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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


IWAN KUHSOHN

In einem Reich, in einem Zarenreich, lebten einmal ein Zar und eine Zarin, die hatten kein Kind. Und sie baten Gott täglich, daß er ihnen einen Sohn schenke. Sie wollten sich an ihm freuen, solange sie jung waren, und er sollte



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für sie sorgen in ihrem Alter. Sie beteten und legten sich schlafen und fielen in einen tiefen, tiefen Schlaf. Im Traume sahen sie einen stillen Teich, nicht weit von der Hofburg, und darin einen Kaulbars mit goldenen Flossen. Wenn die Zarin diesen goldflossigen Kaulbars äße, würde sie alsbald guter Hoffnung werden.

Als der Zar und die Zarin erwachten, riefen sie sogleich die Ammen und Wärterinnen zu sich und erzählten ihnen den Traum. «Was im Traume geschah, kann auch im Wachen geschehen», antworteten die Frauen.

Da rief der Zar seine Fischer zu sich und befahl ihnen, den goldenen Fisch zu fangen. Im Morgenrot gingen die Fischer an den stillen Teich und warfen ihre Netze aus. Das Glück war mit ihnen, beim ersten Zuge fingen sie den goldenen Fisch. Sie brachten ihn in die Hofburg, die Zarin eilte ihnen entgegen, nahm sie bei der Hand und belohnte sie mit reichen Schätzen. Darauf rief sie ihre Leibköchin und gab ihr den Kaulbars: «Bereite ihn zum Mittagsmahle, aber sieh zu, daß niemand ihn berührt!»

Die Köchin reinigte den Fisch, wusch und kochte ihn. Das Spülicht aber stellte sie auf den Hof. Da kam eine Kuh und trank das Spülicht aus.

Die Zarin aß den Fisch, die Köchin aber leckte das Geschirr ab. Nach einer Weile wurden alle drei schwanger, die Zarin, die Magd und die Kuh, und bekamen zu gleicher Zeit einen Sohn. Die Zarin gebar den Iwan Zarewitsch, die Magd den Iwan Magdsohn und die Kuh den Iwan Kuhsohn. Die Kindlein wuchsen nicht nach Tagen, sondern nach Stunden. Wie guter Hefeteig aufgeht in der Wärme, so streckten auch sie sich in die Höhe. Alle drei Knaben hatten das gleiche Gesicht, und es war nicht möglich zu erkennen, welches das Kind der Zarin war, weiches der Magd gehörte und welches der Kuh. Nur durch eines unterschieden sie sich: Wenn sie heimkehrten vom Spaziergang, so verlangte Iwan Zarewitsch die Wäsche zu wechseln, Iwan Magdsohn bat um Essen, und Iwan Kuhsohn legte sich hin zum Schlafen.

Im zehnten Jahre gingen die drei Knaben zum Zaren und sprachen: «Liebes Väterchen, laß uns einen eisernen Stab schmieden von fünfzig Pud Gewicht!»

Der Zar befahl sogleich seinen Schmieden, einen Stab von fünfzig Pud Gewicht zu machen. Die Schmiede fingen an zu schmieden und schmiedeten eine ganze Woche lang. Keiner von ihnen konnte den Stab hochheben. Aber Iwan Zarewitsch, Iwan Magdsohn und Iwan Kuhsohn drehten ihn zwischen den Fingern wie einen Gänsekiel. Sie traten damit auf den weiten Hof hinaus. «Nun, meine Brüder, wir wollen sehen, wer der Größte von uns ist», sagte Iwan Zarewitsch.

«Gut», antwortete Iwan Kuhsohn, «nimm den Stab und schlage uns auf die Schulter!»



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Iwan Zarewitsch nahm den eisernen Stab und schlug Iwan Magdsohn und Iwan Kuhsohn auf die Schulter und schlug den einen und den andern bis zu den Knien in die Erde hinein. Iwan Magdsohn schlug beide Brüder bis zur Brust in die Erde, Iwan Kuhsohn aber schlug beide Brüder bis zum Halse in die Erde.

