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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE BEINE BIS ZU DEN KNIEN IN GOLD, DIE ARME BIS ZU DEN ELLENBOGEN IN SILBER

In einem Reich, in einem Weltreich lebten einmal ein König und eine Königin, die hatten drei Töchter, drei leibliche Schwestern. Die älteste Tochter sprach zu ihren Schwestern: «Ihr Schwesterlein, wollen wir in der Dämmerung zum Großmütterchen im Hinterhof gehen? Wollen wir mit ihr reden und uns raten lassen?» Sie waren einig und gingen.

«Sei gegrüßt, Großmütterlein! Wir haben im Sinn, mit dir zu reden und uns raten zu lassen.»



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«Willkommen, meine Mädchen!»

Da sprach die älteste Königstochter: «Wenn mich Johannes, der Königssohn freien würde, ich würde ihm einen fliegenden Teppich sticken. Damit kann er fliegen, wohin er will.»

Johannes, der Königssohn, aber stand unter dem Fenster, hörte ihnen zu und dachte bei sich: Bah, was ist das schon für eine Tat! Den fliegenden Teppich kann ich mir selber beschaffen.

Die zweite Königstochter sagte: «Wenn mich Johannes, der Königssohn, freien würde, ich würde ihm meinen Kater mitbringen, der Märchen erzählen kann, und diese Märchen kann man drei Werst weit hören.»

Johannes, der Königssohn, dachte bei sich: Bah, was ist das schon, den Kater, der Märchen erzählt, kann ich mir selber beschaffen.

Die jüngste Königstochter aber sprach: «Wenn mich Johannes, der Königssohn, freien würde, würde ich ihm neun Söhne gebären, die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber, die Schläfen dicht voller Sternlein!»

Johannes, der Königssohn, hörte diese jungfräulichen Reden, fuhr heim zu Vater und Mutter und sprach: «Väterchen, Mütterchen, ich möchte mich vermählen. Ich nehme mir die jüngste Königstochter aus dem dreimal zehnten Reich.» Vater und Mutter segneten ihn, und er zog aus, um seine Braut zu holen.

Er kam in die weiten Länder, verbeugte sich vor dem König und bat: «Gib mir deine jüngste Tochter!»

Der König rüstete die Hochzeit und stellte die eichenen Tische auf. Den Königssohn und seine Braut setzte er an den besten Platz. Sie aßen und tranken und waren fröhlich, bis die Hochzeit zu Ende war.

Königssohn Johannes lebte ein Jahr oder zwei bei seinem Schwiegervater. Da bekam er ein Schreiben, daß Vater und Mutter gestorben seien, und die Zeit für ihn gekommen wäre, sein Reich zu übernehmen. Er fuhr mit Marta, seiner jungen Gemahlin, in sein Land und trat dort die Herrschaft an.

Ob viel Zeit verging oder wenig nur -die Königin ward schwanger. Königssohn Johannes aber ritt auf die Jagd, im freien Feld sich zu ergehen und Gänse und Schwäne zu jagen. Und er blieb lange Zeit fort. Ohne ihn brachte Marta drei Söhnlein zur Welt: die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein. Man konnte sich nicht daran satt sehen. Die Königin schickte sogleich einen Boten zur weisen Frau.

Auf dem Wege begegnete dem Boten die Baba Jaga und fragte: «Wo gehst du hin?»

Der Bote antwortete: «Gar nicht weit, nur in die Nähe.»



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«Sage wohin, wenn du es nicht sagst, verschlinge ich dich!»

«Ich gehe, die weise Frau zu holen. Die Königin Marta hat drei Söhnlein geboren, gerade so, wie sie es versprochen hat.»

«Nimm mich als Hebamme!» sagte die Baba Jaga.

«Nein, Baba Jaga, ich wage es nicht, dich zu nehmen. Königssohn Johannes würde mir den Kopf abschlagen lassen.»

«Gut, dann verschlinge ich dich!»

«Nun, was soll ich tun? Komm mit!»

Die Baba Jaga kam ins Schloß und fing ihr böses Werk an. Sie nahm der Königstochter Marta die Söhnlein fort und ließ ihr dafür drei häßliche Hunde. Dann lief sie in den Wald und versteckte die Kindlein neben einer alten Eiche unter der Erde.

Als Johannes, der Königssohn, nach Hause kam, meldete man ihm sofort, daß seine Frau ihm nur drei Hunde geboren hätte. Er wurde sehr zornig, befahl, die Hunde ins Meer zu werfen und wollte Marta den Kopf abschlagen. Dann aber besann er sich. «Nun», sagte er, «einen ersten Fehler kann man verzeihen. Warten wir bis zur zweiten Geburt!»

