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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DER BERG AUS KRISTALL

In einem Land, in einem Reich lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne. Einmal sprachen die Söhne zu ihm: «Gnädiger Herr und Vater, segne uns, wir wollen hinaus auf die Jagd!» Der Vater segnete sie, und sie ritten fort, jeder nach einer anderen Seite.

Der jüngste Sohn ritt und ritt und verirrte sich. Endlich kam er auf eine Wiese. Auf dieser Wiese lag ein gefallenes Pferd, und um das Pferd hatte sich allerlei wildes Getier versammelt, auch Vögel und eides Gewürm. Ein Falke erhob sich, flog zum Königssohn, setzte sich auf seine Schulter und sprach: «Königssohn Johannes, teile uns dieses Pferd zu! Schon dreiunddreißig Jahre liegt es hier, und wir streiten immer noch darum, aber wie wir es verteilen sollen, wissen wir nicht.» Der Königssohn stieg von seinem guten Rosse und verteilte das tote Pferd. Den wilden Tieren gab er die Knochen, den Vögeln das Fleisch, dem Gewürm die Haut und den Ameisen den Kopf.

«Dank dir, Königssohn Johannes!» sagte der Falke. «Für diesen Dienst kannst du dich, so oft du es willst, in einen hellen Falken oder in eine kleine Ameise verwandeln.»

Da schlug der Königssohn Johannes gegen die feuchte Erde, wurde zum hellen Falken, schwebte hoch und flog in das dreißigste Königreich. Dieses Königreich war mehr als zur Hälfte hineingezogen in einen Berg aus Kristall. Er flog geradeswegs vor das Schloß, verwandelte sich wieder in einen Jüngling und fragte die Wächter: «Wird euer Herr mich wohl in seine Dienste nehmen?»

«Warum soll er solch' stattlichen Jüngling nicht nehmen?»

Königssohn Johannes trat in die Dienste jenes Königs und lebte bei ihm eine Woche, eine zweite und eine dritte. Da fing die Königstochter an zu



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bitten: «Herr, mein Vater, erlaube mir, mit Johannes, dem Königssohn, auf dem kristallenen Berge spazierenzugehen.»

Der König erlaubte es, sie setzten sich auf ihre braven Pferde und ritten fort. Als sie zum kristallenen Berge kamen, sprang plötzlich -keiner wußte woher - eine goldene Ziege hervor. Der Königssohn jagte ihr nach, ritt und ritt, aber er konnte sie nicht erjagen. Als er zurückkam, war die Königstochter verschwunden. Was war zu tun? Wie sollte er dem König unter die Augen treten? Er verkleidete sich als alter Mann, so daß man ihn nicht erkennen konnte, kehrte zum Schlosse zurück und sprach zum König: «Herr König, dinget mich als Hirten!»

«Gut so, sei mein Hirte! Wenn der Drache mit den drei Köpfen herbeifliegt, gib ihm drei Kühe. Wenn der mit den sechs Köpfen kommt, gib sechs Kühe. Aber wenn der zwölfköpfige heranfliegt, so zähle ihm zwölf Kühe ab!»

Königssohn Johannes trieb die Herde hinaus über Berg und Tal. Plötzlich erhob sich aus dem See der Drache mit den drei Köpfen. «Ei, Königssohn, was für eine Arbeit hast du da auf dich genommen! Ein tapferer Bursche sollte lieber kämpfen, anstatt die Herde zu hüten. Nun aber gib mir drei Kühe!»

«Wird das nicht ein zu fetter Bissen sein?» fragte der Königssohn. «Ich selbst esse ein Entchen in vierundzwanzig Stunden, und du willst drei Kühe haben? Keine einzige bekommst du!»

Der Drache wurde wütend und stürzte sich auf die Kühe; aber Königssohn Johannes verwandelte sich schnell in einen hellen Falken und riß ihm seine drei Köpfe ab. Dann trieb er die Herde nach Haus.

«Nun, Großväterchen», fragte der König, «kam der dreiköpfige Drache geflogen? Und gabst du ihm die drei Kühe?»

«Nein, Herr König, keine einzige gab ich her.»

Am anderen Tage trieb der Königssohn wiederum die Herde über Berg und Tal. Da stieg aus dem See der Drache mit den sechs Köpfen und verlangte sechs Kühe.

«O du märchenhafter Vielfraß! Ich selbst esse ein Entchen in vierundzwanzig Stunden, und du willst sechs Kühe? Keine einzige gebe ich dir!»

Der Drache wurde wütend und ergriff statt der sechs Kühe deren zwölf. Aber Königssohn Johannes verwandelte sich in einen strahlenden Falken, warf sich auf den Drachen und riß ihm die sechs Köpfe ab. Dann trieb er die Herde nach Hause.

«Nun, Großväterchen», fragte der König, «kam der sechsköpfige Drache herbeigeflogen und hat sich meine Herde vermindert?»

«Wenn er auch da war, so hat er doch nichts bekommen!»

Am späten Abend verwandelte sich der Königssohn in eine Ameise und kroch durch eine winzige Spalte in den kristallenen Berg. Drinnen im Kristallberg



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saß die Königstochter. «Sei gegrüßt, Königssohn Johannes, wie bist du hierher geraten? Mich hat der Drache mit den zwölf Köpfen entführt. Er lebt im See meines Vaters. In jenem Drachen ist ein Kasten verborgen, in dem Kasten ein Hase, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, im Ei ein Same. Wenn du den Drachen tötest und dieses Samenkorn erlangst, kannst du den Kristallberg vernichten und mich befreien.»

Königssohn Johannes kroch wieder als Ameise aus dem Loch heraus, wurde wieder zum Hirten und weidete seine Herde. Auf einmal erhob sich aus dem See der Drache mit den zwölf Köpfen. «Ei, du tapferer Jüngling, was treibst du hier? Statt zu streiten, hütest du eine Herde! Nun, so zähle mir zwölf Kühe ab!» «Die Mahlzeit wäre zu fett für dich! Ich selbst esse ein Entchen in vierundzwanzig Stunden, und du willst so viel?»

Sie fingen an zu kämpfen, und über kurz oder lang besiegte Johannes den Drachen mit den zwölf Köpfen. Er schnitt seinen Leib entzwei und fand auf der rechten Seite den Kasten. In dem Kasten war ein Hase, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei und im Ei das Samenkorn. Er nahm das Samenkorn, zündete es an und trug es zum Kristallberg. Der Berg taute auf, und Königssohn Johannes führte die Königstochter hinaus und brachte sie zu ihrem Vater.

Der König war voller Freude und sprach zu ihm: «Du sollst mein Sohn sein!»

Da wurde Königssohn Johannes mit der Königstochter vermählt, und das Hochzeitsmahl ward gehalten.


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