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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES BLINDEN BABA ABDULLAH

O mein Herr und Kalif, ich, der niedrigste deiner Sklaven, wurde in Baghdad geboren, und mein Vater und meine Mutter, die bald nacheinander innerhalb weniger Tage starben, hinterließen mir ein Vermögen, so groß, daß es mir für mein ganzes Leben genügt hätte. Doch ich kannte seinen Wert nicht, und in kurzer Zeit hatte ich es in Wohlleben und leichtfertigem Wandel vergeudet; denn ich dachte nicht an Sparsamkeit, noch daran, mein Gut zu vermehren. Als aber nur noch wenig von meinem Vermögen übrig war, bereute ich meinen schlechten Wandel und mühte und plagte mich Tag und Nacht, um den Teil meines Geldes, der mir noch verblieben war, zu vergrößern. Es heißt mit Recht: ,Nach der Verschwendung kommt die Erkenntnis des Wertes.' So brachte ich denn ganz allmählich achtzig Kamele zusammen, die vermietete ich an Kaufleute, und auf diese Weise hatte ich jedesmal, wenn sich Gelegenheit dazu bot, einen beträchtlichen Gewinn; ferner pflegte ich selbst mich mit meinen Tieren zu verdingen, und so durchzog ich alle Länder und Gebiete deiner Hoheit. Kurz, ich hoffte, in Bälde eine überreiche Goldernte einzuheimsen durch das Vermieten meiner Lasttiere.

Einmal nun hatte ich Kaufmannsgüter nach Basra gebracht, die nach Indien verschifft werden sollten, und befand mich



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mit meinen unbeladenen Tieren auf dem Rückwege nach Baghdad. Wie ich so heimwärts zog, traf es sich, daß ich über eine Ebene kam, die ausgezeichnete Weidegründe hatte, aber brachlag und fern von jedem Dorfe war. Dort nahm ich den Kamelen die Packsättel ab, legte ihnen Fußfesseln an und band sie zusammen, damit sie die üppigen Kräuter und Büsche abweiden könnten, ohne sich in der Ferne zu verlaufen. Da erschien plötzlich ein Derwisch, der zu Fuß nach Basra zog; und er setzte sich an meiner Seite nieder, um Ruhe nach der Unruhe zu genießen. Ich fragte ihn, woher des Weges er käme und wohin er wandere. Auch er richtete die gleiche Frage an mich, und nachdem wir einander von uns selbst berichtet hatten, holten wir unsere Zehrung hervor und stillten unseren Hunger, indem wir beim Essen über mancherlei Dinge plauderten. Da sagte der Derwisch: ,Ich weiß eine Stelle ganz in der Nähe, die einen Schatz birgt; und dessen Reichtum ist so wunderbar groß, daß dort, wenn du auch deine achtzig Kamele mit den schwersten Lasten von Goldmünzen und kostbaren Edelsteinen aus dem Schatze beladen würdest, dennoch keine Lücke zu sehen wäre.' Als ich diese Worte vernahm, freute ich mich gar sehr; und weil ich aus seiner Miene und Haltung ersah, daß er mich nicht belog, sprang ich sofort auf und fiel ihm um den Hals, indem ich rief: ,O Heiliger Allahs, der du nicht an den Gütern dieser Welt hängst und der du aller irdischen Lust und Pracht entsagt hast, du hast gewißlich genaue Kunde von diesem Schatz; denn heiligen Männern wie dir bleibt nichts verborgen. Ich bitte dich, sage mir, wo er zu finden ist, damit ich meine achtzig Tiere mit Lasten von Goldstücken und Juwelen beladen kann; ich weiß wohl, daß dich nicht nach dem Reichtum dieser Welt gelüstet, aber nimm, ich bitte dich, eins von diesen meinen achtzig Kamelen zum



