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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DER BÄRENKÖNIG

Es lebten einmal ein König und eine Königin, und die hatten kein Kind. Einmal ging der König auf die Jagd, um Rotwild und Zugvögel zu schießen. Es wurde heiß, er dürstete, und es verlangte ihn nach Wasser. Da sah er abseits vom Wege einen Brunnen, trat hinzu und beugte sich hinab, um Wasser zu trinken. Kaum aber hatte er getrunken, da erschien der König der Bären und faßte ihn an seinem Bart.

«Lass' mich los», bat der König.

«Gib mir das, was du zu Hause hast und nicht kennst, dann lasse ich dich los!»



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Was kenne ich denn nicht in meinem Hause? dachte der König. Mir scheint doch, ich kenne alles. «Idi werde dir lieber eine Herde Kühe geben», sagte er zu dem Bärenkönig.

«Nein, audi zwei Herden mag ich nicht.»

«Ich werde dir eine Koppel Pferde geben.»

«Nein, auch zwei Koppeln brauche ich nicht; gib mir das in deinem Hause, wovon du nichts weißt!»

Schließlich willigte der König ein, machte seinen Bart frei und ritt nach Hause.

Er trat in das Schloß hinein, und siehe, seine Frau hatte ihm Zwillinge geboren, den Königssohn Johannes und die Königstochter Maria. Das war es, was er nicht gewußt hatte. Er schlug die Hände vor Verzweiflung zusammen und weinte bitterlich.

«Was bist du so verzweifelt?» fragte ihn die Königin.

«Wie sollte ich nicht weinen? Ich habe meine leiblichen Kinder dem Bärenkönig versprochen.»

«Wie ist das gekommen?»

«So und so», sagte der König.

«Wir werden sie ihm nicht geben», sprach die Königin.

«Oh, das ist nicht möglich, er wird unser Reich bis zum letzten zerstören und sie trotzdem nehmen.»

Sie sannen und sannen, was zu tun sei, und hatten schließlich einen Plan. Sie hoben eine tiefe Grube aus, schmückten sie wie ein Gemach, brachten allerlei Vorräte hinein, Essen und Trinken. Dann setzten sie ihre Kinder in diese Grube, machten eine Decke darüber, warfen Erde darauf und glätteten sie. Bald danach starben der König und die Königin. Die Kindlein aber wuchsen und wuchsen.

Eines Tabes kam der Bärenkönig, um die Kinder zu holen. Er schaute hierhin und dorthin, aber niemand war da, das Schloß war leer. Er ging durchs ganze Haus und dachte bei sich: «Wer wird mir sagen, wo ich die Königskinder finde, wohin sie gekommen sind?» Da sah er in der Wand ein Stemmeisen stecken.

«Stemmeisen, Stemmeisen», fragte der Bärenkönig, «sage mir, wo die königlichen Kinder sind!»

«Trage mich in den Hof und wirf mich zur Erde, wo ich stecken bleibe, dort grabe!»

Der Bärenkönig nahm das Stemmeisen und warf es zur Erde. Das Eisen kreiste, drehte sich und schlug ein an der Stelle, wo der Königssohn Johannes und die Königstochter Maria sich befanden. Der Bärenkönig grub mit seinen Tatzen die Erde auf, zerschlug die Decke und rief: «Da seid ihr, Königssohn Johannes und Königstochter Marial Ihr wolltet euch vor mir verstecken,



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euer Vater und eure Mutter haben mich betrogen, dafür werde ich euch fressen.»

«Ach, Bärenkönig, friß uns nicht, unser Vater hat viele Hühner und Gänse hinterlassen und alles mögliche andere Gute, es gibt noch genug für dich zu fressen.»

«Nun, es soll mir recht sein, setzt euch auf meinen Rücken, ich werde euch in meine Dienste nehmen.»

Die Königskinder setzten sich auf seinen Rücken, und der Bärenkönig brachte sie auf hohe, steile Berge, die bis in den Himmel ragten. Da war alles leer, niemand lebte dort.

«Wir wollen essen und trinken», sprachen der Königssohn Johannes und die Königstochter Maria.

«Ich werde laufen und euch Essen und Trinken verschaffen», antwortete der Bär. «Unterdessen bleibt hier und ruht euch aus!»

Der Bär lief nach Nahrung, und der Königssohn und die Königstochter standen da und weinten bitterlich. Plötzlich erschien ein heller Falke, schlug mit den Flügeln und sprach: «Königssohn Johannes und Königstochter Maria, was für ein Schicksal hat euch hierher verschlagen?»

Sie erzählten es ihm.

«Warum hat euch der Bär mit sich genommen?»

«Um allerlei Dienste.»

«Wollt ihr, so trage ich euch weg, setzt euch auf meine Flügel!»

Sie setzten sich darauf, der helle Falke erhob sich, höher als der ragende Baum, niedriger als die ziehende Wolke und flog in ferne weite Länder.

Um diese Zeit kam der Bärenkönig zurück, entdeckte den Falken unter dem Himmel, schlug, mit dem Kopf auf die feuchte Erde und sengte dem Falken mit Feuer die Flügel. Die Flügel waren versengt - der Falke ließ den Königssohn und die Königstochter auf die Erde hinab.