Ob viel Zeit verging oder wenig nur - seine Frau wurde zum zweiten Male schwanger. Johannes, der Königssohn, ging wieder auf die Jagd. Marta, die Wunderschöne, wollte ihn nicht ziehen lassen und weinte bitterlich. Aber er hörte nicht auf sie, bestieg sein Roß und ritt ins freie Feld.

Als die Zeit gekommen war, brachte Marta, die Wunderschöne, sechs Söhnlein zur Welt: die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen voll strahlender Sternlein. Man konnte sich nicht daran satt sehen. Sie schickte den Boten zur weisen Frau. «Rufe ja nicht die Baba Jaga!» befahl sie mit Tränen in den Augen. Der Bote ging, unterwegs aber begegnete ihm die Baba Jaga und fragte: «Wo gehst du hin?»

«So -nicht weit.»

«Sag wohin, wenn du es nicht sagst, werde ich dich verschlingen!»

«Ach, Baba Jaga, ich gehe zur Hebamme. Marta, die Wunderschöne, hat sechs Söhnlein geboren: die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein.»

«Nimm mich als Hebamme!»

«Nein, ich nehme dich nicht, ich fürchte mich vor dem Königssohn Johannes. Er wird mir den Kopf abschlagen.»

«Wenn du mich nicht nimmst», drohte die Baba Jaga, «werde ich dich auf der Stelle bis aufs letzte Knöchelchen verschlingen!»

«Nun, so wollen wir gehen.»

Die Baba Jaga kam zum Schloß und brachte sechs häßliche Hunde. Als Marta, die Wunderschöne, sie erblickte, nahm sie eins von ihren Söhnlein



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und versteckte es in ihrem Ärmel. Die Baba Jaga legte ihr die häßlichen Hunde ins Bett und nahm die fünf Kinderlein mit. Sie suchte nach dem sechsten, suchte und suchte, aber sie fand es nicht. Die anderen nahm sie mit sich in den dunklen Wald.

Als Johannes, der Königssohn, nach Hause kam, meldete man ihm sofort, daß seine Frau wieder Hunde zur Welt gebracht habe. Furchtbarer Zorn überfiel ihn. Er befahl, die Königstochter Marta in ein Faß zu stecken, um das Faß eiserne Reifen zu legen, es fest zu verschließen und zu verpichen und in das Meer zu werfen. Im selben Augenblick wurde alles ausgeführt. Man setzte die Königstochter mit ihrem Söhnlein in ein Faß, schlug es zu, verpichte es und ließ es ins weite Meer hinab.

Lange Zeit schwamm das Faß auf dem Meer. Endlich trieb es zu einem Ufer hin und saß fest auf dem Sande. Der Sohn der Königin Marta wuchs nicht täglich, sondern stündlich. Als er groß geworden war, sprach er: «Mütterchen, ich will mich strecken!»

«Strecke dich, mein Kindchen!»

Er streckte sich, und das Faß zerbrach. Mutter und Sohn traten heraus und kamen auf einen hohen, hohen Berg. Der Sohn der Marta schaute nach allen Seiten und sprach: «Mütterlein, wenn hier ein Haus stünde mit einem grünen Garten darum, dann wäre dies ein schönes Leben!» Die Mutter aber sagte: «Gott gebe es!»

Und zur selben Stunde ward dort ein großes Reich. Es erstanden weißsteinerne Paläste, von grünen, kühlen Gärten umrahmt, und zu diesen Palästen führte ein breiter, glatter, festgetretener Weg.

Und auf diesem Weg kamen die Bettler, die armseligen Leute gezogen und baten um ein frommes Almosen. Marta, die Wunderschöne, rief sie alle zusammen in die weißsteinernen Paläste, gab ihnen zu essen und zu trinken und begleitete sie bis zum Tor.

Die Bettler, die armseligen Leute, zogen zu Johannes, dem Königssohn, und erzählten ihm: «An einem Ort, wo früher nur hohe Berge waren, undurchdringliche Wälder und tiefe Bäche, ist jetzt ein gewaltiges Reich erstanden. Dort wohnt eine Witwe mit ihrem Sohn. Und dieser Sohn ist von so großer Schönheit - noch nie hat ein Mensch so etwas gesehen, noch nie davon gehört: die Füße bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein. Man kann sich nicht daran satt sehen. Und Mutter und Sohn haben uns Armen Speise und Trank gegeben, Brot für den Weg und ein Ehrengeleite.»

Johannes, der Königssohn, sprach: «Soll ich nicht hingehen und selber sehen, was für ein Reich dort ist?»

Aber die Baba Jaga, die bei dem Königssohn lebte, hörte diese Reden und sprach: «Was ist das schon für ein Wunder? Ich habe im Wald bei einer



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alten Eiche acht solcher Jünglinge sitzen, und alle haben die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein.»