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Lohn und Dank für deine Güte!' Also sprach ich mit meiner Zunge, aber in meinem Herzen war ich doch tief bekümmert durch den Gedanken, daß ich eine einzige Kamelslast von Münzen und Edelsteinen verlieren sollte; freilich überlegte ich mir, daß die anderen neunundsiebenzig Kameislasten Reichtümer genug enthalten würden, um mein Herz zu befriedigen. Wie ich nun so im Geist hin und her schwankte, indem ich in einem Augenblick zugestand, im nächsten aber schon wieder Reue empfand, bemerkte der Derwisch meine Habsucht und Gierigkeit und Unersättlichkeit, und er antwortete mir deshalb: ,Nein, mein Bruder, ein einziges Kamel genügt mir nicht dafür, daß ich dir diesen ganzen Schatz zeigen soll. Nur unter der einen Bedingung will ich dir die Stelle zeigen, nämlich der, daß wir beide die Tiere dorthin führen und mit den Schätzen beladen, und daß du dann die eine Hälfte mir gibst und die andere Hälfte für dich behältst. Mit vierzig Kamelen kostbarer Erze und Steine kannst du dir mehr als tausend Kamele kaufen.' Da ich einsah, daß eine Weigerung unmöglich war, rief ich: ,So sei es! Ich nehme deinen Vorschlag an, und ich will tun, wie du es wünschest.' Denn ich hatte die Sache in meinem Herzen erwogen und wußte recht wohl, daß vierzig Kamelslasten Gold und Edelsteine für mich und viele Geschlechter meiner Nachkommen genug sein würden; und ich fürchtete zugleich, ich würde, wenn ich ihm widerspräche, es für immer und ewig zu bereuen haben, daß ich mir einen so großen Schatz aus der Hand schlüpfen ließ. Indem ich also in alles einwilligte, was er sagte, holte ich meine sämtlichen Tiere zusammen und machte mich auf den Weg mit dem frommen Manne. Nachdem wir eine kurze Strecke zurückgelegt hatten, kamen wir in eine Schlucht zwischen zwei schroffen Felswänden, die sich halbmondförmig emportürmten, und der Paß



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war äußerst schmal, so daß die Tiere gezwungen waren, in einzelner Reihe hintereinander hindurch zu gehen; doch weiterhin wurde der Pfad breiter, und wir konnten ihn ohne Mühe hinabsteigen bis zu dem offenen Tal unter uns. Nirgends war ein menschliches Wesen zu sehen oder zu hören in dieser Einöde, und wir waren daher ungestört und frohen Mutes und fürchteten nichts. Da sagte der Derwisch: ,Laß die Tiere hier und komm mit mir!' Ich tat, wie der Derwisch mir befahl. ließ alle Kamele niederknieen und folgte seinen Spuren. Nachdem wir uns nur eine kurze Strecke von dem Halteplatz entfernt hatten, zog er Feuerstein und Stahl heraus, schlug Feuer damit und zündete einige Reiser an, die er gesammelt hatte; und indem er eine Handvoll von stark duftendem Weihrauch in die Flammen warf, murmelte er Zauberworte. von denen ich gar nichts verstand. Alsbald stieg eine Rauchwolke auf und wirbelte hoch empor, so daß sie die Berge verhüllte; doch gleich darauf, als der Dunst verschwand, sahen wir einen mächtigen Felsen mit einem Pfade, der bis zu seiner senkrechten Wand emporführte. Und dort hatte diese Wand eine offene Tür. durch die mitten in dem Felsen ein herrlicher Palast sichtbar wurde; das war ein Werk der Geister, denn kein Mensch hätte etwas dergleichen zu schaffen vermocht. Nach schwerer Mühsal konnten wir ihn schließlich betreten, und wir fanden in ihm einen unendlich großen Schatz, der in einzelnen Haufen mit genauester Ordnung und Regelmäßigkeit aufgestapelt war. Als ich dort einen Berg von Goldstücken sah, fiel ich über ihn her, wie ein Geier auf seine Beute, das Aas, hinabstürzt, und ich begann nach Herzenslust die Säcke mit goldenen Münzen zu füllen. Die Säcke waren groß, und ich durfte sie nur so weit füllen, wie meine Tiere sie tragen konnten. Auch der Derwisch machte sich in derselben Weise zu