«Laßt uns noch einmal unsere Kräfte erproben!» sagte Iwan Zarewitsch. «Wir wollen den eisernen Stab in die Höhe werfen. Wer am höchsten wirft, der soll der Größte sein.»

«Nun, so wirf du zuerst!»

Iwan Zarewitsch warf, und der Stab fiel nach einer Viertelstunde herab. Iwan Magdsohn warf, da kam er nach einer halben Stunde zurück. Als aber Iwan Kuhsohn geworfen hatte, kam er erst nach einer ganzen Stunde zur Erde.

«Nun, Iwan Kuhsohn, so sei du der Größte unter uns Brüdern!»

Danach gingen sie in den Garten und fanden einen ungeheuer großen Stein. «Was für ein Stein!» rief Iwan Zarewitsch. «Können wir ihn nicht von der Stelle wälzen?» Er stemmte sich dagegen, rückte und drückte, aber er hatte keine Kraft. Iwan Magdsohn versuchte es, doch der Stein bewegte sich kaum. «Im flachen Wasser schwimmt ihr bloß», rief Iwan Kuhsohn, «laßt es mich versuchen!»

Er ging zum Stein, und als er ihn nur mit dem Fuße anstieß, hob er sich schon aus dem Boden, rollte zum anderen Ende des Gartens und riß viele Bäume um. Unter dem Stein öffnete sich eine Höhle. Darin standen drei Heldenrosse, und an den Wänden hing die ganze Rüstung dazu.

Sogleich eilten die braven Burschen zum Zaren: «Herr, du unser Väterchen, gib uns deinen Segen! Wir wollen in fremde Länder reiten, wir wollen andere Leute sehen und uns selber zeigen!»

Der Zar segnete sie und gab ihnen aus seiner Schatzkammer Gut und Geld mit auf den Weg. Sie nahmen Abschied, setzten sich auf ihre Heldenrosse und ritten davon. Sie ritten über Berg und Tal und über grüne Wiesen und kamen in einen tiefen Wald. In dem Walde stand ein Hüttchen auf Hühnerbeinchen und Widderhörnern. Wenn es nötig war, drehte es sich um. «Hüttchen, Hüttchen, dreh dich mit der Vorderseite zu uns, mit dem Rücken zum Walde. Wir wollen hineingehen, Salz und Brot darin essen!»

Das Hüttchen drehte sich, und die Burschen gingen hinein. Drinnen auf dem Ofen lag die Baba Jaga mit dem Knochenbein, reichte von einer Ecke zur andern und mit der Nase bis an die Decke. «Fuh, fuh, fuh, bis heute habe ich den russischen Geist nicht mit den Augen gesehen, noch mit den Ohren gehört. Jetzt sitzt der russische Geist auf dem Löffel und rollt mir sogar in den Mund!»

«Schilt nicht, Alte, klettere vom Ofen herab und setze dich auf das Bänkchen! Frage, wohin der Weg geht, und wir sagen es gern!»



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Die Baba Jaga kletterte vom Ofen herab, näherte sich Iwan Kuhsohn und verbeugte sich tief: «Sei gegrüßt, Held Kuhsohn, wohin gehst du? Wohin führt dich dein Weg?»

«Mütterchen, wir reiten nach dem Johannisbeerfluß, nach der Wacholderbrücke. Ich hörte, daß dort furchtbare Ungeheuer leben.» «Glück zu, Iwanuschka! Da hast du eine schöne, gute Tat vor. Haben doch die Bösewichte jeden niedergestreckt und zerrissen und die benachbarten Reiche ganz dem Erdboden gleichgemacht.»

Die Brüder übernachteten bei der Baba Jaga, standen früh am Morgen auf und machten sich auf den Weg.