Und Johannes, der Königssohn, blieb zu Hause und fuhr nicht in das neue Reich.

Und wiederum pilgerten die Bettler, die armseligen Leute dahin, um die frommen Almosen zu erbitten. Marta, die Wunderschöne, rief sie alle zusammen in die weißsteinernen Paläste, gab ihnen Speise und Trank und ein Lager für die Nacht. Am anderen Tag fragte sie alle: «Ihr Krüppel, ihr lautstimmigen, wo waret ihr, wo seid ihr gewesen, was habt ihr gehört?»

Und die Krüppel antworteten: «Als wir weggegangen waren von dir, wanderten wir geradeswegs zu dem Königssohn Johannes, und er hat sich zu uns gesetzt und uns gefragt: <Wo habt ihr etwas gesehen, wo habt ihr etwas gehört?' Wir haben ihm alles erzählt, daß wir dein neues Reich gesehen haben, daß du hier als Witwe lebst und einen Sohn hast, wie es keinen schöneren auf der ganzen weiten Welt mehr gibt. Königssohn Johannes wollte kommen und alles betrachten, aber die Baba Jaga ließ ihn nicht los. <Na', sagte sie, <was ist das schon für ein Wunder, ich habe bei mir im Walde bei der alten Eiche acht solcher prächtigen Jünglinge leben, und alle haben die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein.'»

Als die Bettler, die armseligen Leute, weggegangen waren, sagte Marta, die Wunderschöne, zu ihrem Sohn: «Das sind doch meine Kinder, deine Brüder, die da im Walde bei der alten Eiche sind!»

«Mütterlein», antwortete der Sohn, «gib mir ein wenig Brot mit, ich gehe hin, hole die Brüder und bringe sie heim.»

«Geh mit Gott, mein Kind», sagte die Mutter, nahm Milch aus ihrer eigenen Brust, buk acht Brote, gab sie ihm und segnete ihn für den Weg.

Ob viel Zeit verging oder wenig nur - der gute tapfere Jüngling schritt dahin. Schnell ist ein Märchen erzählt, nicht so schnell eine Tat getan.

Er kam zu der alten Eiche. Bei dieser Eiche lag ein ganz großer Stein. Der Jüngling wälzte den Stein zur Seite und erblickte seine Brüder, drunten in der Erde saßen sie um einen Tisch. Er ließ jedem von ihnen ein Brot hinab. Die Brüder aßen das Brot und fingen an zu weinen: «Die Brote sind mit der Milch unserer Mutter gebacken!» Da ließ der Jüngling feste Riemen hinab und zog sie alle herauf in die freie Welt. Sie begrüßten einander, küßten sich und gingen heim zur Mutter.

Marta, die Wunderschöne, lief heraus, aus ihrem Schloß, ihnen entgegen. Sie streichelte und küßte sie und drückte sie an ihr Herz. Und von nun an lebten sie alle zusammen.

Wieder kamen die Bettler, die armseligen Leute, gezogen, um die frommen



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Almosen zu erbitten. Marta, die Wunderschöne rief sie herein in den weißsteinernen Palast, gab ihnen Speise und Trank und ein Lager für die Nacht. Am anderen Tage gab sie ihnen Brot auf den Weg und das Ehrengeleite.

Die Bettler kamen zu Johannes, dem Königssohn, und er fing an, sie zu fragen: «Ihr Krüppel, ihr lautstimmigen, wo wart ihr, wo seid ihr gewesen, was habt ihr gesehen?»

«Wir waren - wir sind im neuen Reich gewesen und haben die Nacht darin zugebracht. Die junge Witwe gab uns zu essen und zu trinken und noch Brot für den Weg. Und sie hat neun Söhne, schönere gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr - alle haben die Beine bis zu den Knien in Gold, die Arme bis zu den Ellenbogen in Silber und die Schläfen dicht voller Sternlein.»

Königssohn Johannes gab sofort den Befehl, die Pferde vorzuführen. Die Baba Jaga hatte nichts mehr, womit sie sich brüsten konnte, sie saß und schwieg.

Königssohn Johannes fuhr in das neue Reich.

Ob viel Zeit verging oder wenig nur - auf einmal erblickte er eine große Stadt und hielt an vor den weißsteinernen Palästen. Marta, die Wunderschöne, und die neun Söhne kamen ihm entgegen. Sie fielen sich in die Arme, küßten sich, vergossen viele süße Tränen und gaben ein Fest für die ganze getaufte Welt.

Und ich bin auch auf diesem Feste gewesen und habe Bier und Wein getrunken. Es floß mir über den Bart, aber es kam nichts in meinen Mund.


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