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schaffen: allein er füllte seine Säcke nur mit Edelsteinen und Juwelen und riet mir derweilen, das gleiche zu tun wie er. So warf ich denn die Goldstücke beiseite und füllte meine Säcke nur mit den kostbarsten Steinen. Als wir unsere Arbeit nach Kräften getan hatten, legten wir die wohlgefüllten Säcke auf die Rücken der Kamele und rüsteten zum Aufbruch; doch ehe wir das Schatzhaus verließen, in dem auch Tausende von goldenen Gefäßen von erlesener Gestalt und Arbeit aufgereiht standen, ging der Derwisch in eine verborgene Kammer und holte aus einem silbernen Schrein ein kleines goldenes Kästchen, das mit einer Salbe gefüllt war; er zeigte es mir und steckte es dann in seine Tasche. Dann warf er wieder Weihrauch ins Feuer und sprach seine Zauberformeln und Beschwörungen; und nun schloß die Tür sich, und der Fels wurde wieder, wie er zuvor gewesen war. Darauf teilten wir die Kamele, er nahm die eine Hälfte und ich die andere; und nachdem wir die enge und düstere Schlucht wiederum in Einzel reihe durchzogen hatten, kamen wir zurück in das offene Land. Dort teilten sich unsere Wege, da er gen Basra zog, ich aber die Richtung nach Baghdad einschlug; und als ich im Begriff stand, ihn zu verlassen. überschüttete ich den Derwisch mit Danksagungen dafür, daß er mir all diese Schätze und Reichtümer im Werte von tausendmal tausend Goldstücken verschafft hatte, und sagte ihm Lebewohl, von tiefster Dankbarkeit erfüllt. Dann umarmten wir uns, und ein jeder zog seiner Wege. Aber kaum hatte ich von dem frommen Manne Abschied genommen und hatte mich mit meinem Kamelzug eine kurze Strecke von ihm entfernt, als der Teufel mich durch Habgier in Versuchung brachte, so daß ich bei mir selber sprach: ,Der Derwisch ist allein in der Welt, ohne Freunde und Anverwandte, und ihm sind alle weltlichen Dinge fremd. Was sollen



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ihm diese Kameislasten schmutzigen Reichtums nützen? Außerdem, wenn die Sorge um die Kamele noch auf ihm lastet, von dem trügerischen Wesen des Reichtums gar nicht zu reden, so wird er vielleicht seine Gebete und seine Andacht vernachlässigen; deshalb ist es meine Pflicht, einige meiner Tiere ihm wieder abzunehmen.' Kurz entschlossen ließ ich meine Kamele halten, und nachdem ich ihnen die Vorderbeine gefesselt hatte, lief ich dem heiligen Manne nach und rief seinen Namen. Er hörte meine lauten Rufe und wartete sogleich auf mich, und sobald ich ihn erreicht hatte, sprach ich: ,Als ich dich verlassen hatte, kam mir ein Gedanke in den Sinn, nämlich der, daß du ein Einsiedler bist, der sich von allen irdischen Dingen fernhält und reinen Herzens ist und sich nur mit Gebet und Andacht beschäftigt. Nun wird die Sorge um all diese Kamele dir nichts bringen als Mühsal und Qual, Unruhe und Verlust von kostbarer Zeit; es wäre also besser. du gäbest sie zurück und setztest dich nicht der Gefahr dieser Unannehmlichkeiten und Fährlichkeiten aus.' ,Mein Sohn,' erwiderte der Derwisch, ,du sprichst die Wahrheit. Die Pflege all dieser Tiere wird mir nur Kopfschmerzen eintragen; drum nimm so viele von ihnen, wie du wünschest. Ich hatte nicht an die Bürde und Plage gedacht, bis du mich darauf aufmerksam machtest; jetzt aber bin ich davor gewarnt. Möge Allah der Erhabene dich mit Seinem heiligen Schutz behüten!' Demgemäß nahm ich ihm zehn Kamele ab und wollte eben wieder meiner Wege gehen, als mir plötzlich der Gedanke kam: ,Dieser Fromme hat sich nichts daraus gemacht, zehn Kamele herzugeben; drum wäre es besser, wenn ich noch mehr von ihm verlange.' Darauf trat ich näher an ihn heran und sagte: ,Du kannst schwerlich mit dreißig Kamelen fertig werden; gib mir, ich bitte dich, noch zehn andere!' ,Mein Sohn,' gab er zur



