knochenmann nicht zu Hause. «Lass' uns fortziehen, Maria, Tochter des Meeres!»

«Ach, Königssohn Johannes, er holt uns ja doch ein und haut dich in Stücke.»

«Lass' ihn hauen, ich kann ohne dich nicht leben!» Sie machten sich fertig und eilten davon.

Der unsterbliche Knochenmann kam nach Hause zurück. Unter ihm strauchelte sein gutes Roß. «Was stolperst du, hungrige Schindmähre, oder witterst du irgendein Unheil?»

«Königssohn Johannes ist gekommen und hat Maria, die Tochter des Meeres, entführt.»

Der Knochenmann sprengte davon, holte Königssohn Johannes ein, hieb ihn in kleine Stücke und warf die Stücke in ein Faß. Er verpichte das Faß, band es mit eisernen Reifen und warf es ins blaue Meer. Maria, die Tochter des Meeres, aber nahm er mit sich.

Zur selben Zeit aber wurde das Silber bei den Schwägern des Königssohns schwarz. «Ach», sagten sie, «ein Unglück hat sich ereignet!» Schnell schwang sich der Adler ins blaue Meer, packte das Faß und schleppte es ans Ufer. Der Falke flog aus nach dem Wasser des Lebens, der Rabe aber nach dem Wasser des Todes. Dann flogen sie alle drei hin zu dem Faß, zerschlugen es und nahmen die Stücke des Königssohns heraus. Sie wuschen sie und legten sie zusammen, so wie es notwendig war. Der Rabe besprengte sie mit dem Wasser des Todes, da wuchsen sie zusammen und wurden wieder eins. Der Falke besprengte ihn mit dem Wasser des Lebens, und Königssohn Johannes regte sich, stand auf und sprach: «Ach, wie lange habe ich doch geschlafen!»

«Du hättest noch länger geschlafen, wenn wir nicht gewesen wären», antworteten die Schwäger. «Nun, komm mit uns und sei unser Gast!»

«Nein, ihr Brüderchen, ich werde gehen, Maria, die Tochter des Meeres, zu suchen.»



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Der Königssohn kam zu Maria, der Tochter des Meeres, und bat: «Frage den unsterblichen Knochenmann, wo er sein gutes Roß bekam!»

Da wartete Maria, die Tochter des Meeres, einen günstigen Augenblick ab und begann, den Knochenmann auszufragen. Der Knochenmann erzählte: «Hinter den dreimal neun Ländern, im dreimal zehnten Königreich, über dem Feuerfluß, wohnt die Baba Jaga. Sie hat eine kleine Stute, auf der fliegt sie jeden Tag rund um die Welt. Sie hat auch noch viele andere gute und schöne Stuten. Ich habe drei Tage als Hirte bei ihr gedient, und keine einzige Stute ist mir entlaufen. Dafür gab mir die Baba Jaga ein Hengstchen.»

«Wie bist du denn über den Feuerfluß gekommen?»

«Nun, ich habe ein Tüchlein, wenn ich das dreimal nach der rechten Seite schwenke, so entsteht eine hohe, hohe Brücke, und die Lohe reicht nicht heran.»

Als Maria, die Tochter des Meeres, den Knochenmann ausgefragt hatte, nahm sie das Tüchlein an sich, gab es dem Königssohn Johannes und erzählte ihm alles.

Königssohn Johannes setzte über den Feuerfluß und machte sich auf den Weg zur Baba Jaga. Lange war er gelaufen, ohne zu essen und zu trinken. Da erblickte er einen fremden Vogel von jenseits des Meeres mit seinen jungen Vöglein. «Ich möchte doch gern so ein kleines Dingelchen verzehren», sprach Königssohn Johannes.

«Iß mein Junges nicht, Königssohn Johannes», bat der fremde Vogel, «die Zeit wird kommen, da werde ich dir nützlich sein!»

Königssohn Johannes ging weiter und fand im Walde einen Bienenstock. «Ich werde mir doch ein bißchen Honig daraus nehmen», sagte er.

Rief die Bienenmutter: «Rühre mir nicht an meinen Honig, Königssohn Johannes, die Zeit wird kommen, da werde ich dir nützlich sein!»

Er rührte nicht daran und ging weiter. Da begegnete ihm eine Löwin mit ihrem Jungen. «Ich will doch wenigstens diesen kleinen Löwen verzehren, ich habe so großen Hunger, daß mir schon ganz schwach ist.»