Sie kamen zum Johannisbeerfluß. Die Ufer lagen voll mit menschlichem Gebein, kniehoch waren die Knochen angehäuft. Gegen Abend kamen sie an ein Hüttchen. Sie traten hinein, es war leer, und sie gedachten zu bleiben. Als der Abend gekommen war, sagte Iwan Kuhsohn: «Brüder, wir sind in eine ferne, fremde Gegend gekommen, wir müssen vorsichtig sein. Laßt uns der Reihe nach Wache stehen!»

Sie zogen das Los: Iwan Zarewitsch sollte die erste Nacht wachen, Iwan Magdsohn die zweite, Held Kuhsohn die dritte.

Iwan Zarewitsch ging auf die Wache, kroch in ein Gebüsch und schlief fest ein. Iwan Kuhsohn setzte kein Vertrauen auf ihn. Als es Mitternacht war, nahm er Schwert und Schild, ging hinaus und stellte sich unter die Wacholderbrücke. Plötzlich wallten die Wasser des Flusses auf, auf den Eichen schrien die Adler, und ein sechsköpfiges Ungeheuer, der Tschudo Judo, kam herbei. Unter ihm strauchelte das Pferd, der schwarze Rabe auf seiner Schulter schlug mit den Flügeln, dem Hunde dahinter sträubte sich das Fell.

Spricht zu ihm der sechsköpfige Tsdiudo Judo: «Was strauchelst du, Hundeaas, was schlägst du mit den Flügeln, Rabenvieh, und du Köter, was sträubt sich dir das Fell? Oder denkt ihr vielleicht, daß Iwan Kuhsohn zur Stelle ist? Er, der Tapfere, ist noch nicht geboren, und wenn er es ist, so taugt er noch nicht zum Kampfe. Ich könnte ihn auf eine Hand setzen, mit der anderen draufschlagen - das würde bloß ein bißchen feucht.»

Da sprang Iwan Kuhsohn hervor: «Prahle nicht, du unreiner Geist! Einem hellen Falken kann man die Federn nicht ausreißen, ehe man ihn gefaßt hat, einen braven Burschen nicht schmähen, bevor man ihn sieht. Lass' uns die Kräfte messen, wer da siegt, wird gelobt werden!»

Sie gingen aufeinander los, sie maßen ihre Kräfte und schlugen so heftig aufeinander, daß ringsum die Erde dröhnte. Der Tschudo Judo verlor, Iwan Kuhsohn schlug ihm mit einem Hiebe drei Köpfe ab.

«Halt, Iwan Kuhsohn, laß mich verschnaufen!»

«Verschnaufen, du unreiner Geist? Hast du doch drei Köpfe und ich nur



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einen. Warte, wenn du nur noch einen hast, können wir uns verschnaufen.»

Wieder gingen sie aufeinander los, wieder schlugen sie sich. Iwan Kuhsohn hieb dem Tschudo die letzten drei Köpfe ab. Dann zersägte er den Leib in kleine Teile und warf sie in den Johannisbeerfluß. Die sechs Köpfe aber legte er unter die Wacholderbrücke. Selbst kehrte er in das Hüttchen zurück.

Gegen Morgen erwachte Iwan Zarewitsch. «Nun, Brüderchen, wie war es, was hast du gesehen?» fragte Iwan Kuhsohn.

«Nichts, Brüderchen, nichts, nicht einmal eine Fliege flog an mir vorbei.» In der zweiten Nacht ging Iwan Magdsohn auf Wache. Er kroch ins Gebüsch und schlief ein. Iwan Kuhsohn setzte kein Vertrauen auf ihn. Als Mitternacht herankam, rüstete er sich, nahm Schild und Schwert, ging hinaus und stellte sich an die Wacholderbrücke. Plötzlich wallten die Wasser des Flusses auf, auf den Eichen schrien die Adler. Ein neunköpfiges Ungeheuer kam herbei. Das Pferd strauchelte, der schwarze Rabe auf seinen Schultern schlug mit den Flügeln, dem großen Hunde dahinter sträubte sich das Fell. Das Ungeheuer schlug dem Pferde in die Flanken, riß den Raben an den Federn, den Hund an den Ohren: «Was strauchelst du, Hundeaas, was schlägst du mit den Flügeln, Rabenvieh, und du Köter, was sträubt sich dir das Fell? Oder meint ihr vielleicht, Iwan Kuhsohn wäre hier? Er ist ja noch nicht geboren, und wenn er es ist, so taugt er noch nicht zum Kampfe. Ich würde ihn mit einem Finger schlagen.»