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Antwort, ,tu, was du willst! Nimm dir noch zehn Kamele; für mich werden zwanzig genug sein!' Ich tat nach seinem Geheiß, trieb die zwanzig fort und fügte sie zu meinen vierzig hinzu. Aber der Geist der Habgier nahm mich ganz in Besitz, und ich sann immer mehr darauf, noch weitere zehn Kamele von seinem Anteil zu erhalten; so lenkte ich denn zum dritten Male meine Schritte zu ihm zurück und bat ihn um zehn andere, und wirklich, ich schwatzte ihm diese ab, ja auch sogar die zehn, die noch übrig waren. Der Derwisch gab freudig die letzten seiner Kamele her und rüstete sich zum Aufbruch. nachdem er seine Säume geschüttelt hatte; aber meine verruchte Gier ließ mich immer noch nicht los. Wiewohl ich nun die achtzig Tiere, beladen mit Goldstücken und Juwelen, in meinem Besitz hatte und glücklich und zufrieden hätte heimkehren können mit Reichtümern für achtzig Geschlechter, so führte der Teufel mich noch mehr in Versuchung und reizte mich, auch noch das Kästchen mit Salbe zu gewinnen, von dem ich vermeinte, es enthielte etwas noch Kostbareres als Rubinen. Als ich nun wiederum Abschied genommen und ihn umarmt hatte, blieb ich eine Weile stehen und sprach: ,Was willst du mit dem Salbenkästchen tun, das du zu deinem Teil hinzugenommen hast? Ich bitte dich, gib mir auch das noch.' Der Fromme wollte sich ganz und gar nicht davon trennen, und deshalb gelüstete mich nur um so mehr danach, es zu besitzen; ja, ich beschloß in meinem Geiste, wenn der Heilige es freiwillig hergebe, so solle das schön und gut sein; wenn nicht, so wollte ich es ihm mit Gewalt abnehmen. Sobald er meine Absicht erkannte, zog er das Kästchen aus seiner Brusttasche und reichte es mir mit den Worten: ,Mein Sohn. wenn du wirklich dies Salbenkästchen haben willst, so gebe ich es dir aus freiem Willen; aber zuvor geziemt es sich, daß du die



