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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE HEXE UND DIE SCHWESTER DER SONNE



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Königssohn Johannes lief zu seinem Vater, und zum ersten Male in seinem Leben konnte er ihn ansprechen. Der König war darüber so froh, daß er gar nicht fragte, wozu Johannes das Pferd brauche. Und er befahl sogleich, daß man ihm das allerbeste Roß aus seinen Koppeln sattle.

Königssohn Johannes bestieg das Roß und ritt davon, ritt, wohin die Augen schauen, ritt lange, lange Zeit Endlich kam er zu zwei alten Näherinnen, die bat er, ob er bei ihnen bleiben dürfe. «Wir würden dich gern bei uns aufnehmen, Königssohn Johannes», antworteten die beiden Alten. «Aber wir haben nicht mehr lange zu leben, w.r zerbrechen noch eine Truhe voll Nadeln, vernähen noch eine Truhe Faden, und dann kommt gleich der Tod.»

Königssohn Johannes fing an zu weinen, ritt weiter und ritt eine lange, lange Zeit. Da kam er zum Riesen Wendebaum: «Nimm mich bei dir auf!» «Gern würde ich dich bei mir aufnehmen, Königssohn Johannes, aber ich habe nicht mehr lange zu leben. Wenn ich alle diese Eichen mit den Wurzeln ausgerissen habe, dann kommt sogleich der Tod.»

Königssohn Johannes weinte noch mehr und ritt weiter und weiter. Endlich kam er zu dem Riesen Wendeberg und bat ihn um Aufnahme. «Gern würde ich dich aufnehmen, Königssohn Johannes, aber ich habe nicht mehr lange zu leben. Du siehst, ich bin hierher gestellt, um diese Berge zu versetzen, und wenn ich den letzten versetzt habe, dann kommt sogleich der Tod.»

Königssohn Johannes vergoß bittere Tränen und ritt weiter, ritt lange, lange. Endlich gelangte er hinauf zur Schwester der Sonne. Die nahm ihn auf, gab ihm Speise und Trank und pflegte ihn wie ihren eigenen Sohn. Dort führte der Königssohn ein schönes Leben. Aber er grämte sich immer, denn er hatte Heimweh, wollte wissen, was im Vaterhause geschah. Immer wieder stieg er auf einen hohen Berg und schaute nach dem Königshofe aus. Aber dort war alles verschlungen, und nur die Mauern waren übriggeblieben. Da fing er an zu seufzen und zu weinen. Als er wieder einmal vom Berge herab kam, traf ihn die Schwester der Sonne und fragte: «Königssohn Johannes, warum hast du geweint?»

«Der Wind blies mir ins Auge», — und ein anderes Mal antwortete er das gleiche. Da verbot die Schwester der Sonne dem Winde zu blasen. Als aber Königssohn Johannes zum dritten Male so verweint vom Berge herab kam, da war nichts zu machen, er mußte alles bekennen. Und er begann, die Schwester der Sonne zu bitten, daß sie ihn nach Hause ziehen lasse, damit er die Heimat wiedersehen könne. Sie wollte ihn nicht fortlassen, den wackeren Burschen, aber erbat und bat, bis sie ihn endlich fort ließ, die Heimat zu sehen.

Beim Abschied schenkte sie ihm eine kostbare Bürste. einen Kamm und



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zwei frische Äpfelchen. Wie alt ein Mensch auch sein mochte, aß er eins von diesen Äpfelchen, so wurde er sogleich wieder jung.

Königssohn Johannes ritt davon und kam zum Riesen Wendeberg. Dem war nur noch ein einziger Berg übriggeblieben. Der Königssohn nahm seine Bürste und warf sie ins freie Feld. Da wuchsen mit einem Male hohe, hohe Berge aus der Erde hervor. Bis zum Himmel ragten ihre Gipfel, und ihrer waren so viele, daß man sie gar nicht zählen konnte. Wendeberg freute sich und machte sich fröhlich an die Arbeit.

