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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE HEXE

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Die hatten ein Söhnlein Iwanuschka, und das liebten sie so sehr, wie man es gar nicht mit Worten sagen kann. Eines Tages bat Iwanusdika: «Väterchen, Mütterchen, laßt mich Fischlein fangen!»

«Wo willst du hin, Kind, bist ja noch so klein, du könntest ertrinken. Wozu soll das gut sein?»

«Oh, nein, ich ertrinke nicht, ich will euch Fischlein fangen. Laßt mich hinaus!»

Da zog ihm die Frau ein weißes Hemdchen an, gürtete ihn mit einem roten Gürtel und ließ ihn hinaus.

«Schifflein, mein Schifflein, schwimme soweit du kannst!
Schifflein, mein Schifflein, schwimme soweit du kannst!»

Und das Schifflein schwamm weit, weit hinaus, und Iwanusdika fing an, die Fischlein zu fangen.

Ober kurz oder lang kam die Mutter zum Ufer und rief ihrem Söhnlein: «Iwanusdika, Iwanusdika, mein Söhnlein, schwimme, schwimme zum Ufer, ich habe dir Essen und Trinken gebracht!»

Und Iwanuschka sprach: «Schifflein, mein Schifflein, schwimme, schwimme zum Ufer, mein Mütterchen ruft mich!»

Und das Schifflein schwamm rasch zum Ufer.

Die Frau nahm sich die Fische, gab ihrem Söhnlein Essen und Trinken, zog ihm ein frisches Hemdchen an und einen neuen Gürtel und ließ ihn weiter Fischlein fangen.

Iwanuschka setzte sich in das Schifflein und sprach:

«Schifflein, mein Schifflein, schwimme so weit du kannst!
Schifflein, mein Schifflein, schwimme so weit du kannst!»



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Und das Schifflein schwamm weit, weit hinaus, und Iwanuschka fing wieder an, Fischlein zu fangen.

Über kurz oder lang kam der Vater zum Ufer und rief seinem Söhnlein: «Iwanuschka, Iwanuschka, mein Söhnlein, schwimme, schwimme zum Ufer, ich habe dir Essen und Trinken gebracht!»

Und Iwanuschka sprach: «Schifflein, mein Schifflein, schwimme, schwimme zum Ufer, mein Väterchen ruft mich!»

Das Schifflein kam zum Ufer zurück, der Vater nahm sich die Fische, gab seinem Söhnlein Essen und Trinken, zog ihm ein frisches Hemdchen an und einen neuen Gürtel und ließ ihn weiter Fischlein fangen.

Eine Hexe hörte es, wie Vater und Mutter Iwanuschka riefen, und wollte den Knaben für sich gewinnen. Sie kam zum Ufer und rief mit heiserer Stimme: «Iwanuschka, Iwanuschka, mein Söhnlein, schwimme, schwimme zum Ufer, ich habe dir Essen und Trinken gebracht!»

Aber Iwanuschka hörte wohl, daß es nicht die Stimme der Mutter war, sondern die Stimme der Hexe. Und er sang:

«Schifflein, mein Schifflein, schwimme so weit du kannst!
Schifflein, mein Schifflein, schwimme so weit du kannst!
Das ist nicht die Mutter, die mich ruft, das ist die Hexe.»

Da merkte die Hexe, daß sie Iwanuschka mit der Stimme der Mutter rufen müßte. Schnell lief sie zum Schmied: «Schmied, Schmied, schmiede mir ein Stimmchen, so fein wie es Iwanuschkas Mutter hat! Und wenn du es nicht tust, dann verschlinge ich dich.»

Da schmiedete der Schmied dasselbe feine Stimmchen, wie es Iwanuschkas Mutter hatte.

In der Nacht kam die Hexe ans Ufer und sang: «Iwanuschka, Iwanuschka, mein Söhnlein, schwimme, schwimme zum Ufer, ich habe dir Essen und Trinken gebracht!»

Da kam Iwanuschka zum Ufer geschwommen, die Hexe nahm sich schnell alle Fische, griff nach Iwanuschka und brachte ihn in ihr Haus. Zu Hause sagte sie zu ihrer Tochter Aljonka: «Schüre den Ofen, und brate mir den Iwanuschka schön braun und knusprig, ich will herumlaufen und meine Freunde zum Schmause laden.»

Aljonka schürte den Ofen und rief: «Iwanuschka, komm her und setze dich auf den Ofenschieber!»

«Ach, ich bin so klein und so dumm», antwortete Iwanuschka, «ich verstehe ganz und gar nichts davon. Lehre mich zuerst, wie man sich auf den Schieber setzt!»

«Gut», sagte Aljonka, «lehren dauert nicht lange», und setzte sich selber



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auf den Ofenschieber. lwanuschka aber schob sie schnell in den Ofen, machte das Türlein zu und lief aus dem Hause. Er schloß das Haus ab und kletterte auf eine hohe, hohe Eiche.

Die Hexe kam mit den Gästen nach Hause, klopfte an die Tür, aber niemand öffnete ihr. «Diese unselige Aljonka, wieder spielt sie Irgendwo herum!»