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Kraft der Salbe erfährst, die es enthält.' Als ich diese Worte vernahm, sprach ich: ,Sintemal du mir all diese Güte erwiesen hast, so bitte ich dich herzlich, erzähle mir von dieser Salbe und sage mir, welche Eigenschaften sie besitzt!' Da sagte er: ,Die Wunderkräfte dieser Salbe sind über die Maßen merkwürdig und seltsam. Wenn du dein linkes Auge schließest und nur ein klein wenig von dieser Salbe aufs Lid reibst, so werden alle Schätze der Welt, die jetzt deinem Blick verborgen sind, sichtbar werden; wenn du aber ein wenig davon auf dein rechtes Auge reibst, so wirst du alsbald auf beiden Augen stockblind.' Da gedachte ich diese Wundersalbe auf die Probe zu stellen, und ich legte das Kästchen in seine Hand mit den Worten: ,Ich sehe, du verstehst dies Ding aus dem Grunde; darum bitte ich dich jetzt, tu mir mit eigener Hand etwas von der Salbe auf mein linkes Augenlid!' Darauf drückte der Derwisch mein linkes Auge zu und rieb mit seinem Finger ein wenig von der Salbe auf das Lid; als ich es aber wieder aufschlug und umherschaute, sah ich die verborgenen Schätze der Erde in zahllosen Mengen, genau so ,wie der fromme Mann es mir gesagt hatte. Dann schloß ich mein rechtes Auge und bat ihn, auch auf dies Auge ein wenig von der Salbe zu tun. Doch er sagte: ,Mein Sohn, ich habe dich davor gewarnt, daß du auf beiden Augen stockblind wirst, wenn ich die Salbe auf dein rechtes Augenlid reibe. Tue diesen törichten Gedanken weit von dir! Warum solltest du dies Unheil nutzlos über dich bringern' Er sprach wirklich die Wahrheit; aber mein verruchtes Mißgeschick wollte es, daß ich seiner Worte nicht achtete, sondern mir im Geist überlegte: ,Wenn das Bestreichen meines linken Augenlids mit der Salbe schon eine solche Wirkung hervorgerufen hat, so wird sicherlich der Erfolg noch viel wunderbarer sein, sobald sie auf das rechte Auge gegeben



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wird. Dieser Bursche hintergeht mich und verbirgt mir die Wahrheit des Ganzen.' Nachdem ich in meinem Sinne diesen Entschluß gefaßt hatte, lachte ich und sprach zu dem Heiligen: ,Du täuschest mich in der Absicht, daß ich von dem Geheimnis keinen Nutzen haben soll; denn das Bestreichen des rechten Augenlids mit der Salbe birgt eine noch größere Kraft in sich, als wenn man sie auf das linke Augenlid tut, und du willst mir die Sache verheimlichen. Es ist doch nicht möglich, daß dieselbe Salbe so gegensätzliche Eigenschaften, so verschiedenartige Kräfte hat.' Darauf erwiderte der andere: ,Allah der Erhabene ist mein Zeuge, daß die Wunderkräfte der Salbe keine anderen sind als diese, von denen ich dir gesagt habe! Mein lieber Freund, habe Vertrauen zu mir; denn ich habe dir nur gesagt, was die reine Wahrheit ist!' Dennoch wollte ich seinen Worten nicht glauben, da ich dachte, er täusche mich und halte die Hauptkraft der Salbe vor mir geheim. Von diesem törichten Gedanken erfüllt, drängte ich ihn also in stürmischer Weise und bat ihn, die Salbe auf mein rechtes Augenlid zu streichen; er weigerte sich aber immer noch und sprach: ,Du siehst doch, wieviel Gunst ich dir erwiesen habe; wie könnte ich dir nun ein so arges Unheil antun? Wisse, es ist sicher, daß es dir lebenslanges Leid und Elend bringen würde; und ich bitte dich flehentlich, bei Allah dem Erhabenen, gib diese deine Absicht auf und glaube meinen Worten!' Allein, je mehr er sich weigerte, desto hartnäckiger ward ich; und schließlich schwor ich einen Eid bei Allah, indem ich rief: ,O Derwisch, alles, was ich von dir erbeten habe, das hast du mir freiwillig gegeben; und jetzt habe ich nur noch diese eine Bitte an dich. Um Allahs willen, widersprich mir nicht, gewähre mir diese letzte deiner Wohltaten; und was mir auch widerfahren mag, ich will dich nicht dafür verantwortlich