«So», sagte der Bärenkönig, «ihr wolltet vor mir fliehen, dafür werde ich euch bis aufs letzte Knöchelchen fressen.»

«Friß uns nicht, Bärenkönig, wir werden dir treu dienen!»

Der Bärenkönig verzieh ihnen und brachte sie in sein Reich. Da waren die Berge noch höher und noch steiler als zuvor. Als eine Weile vergangen war, sagte Königssohn Johannes: «Ich will essen!» «Ich auch», sprach die Königstochter Maria. Der Bärenkönig lief nach Nahrung und befahl ihnen streng, sich nicht vom Platze zu rühren. Und während er davonlief, saßen sie auf dem Gras und weinten.

Da erschien ein Adler, ließ sich aus den Wolken herab und fragte:

«Ach, Königssohn Johannes und Königstochter Maria, welches Schicksal hat euch hierher verschlagen?»

Sie erzählten es ihm.



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«Wollt ihr, so bringe ich euch fort.»

«Wie kannst du das? Der helle Falke wollte uns forttragen, aber er vermochte es nicht, und auch du wirst es nicht vermögen.»

«Der Falke ist ein kleiner Vogel, ich werde höher fliegen, setzt euch auf meine Schwingen!»

Der Königssohn und die Königstochter setzten sich, der Adler schlug mit den Flügeln und erhob sich in die Lüfte, höher als der Falke.

Der Bär kam zurück, sah den Adler unter dem Himmel, schlug mit dem Kopf auf die feuchte Erde und versengte ihm die Flügel. Der Adler setzte die königlichen Kinder auf die Erde hinab.

«Ach, ihr wolltet wieder flüchten», sprach der Bär, «nun aber werde ich euch fressen.»

«Sei so gut und friß uns nicht, der Adler hat uns verführt, wir werden dir treu und ehrlich dienen!»

Der Bärenkönig verzieh ihnen zum letzten Mal. Gab ihnen zu essen und zu trinken und brachte sie weiter.

Ober kurz oder lang wurde Königssohn Johannes wieder hungrig und sprach: «Ich möchte essen!» «Ich auch», sagte Königstochter Maria. Der Bärenkönig verließ sie, lief fort, um Nahrung zu holen.

Sie aber saßen auf dem Gras und weinten. Plötzlich erschien ein Stierlein. schüttelte den Kopf und fragte: «Königssohn Johannes und Königstochter Maria, welches Schicksal hat euch hierher verschlagen?»

Sie erzählten ihm alles.

«Wollt ihr, so bringe ich euch fort.»

«Ach, wie willst du das machen? Uns hat der Falke davongetragen und auch der Adler, und sie vermochten es nicht, dir wird es erst recht nicht gelingen.»

Und sie zerflossen in Tränen, konnten vor Weinen kein Wörtchen mehr sagen. «Die Vögel konnten euch nicht tragen, aber ich trage euch, setzt euch auf meinen Rücken!»

Sie setzten sich, das Stierlein fing an zu laufen und lief nicht gar so schnell. Der Bärenkönig sah, daß der Königssohn und die Königstochter sich entfernten, und stürzte los, um sie zu verfolgen.

«Ach, Stierlein, Stierlein, der Bär ist hinter uns her!»

«Ist er noch weit?»

«Nein, nahe!»

Der Bär kam gesprungen und wollte zupacken. Das Stierlein aber streckte sich, drückte... und warf ihm die beiden Augen zu. Der Bär lief an das blaue Meer, die Augen zu waschen. Das Stierlein aber trottete weiter und



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weiter. Als sich der Bärenkönig die Augen ausgewaschen hatte, machte er sich wieder an die Verfolgung.

«Ach, Stierlein, Stierlein, der Bär ist hinter uns her!»

«Ist er noch weit?»

«Ach, nahe!»

Der Bär sprang herzu. Wieder streckte sich das Stierlein, drückte.., und verklebte ihm die Augen. Während der Bär davonlief, um sich die Augen zu waschen, lief das Stierlein weiter und weiter. Und als er zum dritten Male zupacken wollte, verklebte es dem Bären abermals die Augen.

Dann gab das Stierlein dem Königssohn Johannes einen kleinen Kamm und ein Handtuch und sprach: «Wenn der Bärenkönig nahe ist, wirf zuerst den kleinen Kamm, und zum andernmal schwenke das Handtuch!»

Das Stierlein lief weiter und weiter. Königssohn Johannes schaute sich um: wieder ist der Bärenkönig hinter ihnen her, gleich wird er sie erreichen. Da nahm Johannes den kleinen Kamm und warf ihn hinter sich. Und es wuchs ein Wald, so dicht, so dunkel - kein Vogel konnte darin fliegen, kein Tier hindurchkriechen, kein Fußgänger gehen, kein Reiter reiten. Der Bär nagte und nagte, mit Mühe nagte er sich ein schmales Weglein, kam durch den Wald und stürzte ihnen nach. Aber die Königskinder waren schon weit.