Sie stieg durch das Fenster, schloß die Tür auf und ließ ihre Gäste herein. Alle setzten sich an den Tisch. Die Hexe machte das Ofentürchen auf, zog die gebratene Aljonka heraus und setzte sie auf den Tisch. Sie aßen und aßen, sie tranken und tranken, traten auf den Hof hinaus und fingen an, sich auf dem Rasen zu wälzen. «Ich drehe mich, ich wälze mich, satt von Iwanfleisch. Ich drehe mich, ich wälze mich, satt von Iwanfleisch», schrie die Hexe.

Und Iwanusdika rief von oben: «Drehe dich, wälze dich, satt von Aljonkafleisch!»

«Oh», murmelte die Hexe, «ich höre etwas, ob wohl die Blätter rascheln?» Und wieder spricht sie: «Ich drehe mich, ich wälze mich, satt von Iwanfleisch!»

Und Iwanuschka das seine: «Drehe dich, wälze dich, satt von Aljonkafleisch!»

Die Hexe guckte nach oben und erblickte Iwanuschka. Schnell stürzte sie zur Eiche und fing an, den Stamm durchzunagen. Sie nagte und nagte und brach sich zwei Vorderzähne aus. Da lief sie zum Schmied, kam an und sprach: «Schmied, Schmied, schmiede mir eiserne Zähne, sonst werde ich dich verschlingen!» Und der Schmied schmiedete zwei eiserne Zähne.

Sie kehrte zurück, fing wieder an, an der Eiche zu nagen, nagte und nagte. Eben hatte sie den Stamm durchgenagt, da sprang Iwanuschka hinüber auf die andere Eiche, und die sie durchgenagt hatte, krachte auf die Erde. Die Hexe sah Iwanuschka auf der anderen Eiche sitzen, knirschte vor Wut mit den Zähnen und fing wieder an zu nagen. Sie nagte, nagte und nagte und brach sich zwei untere Zähne aus. Wieder lief sie zum Schmied, kam an und sprach: «Schmied, Schmied, schmiede mir eiserne Zähne, sonst werde ich dich verschlingen!» Und der Schmied schmiedete noch einmal zwei eiserne Zähne. Sie kehrte zurück und nagte weiter an der Eiche, auf der Iwanuschka saß. Und Iwanuschka wußte nicht, was er machen sollte. Da sah er auf einmal eine Schar Gänse und Schwäne vorbeifliegen.

«Meine lieben Gänslein, meine lieben Schwänlein, nehmt mich auf eure Fittiche und bringt mich zu Vater und Mutter! Bei Vater und Mutter gibt es Essen und Trinken, und da ist gut sein.»

«Die nächsten sollen dich nehmen!» riefen die Vögel und flogen vorbei, und Iwanuschka wartete. Da kam der zweite Zug geflogen und Iwanuschka bat:



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«Meine lieben Gänslein, meine lieben Schwänlein, nehmt mich auf eure Fittiche und bringt mich zu Vater und Mutter! Bei Vater und Mutter gibt es Essen und Trinken, und da ist gut sein.»

«Die letzten sollen dich nehmen!» und Iwanuschka wartete. Endlich kam der dritte Zug, und er bat wieder. Da nahmen ihn Gänse und Schwäne auf ihre Fittiche, trugen ihn nach Hause und setzten ihn oben auf dem Dachboden ab.

Am nächsten Morgen, ganz in der Frühe, fing die Mutter an, Pfannkuchen zu backen, fing an zu backen und dachte an ihr Söhnlein: «Wo mag nur mein Iwanuschka sein? Wenn ich doch von ihm träumen könnte!» Da sagte der Vater: «Mir träumte, Gänse und Schwäne hätten unseren Iwanuschka auf ihren Flügeln nach Hause gebracht.»

Die Mutter war fertig mit Backen und fing an, die Pfannkuchen zu verteilen: «Nun, Alterchen, einen für dich, einen für mich - einen für dich, einen für mich -einen für dich, einen für mich.»

«Und für mich ist keiner da?» rief Iwanuschka.

-«der ist für dich, der ist für mich.»

«Und mir nichts?»

«Oh», sagte die Mutter, «was ist dort! Väterchen geh, und sieh nach!»

Der Alte ging auf den Boden und holte Iwanuschka herab; und sie freuten sich sehr, und sie fragten den Sohn nach allem, was geschehen war. Von da an lebten sie wieder miteinander, und sie lebten und lebten und mehrten ihr Hab und Gut.

In einem Land, in einem weit entlegenen Reich lebten einmal ein König und eine Königin, die hatten einen Sohn, Johannes, der war von seiner Geburt an stumm. Als er zwölf Jahre alt war, ging er eines Tages in den Pferdestall zu seinem liebsten Knecht. Der erzählte ihm immer Märchen. Auch diesmal kam Königssohn Johannes, um von ihm Märchen zu hören. Aber er sollte etwas anderes hören.

«Königssohn Johannes», sprach der Roßknecht zu ihm, «deine Mutter wird bald eine Tochter bekommen und du also eine Schwester. Die aber wird eine furchtbare Hexe sein. Sie wird Vater und Mutter und alle Untertanen verschlingen. Geh hin und tue, als wolltest du ausreiten, und bitte deinen Vater um sein bestes Pferd. Besteige es und reite davon, reite, wohin deine Augen schauen, damit du dem Unglück entrinnst!»


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