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machen. Laß das Geschick entscheiden, zum Guten oder zum Schlimmen!' Als nun der Heilige sah, daß seine Weigerung nichts fruchtete und daß ich ihn mit äußerster Beharrlichkeit drängte, tat er ein ganz klein wenig von der Salbe auf mein rechtes Lid, und als ich meine Augen weit öffnete, da waren beide wirklich stockblind! Nichts konnte ich sehen wegen der schwarzen Dunkelheit, die vor ihnen lag, und seit jenem Tage bin ich ohne Augenlicht und hilflos, wie du mich antrafst. Als ich erkannte, daß ich geblendet war, rief ich: ,O du Unglücksderwisch, was du vorausgesagt hast, ist jetzt eingetroffen!' Und ich begann ihm zu fluchen, indem ich rief: ,Wollte der Himmel, du hättest mich nie zu dem Schatz geführt und mir nie solchen Reichtum gegeben! Was nützt mir nun all dies Gold und Edelgestein? Nimm deine vierzig Kamele zurück und mache mich wieder sehend!' Doch er gab zur Antwort: ,Was habe ich dir Böses getan? Ich habe dir mehr Wohltaten erwiesen, als je ein Mensch einem anderen hat zuteil werden lassen. Du wolltest nicht auf meinen Rat hören, sondern verhärtetest dein Herz und wolltest in deiner Gier alle diese Reichtümer gewinnen und auch noch die verborgenen Schätze der Erde erspähen. Du wolltest dich mit dem, was du hattest, nicht zufrieden geben, und du zweifeltest an meinen Worten, da du dachtest, ich hintergehe dich. Dein Geschick ist ganz hoffnungslos, denn du wirst dein Augenlicht nie und nimmer wiedergewinnen.' Darauf sagte ich unter Tränen und Klagen: ,O frommer Mann, nimm deine achtzig Kamele, beladen mit Gold und Edelgestein, wieder an dich und zieh deiner Wege! Ich spreche dich von aller Schuld frei; doch ich bitte dich flehentlich bei Allah dem Erhabenen, gib mir mein Augenlicht wieder, so du es vermagst!' Er gab mir keine Antwort mehr, sondern ließ mich mit meinem Elend allein und



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machte sich alsbald auf den Weg nach Basra, indem cr die achtzig mit Schätzen beladenen Kamele vor sich her trieb. Ich schrie laut und fichte ihn an, mich mit sich zu nehmen, fort aus der todbringenden Einöde, oder mich auf den Weg einer Karawane zu bringen; doch er achtete nicht auf meine Rufe und ließ mich dort zurück. Als nun der Derwisch von mir fortgezogen war, wäre ich fast gestorben vor Gram und Wut über den Verlust meines Augenlichtes und meiner Schätze und vor den Qualen des Durstes und des Hungers. Am nächsten Tage kam zum Glück eine Karawane aus Basra dort vorbei, und da die Kaufleute mich in solch traurigem Zustande sahen, hatten sie Mitleid mit mir und nahmen mich mit nach Baghdad. Ich konnte nichts anderes mehr tun, als mir mein Brot erbetteln, um mein Leben zu fristen; so wurde ich ein Bettler und tat dies Gelübde vor Allah dem Erhabenen, daß ich zur Strafe für meine unselige Gier und verruchte Habsucht von jedem, der Mitleid mit meiner Not hätte und mir ein Almosen geben würde, einen Backenstreich erbitten wollte. Daher kam es, daß ich dich gestern mit solcher Hartnäckigkeit bedrängte.'

Als der Blinde seine Geschichte beendet hatte, sprach der Kalif: ,Baba Abdullah, dein Vergehen war schwer; möge Allah dir darum gnädig sein! Jetzt bleibt dir nichts mehr übrig, als daß du dein Schicksal den Frommen und Einsiedlern erzählst, auf daß sie für dich ihre fruchtenden Fürbitten emporsenden. Mach dir keine Sorgen um dein täglich Brot; ich habe beschlossen, daß du für deinen Lebensunterhalt eine Spende von vier Dirhems täglich aus meinem königlichen Schatzhause erhalten sollst, wie du sie nötig hast, solange du lebst. Hüte dich aber, hinfort noch in meiner Stadt Almosen heischend umherzugehen!' Da sagte Baba Abdullah dem Beherrscher



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der Gläubigen Dank und sprach: ,Ich will nach deinem Geheiß tun.'