Und wieder war der Bär ihnen nahe. Königssohn Johannes sah sich um und schwenkte hinter sich das Handtuch. Auf einmal entstand ein Feuersee, so groß, so breit, die Lohe wallte von einem Ufer zum andern. Da stand der Bärenkönig am Ufer, konnte nicht weiter, stand und stand, und kehrte schließlich nach Hause zurück.

Das Stierlein aber gelangte mit den königlichen Kindern auf ein kleines Stück Feld. Auf diesem Felde stand ein schönes, großes Haus.

«Da habt ihr ein Haus», sprach das Stierlein, «lebt da und trauert nicht! Zündet auf dem Hof ein Reisigfeuer an, erstecht mich und verbrennt mich in dem Feuer!»

«Ach», riefen die Königskinder, «warum sollen wir dich erstechen? Lebe lieber mit uns, wir werden dich hegen und pflegen, werden dich füttern mit frischem Grase und deinen Durst löschen mit frischem Quellwasser.»

«Nein, ihr Kinder, erstecht mich, verbrennt meinen Leib und streut die Asche auf drei Beete! Aus dem einen Beet wird ein Rößlein springen, aus dem andern ein Hündlein und aus dem dritten ein Apfelbaum wachsen. Du, Königssohn Johannes, reite das Roß und geh auf die Jagd mit dem Hündlein!» Und so geschah es.

Eines Tages wollte Königssohn Johannes auf die Jagd reiten. Er nahm Abschied vom Schwesterchen, setzte sich auf sein Roß und ritt in den Wald. Er schoß eine Gans, eine Ente, fing noch ein lebendes Wölfchen und brachte dies alles nach Hause.



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Der Königssohn sah, daß ihm das Jagen gelang, ritt abermals aus, schoß mancherlei Geflügel und fing einen kleinen Bären.

Zum dritten Male begab er sich auf die Jagd, aber diesmal vergaß er, das Hündlein mit sich zu nehmen.

Um diese Zeit ging die Königstochter Maria an den See, um Wäsche zu waschen. Ans andere Ufer des Sees aber kam der sechsköpfige Drache geflogen. Er verwandelte sich in einen wunderschönen Jüngling, sah die Königstochter und rief mit schmeichelnder Stimme:

«Sei gegrüßt, schöne Jungfrau!»

«Sei gegrüßt, tapferer Jüngling!»

«Ich habe von alten Leuten vernommen, daß in vergangenen Zeiten dieser See noch nicht bestand. Wenn man eine hohe Brücke darüber schlagen könnte, käme ich auf die andere Seite, um dich zu freien.»

«Warte, die Brücke wird gleich fertig sein», antwortete ihm die Königstochter Maria.

Sie warf das Handtuch, und alsbald bog und wölbte es sich als hohe, schöne Brücke über den See. Der Drache ging über die Brücke, nahm seine Gestalt wieder an, schloß das Hündchen des Königssohns ein und warf den Schlüssel in den See. Dann packte er die Königstochter und trug sie davon.

Königssohn Johannes kam von der Jagd zurück -ach, die Schwester war verschwunden, und das Hündchen heulte im verschlossenen Raum! Da erblickte er die Brücke über dem See und sprach: «Gewiß hat der Drache meine Schwester entführt.»

Und er machte sich auf, um die Königstochter Maria zu suchen.

Der Königssohn ging und ging. Im freien Felde stand ein Hüttchen auf Hühnerfüßchen und Hundepfötchen.

«Hüttchen, Hüttchen, dreh dich zum Wald mit dem Rücken, zu mir mit der Vorderseite!»

Das Hüttchen drehte sich um, und Königssohn Johannes trat hinein. In dem Hüttchen lag die Baba Jaga mit dem Knochenbein, lag von einem Winkel zum andern, die Nase in die Decke gewachsen.

«Fuh, fuh, fuh, bis heute habe ich nichts vom russischen Geist gehört, aber jetzt ersteht der russische Geist vor meinen Augen und. in die Nase wirft er sich auch! Warum bist du gekommen, Königssohn Johannes?»

«Ach, wenn du meinem Leide abhelfen könntest!»

«Was für ein Leid hast du?» Der Königssohn erzählte ihr alles.

«Nun, Königssohn Johannes, geh nach Hause, auf deinem Hofe wächst ja ein Apfelbaum! Brich drei grüne Reiser ab, ficht sie zusammen und da, wo das Hündchen eingeschlossen ist, schlage auf das Schloß! Sofort wird das



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Schloß in kleine Stücke zerspringen, dann greife furchtlos den Drachen an, er kann dir nicht widerstehen.»

Königssohn Johannes kehrte nach Hause zurück und befreite das Hündlein. Wütend sprang es heraus. Er nahm noch das Wölfchen und das Bärlein und ging auf den Drachen los. Die Tiere warfen sich auf den Drachen und zerrissen ihn in Stücke.

Königssohn Johannes aber nahm die Königstochter Maria wieder zu sich, und sie fingen an, miteinander zu leben, und sie lebten und lebten und mehrten ihr Hab und Gut.


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