Über kurz oder lang kam Königssohn Johannes zum Riesen Wendebaum. Dort standen nur noch drei Eichen. Er nahm den Kamm und warf ihn ins freie Feld, und plötzlich erhob sich rauschend ein dichter Wald, eine Eiche dicker als die andere. Wendebaum freute sich, dankte dem Königssohn und machte sich fröhlich daran, die hundertjährigen Eichen zu roden.

Ob es lang war oder nicht so lang - Königssohn Johannes kam zu den beiden Alten. Er gab jeder ein Äpfelchen, sie aßen sie auf und wurden auf der Stelle wieder jung. Darauf schenkten sie ihm ein Tüchlein: «Schwenkst du es, so entsteht hinter dir ein ganzer See.»

Als Königssohn Johannes nach Hause kam, lief ihm seine Schwester entgegen und liebkoste ihn zärtlich: «Setze dich nieder, Bruder, nimm die Gusli und spiele, ich aber gehe und bereite das Mittagsmahl!»

Königssohn Johannes setzte sich hin und spielte die Gusli. Da kroch ein Mäuslein aus einem Loch und sprach zu ihm mit menschlicher Stimme: «Rette dich, Königssohn, und eile davon! Deine Schwester wetzt schon ihre Zähne.»

Königssohn Johannes eilte hinaus, setzte sich auf sein Roß und sprengte zur Sonne zurück.

Das Mäuslein aber lief über die Saiten der Gusli, da fingen sie an zu klingen, und die Schwester merkte nicht, daß der Bruder geflohen war. Als sie ihre Zähne geschärft hatte, stürmte sie in die Stube, aber da war keine Seele mehr, nur das Mäuslein schlüpfte ins Loch. Da wurde die Hexe zornig, knirschte mit den Zähnen und machte sich an die Verfolgung.

Königssohn Johannes hörte Lärm, drehte sich um und sah, daß die Schwester ihn beinahe eingeholt hatte. Schnell schwenkte er sein Tüchlein, und hinter ihm entstand ein tiefer See. Die Hexe durchschwamm ihn, aber Königssohn Johannes war schon weit. Noch schneller jagte sie ihm nach, und wieder kam sie ihm ganz nahe. Da erriet Wendebaum, daß der Königssohn sich vor seiner Schwester retten wollte, und fing an, die Eichen auszureißen und wälzte sie auf den Weg. Einen ganzen Berg türmte er aufeinander da war kein Durchkommen für die Hexe! Sie fing an, sich einen Weg zu nagen und nagte sich schließlich mit letzter Kraft durch. Aber Königssohn Johannes war schon weit.



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Wieder stürmte sie hinter ihm her, sie jagte und jagte, und wenig fehlte, so hätte sie ihn erreicht. Aber Wendeberg sah es, ergriff den allerhöchsten Berg, drehte ihn auf den Weg und türmte noch einen darüber. Die Hexe krabbelte und kletterte. Aber Königssohn Johannes ritt und ritt und war schon ganz weit.

Als die Hexe über dem Berg war, verfolgte sie wieder den Bruder und schon erblickte sie ihn und rief: «Jetzt entgehst du mir nicht!» Aber da sprengte er schon vor das Schloß der goldenen Sonne und rief:

«Sonnenschein, Sonnenschein,
öffne mir dein Fensterlein!»

Und die Schwester der Sonne öffnete das Fenster und Königssohn Johannes sprang mit seinem Pferde hinein.

Die Hexe fing an zu bitten, man solle ihr den Bruder herausgeben. Aber die Schwester der Sonne hörte nicht auf sie und gab ihn nicht heraus. «Königssohn Johannes soll mit mir zur Waage gehen», forderte die böse Schwester, «wir wollen sehen, wer überwiegt. Wird er mehr wiegen, so fresse ich ihn, werde ich mehr wiegen, so soll er mich erschlagen!»

Da gingen sie miteinander zur Waage. Erst setzte sich der Königssohn auf die Waage, dann kroch auch die Hexe hinauf. Kaum aber hatte sie den Fuß daraufgesetzt, als Johannes mit solcher Gewalt in die Höhe geworfen wurde, daß er geradeswegs in den Himmel flog, in die Gemächer der Schwester der Sonne.

Die Hexe aber, die Schlange, blieb auf der Erde.


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