Nachdem nun der Kalif Harûn er-Raschîd die Geschichte von Baba Abdullah und dem Derwisch gehört hatte, wandte er sich mit seiner Rede an den jungen Mann, den er gesehen hatte, wie er in rasender Eile auf der Stute ritt und sie grausam peitschte und quälte. ,Wie heißt dus' fragte er; und der Jüngling antwortete, indem er die Stirn senkte: ,O Beherrscher der Gläubigen, mein Name ist Sich Nu'mân.' Dann fuhr der Kalif fort: ,Höre einmal, Sich Nu'mân! Oft habe ich Reitersleuten zugeschaut, wie sie ihre Rosse übten; und ich habe selbst manchmal desgleichen getan. Aber nie habe ich einen gesehen, der so unbarmherzig ritt wie du auf deiner Stute; denn du gebrauchtest zugleich die Peitsche und das Steigbügeleisen' in der grausamsten Weise. Alles Volk stand da und starrte voll Staunen, vor allem aber ich, der ich wider meinen Willen gezwungen war, stehen zu bleiben und die Zuschauer nach dem Grunde zu fragen. Freilich konnte niemand mir die Sache aufklären; alle Leute sagten, du pflegtest jeden Tag die Stute in dieser schauerlich rohen Weise zu reiten, so daß ich mich nur noch mehr wunderte. Jetzt frage ich dich nach dem Grunde dieser unbarmherzigen Grausamkeit; gib acht, daß du mir alles erzählst und nichts verheimlichst!' Als Sich Nu'mân den Befehl des Beherrschers der Gläubigen vernahm, wußte er, daß der Herrscher fest entschlossen war, alles zu hören, und daß er ihn sicher nicht eher gehen lassen würde, als bis alles erklärt wäre. Deshalb ward die Farbe seines Antlitzes bleich, und er stand sprachlos da, einer Bildsäule gleich, voll Furcht



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und Angst. Doch der Beherrscher der Gläubigen sprach: ,Sîdi Nu'mân, fürchte dich nicht, sondern erzähle mir deine ganze Geschichte. Schau mich an, als wäre ich einer deiner Freunde. und sprich ohne Rückhalt; erkläre mir alles ganz genau so, wie du es tun würdest, wenn du zu deinen vertrauten Freunden sprächest! Überdies, solltest du fürchten, mir irgend etwas anzuvertrauen, und vor meinem Zorn bangen, so gewähr ich dir Straflosigkeit und volle Vergebung.' Bei diesen tröstenden Worten des Kalifen faßte Sich Nu'mân sich Mut und antwortete, indem er die Arme kreuzte: ,Ich hoffe, daß ich in dieser Sache nichts getan habe, was dem Gesetz und dem Brauch deiner Hoheit zuwiderläuft, und dann will ich gern deinem Geheiß gehorchen und dir meine ganze Geschichte erzählen. Wenn ich mich in irgend etwas vergangen habe, so will ich deiner Strafe schuldig sein. Es ist wahr, ich habe jeden Tag die Stute geritten und sie in größter Eile um den Platz gejagt, wie du es mich tun sahst; und ich peitschte sie und bohrte ihr die Steigbügel mit aller Macht in die Flanken. Du hattest Mitleid mit der Stute und hieltest mich für hartherzig, weil ich sie so behandelte; aber wenn du mein ganzes Erlebnis gehört hast, dann wirst du, so Allah will, zugeben, daß dies nur eine ganz geringe Strafe für ihr Vergehen ist, und daß nicht ihr, sondern mir dein Mitleid und deine Gnade gebühren.' Darauf gab der Kalif Harûn er-Raschîd dem Jüngling die Erlaubnis, zu sprechen; und der Reiter der Stute begann in diesen Worten


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