«Rühre mein Junges nicht an, Königssohn Johannes», bat die Löwin, «die Zeit wird kommen, da werde ich dir nützlich sein!»

«Gut, es gehe nach deinem Willen.» Königssohn Johannes schleppte sich hungrig weiter, ging und ging. Da stand das Haus der Baba Jaga, und rings um das Haus standen zwölf Stangen. Auf elf Stangen steckten Menschenköpfe, nur eine war noch leer. «Sei gegrüßt, Großmütterchen!»

«Sei gegrüßt, Königssohn Johannes! Warum kommst du hierher? Kommst du aus freiem Willen oder aus Not»?

«Ich kam, um bei dir ein Heldenroß zu erwerben.»



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«Meinetwegen, Königssohn, du brauchst kein Jahr zu dienen, sondern nur drei Tage; wenn du meine Stuten drei Tage lang hüten kannst, so werde ich dir das Heldenroß geben. Kannst du es nicht, dann zürne nicht, wenn ich deinen Kopf auf die frei gelassene Stange stecke!»

Königssohn Johannes war einverstanden. Die Baba Jaga gab ihm zu essen und zu trinken und gebot ihm, sich ans Werk zu machen.

Kaum hatte er die Stuten hinaus auf die grünen Wiesen getrieben, hoben sie die Schweife und stoben auseinander - im Augenblick waren sie verschwunden. Er weinte vor Gram, setzte sich auf einen Stein und schlief ein.

Schon ging die liebe Sonne unter, da kam der fremde Vogel geflogen und fing an, ihn zu wecken: «Steh auf, Königssohn Johannes, die Stuten sind alle daheim!»

Der Königssohn stand auf und eilte zurück. Da lärmte die Baba Jaga und schrie mit ihren Stuten: «Warum seid ihr schon nach Haus zurückgekehrt?» «Ja, sollten wir denn noch nicht nach Hause kommen? Es flogen Vögel aus der ganzen Welt herbei, die hätten uns fast die Augen ausgepickt.» «Nun, ihr werdet morgen nicht auf die Wiesen laufen, sondern in die dichten, dunklen Wälder!»

Königssohn Johannes schlief die ganze Nacht. Am Morgen sagte die Baba Jaga: «Sieh her, Königssohn, hüte heute noch einmal die Stuten, und wenn auch nur eine verlorengeht, soll dein ungestümes Köpfchen auf die Stange!»

Königssohn Johannes trieb die Stuten hinaus ins Freie, sofort hoben sie die Schweife und zerstreuten sich im tiefen Wald. Wiederum setzte sich der Königssohn auf einen Stein, weinte und weinte und schlief ein.

Die Sonne versank schon hinter dem Wald, da sprang die Löwin herbei: «Steh auf, Königssohn Johannes, die Stuten sind alle beisammen!»

Der Königssohn stand auf und ging nach Haus. Die Baba Jaga lärmte und schrie noch mehr mit ihren Stuten: «Warum kehrt ihr heim?»

«Ja, sollten wir denn nicht heimkehren? Es kamen grausame Tiere aus der ganzen Welt gelaufen, fast hätten sie uns alle zerrissen.»

«Nun, morgen werdet ihr in das blaue Meer laufen!» Wieder schlief Königssohn Johannes die ganze Nacht. Am Morgen schickte ihn die Baba Jaga mit den Stuten auf die Weide. «Wenn du sie nicht zu hüten vermagst, so soll dein ungestümes Köpfchen auf die Stange!»

Königssohn Johannes trieb die Stuten auf die Weide. Sie hoben sogleich die Schweife, verschwanden ihm aus den Augen und liefen ins blaue Meer. Bis an den Hals standen sie im Wasser.

Königssohn Johannes setzte sich auf einen Stein, weinte und schlief ein. Schon sank die Sonne hinter den Wald, da kam ein Bienchen geflogen und sprach: «Steh auf, Königssohn Johannes, die Stuten sind alle beisammen. Doch wenn du nach Hause kommst, geh der Baba Jaga aus den Augen, lauf



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in den Pferdestall und verstecke dich hinter der Krippe. Dort ist ein räudiges Fohlen, das wälzt sich im Mist. Dieses nimm und mach dich um Mitternacht aus dem Hause!»

Königssohn Johannes stand auf, ging in den Pferdestall und legte sich hinter die Krippe.

«Warum kehrt ihr denn heim?» lärmte und schrie die Baba Jaga mit ihren Stuten.

«Ja, sollten wir denn nicht heimkehren? In großen Schwärmen flogen Bienen aus der ganzen Welt herbei und stachen uns von allen Seiten bis aufs Blut.»

Die Baba Jaga ging schlafen. Um Mitternacht nahm Königssohn Johannes heimlich das räudige Fohlen, sattelte es, setzte sich darauf und sprengte zum Feuerfluß. Als er an den Fluß kam, schwenkte er sein Tüchlein nach der rechten Seite. Und plötzlich, o Wunder, spannte sich über den Fluß eine schmale, schmale Brücke. Der Königssohn ritt über die Brücke. Dann schwenkte er das Tüchlein zweimal nach der linken Seite, da blieb die Brücke über dem Feuerfluß hängen -ganz dünn und schmal.

Gegen Morgen erwachte die Baba Jaga. Das räudige Fohlen war spurlos verschwunden. Schleunigst machte sie sich an die Verfolgung. In einem Nu sprang sie auf einen eisernen Mörser. Mit dem Stößel trieb sie ihn an, und mit dem Besen verwischte sie ihre Spur. Sie sprengte zum Feuerfluß, schaute hinauf und dachte bei sich: eine schöne Brücke! Sie sprengte auf die Brücke, aber als sie in der Mitte war, brach die Brücke zusammen, und die Baba Jaga fiel in den Feuerfluß und fand einen grausamen Tod.

Königssohn Johannes ließ das Fohlen auf grünen Wiesen weiden, da wurde aus ihm ein herrliches Roß.

Auf diesem Rosse ritt der Königssohn zu Maria, der Tochter des Meeres. Sie kam heraus und warf sich an seinen Hals.

«Wie hat der Herrgott dich denn auferstehen lassen?»

«So und so - und nun lass' uns zu mir nach Hause gehen!»

«Ich fürchte mich, Königssohn Johannes! Wenn der Knochenmann uns einholt, wird er dich wieder in Stücke hauen.»

«Nein, er wird uns nicht einholen. Habe ich doch ein herrliches Heldenroß, das fliegt so schnell wie ein Vogel.»

Sie setzten sich miteinander auf das Roß und ritten davon.

Der unsterbliche Knochenmann kehrte heim. Unter ihm strauchelte sein gutes Roß. «Warum stolperst du, hungrige Schindmähre, oder witterst du irgendein Unheil?»

«Königssohn Johannes ist gekommen und hat Maria. die Tochter des Meeres, entführt!»

«Und kann man sie einholen?»



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«Gott weiß! Jetzt hat Königssohn Johannes ein Heldenroß, das besser ist als ich.»

«Nein, das ertrage ich nicht», rief der unsterbliche Knochenmann, «ich werde sie dennoch verfolgen.»

Ober kurz oder lang holte er Königssohn Johannes ein, sprang auf die Erde und wollte ihn mit seinem scharfen Säbel schlagen. Aber das Pferd des Königssohns schlug plötzlich mit aller Macht aus. Mit dem Huf traf es den unsterblichen Knochenmann und zerschmetterte ihm den Kopf. Und Königssohn Johannes machte ihm mit der Keule den Garaus. Dann schichtete er einen Haufen Holz aufeinander, legte Feuer daran und verbrannte den unsterblichen Knochenmann. Seine Asche aber ward in alle Winde zerstreut. Maria, die Tochter des Meeres, setzte sich auf das Pferd des Knochenmanns und Königssohn Johannes auf das seinige. Und sie ritten zuerst zu dem Raben, dann zu dem Adler und schließlich zu dem Falken und blieben dort zu Caste. Überall, wohin sie kamen, begegnete man ihnen mit großer Freude.

«Ach, Königssohn Johannes, wir glaubten dich nicht mehr am Leben. Aber deine Mühe hat sich gelohnt. Solche Schönheit, wie Maria, die Tochter des Meeres, gibt es kein zweites Mal auf der ganzen Welt.»

Königssohn Johannes und Maria, die Tochter des Meeres, blieben dort zu Caste, feierten Feste und zogen dann endlich in ihr Reich. In ihrem Reiche angekommen, lebten sie glücklich miteinander, tranken Honigmet und mehrten ihr Hab und Gut.


Copyright: arpa, 2015.

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