Da sprang Iwan Kuhsohn hervor: «Prahle nicht, warte nur! Bete zu Gott, wasche die Hände, und mache dich ans Werk. Noch kann man nicht wissen, wen es trifft!»

Der Held schwang sein Schwert einmal, zweimal und schlug der unreinen Kraft sechs Köpfe ab. Aber der Tschudo Judo schlug ihn bis zu den Knieen in die feuchte Erde hinein. Held Kuhsohn nahm eine Handvoll Erde und warf sie seinem Gegner in die Augen. Während der sich die Augen auswischte, hieb er ihm die übrigen Köpfe ab. Er zersägte den Körper in kleine Teile und warf sie in den Johannisbeerfluß. Die neun Köpfe aber legte er unter die Wacholderbrücke.

Gegen Morgen kam Iwan Magdsohn herbei. «Nun, Bruder, sahst du nichts in der Nacht?»

«Nein, nicht eine Fliege flog vorbei, nicht eine Mücke summte.»

Iwan Kuhsohn führte die Brüder unter die Wacholderbrücke, zeigte ihnen die abgeschlagenen Köpfe und beschämte sie. «Oh, ihr Schläfer, wie solltet ihr auch kämpfen, ihr solltet lieber zu Hause auf dem Ofen liegen!»

In der dritten Nacht machte sich Iwan Kuhsohn auf, um auf Wache zu ziehen. Er nahm ein weißes Handtuch, hängte es an die Wand und stellte



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eine Schüssel darunter auf den Fußboden. Dann sprach er zu seinen Brüdern: «Ich gehe in einen schrecklichen Kampf, ihr Brüder, wacht und schaut euch um! Wenn das Blut aus dem Handtuch fließen wird, wenn die Schüssel halb voll ist, so steht die Sache gut. Ist sie ganz voll gelaufen, so macht es auch noch nichts. Wenn das Blut aber über den Rand läuft, bindet mein Heldenroß von der Kette los und eilet mir zu Hilfe!»

Dann stellte sich Iwan Kuhsohn unter die Wacholderbrücke. Die Zeit rückte vor bis Mitternacht. Da erhoben sich im Flusse die Wasser, auf den Eichen schrien die Adler, ein zwölfköpfiges Ungeheuer fuhr heraus. Sein Roß hatte zwölf Flügel, das Fell war aus Silber, Schweif und Mähne aber aus Gold. Der Tschudo Judo stürmt daher. Plötzlich strauchelte das Pferd, der schwarze Rabe auf der Schulter schlug mit den Flügeln, dem großen Hunde dahinter sträubte sich das Fell. Der Tschudo Judo stieß dem Pferd in die Flanken, riß den Raben an den Federn, den Hund an den Ohren und schrie: «Was strauchelst du, Hundeaas, was schlägst du mit den Flügeln, Rabenvieh, und du Köter, was sträubt sich dir das Fell? Meint ihr vielleicht, Iwan Kuhsohn wäre hier? Er wurde noch nicht geboren. Und wenn er es ist, so taugt er noch nicht zum Kampfe. Ich brauche bloß zu blasen, und nicht ein Aschenstäubchen bleibt von ihm zurück.»

Da sprang Iwan Kuhsohn heraus: «Rühme dich nicht, bete lieber zu Gott!»

«Ach, du bist da, wozu kamst du hierher?»

«Um dich Unreine Kraft anzuschauen, deine Stärke zu prüfen!»

«Warum willst du meine Kraft erproben? Du bist vor mir wie eine Fliege.» Antwortete Iwan Kuhsohn: «Ich kam nicht hierher, um Märchen zu erzählen, sondern um auf Leben und Tod mit dir zu kämpfen.»

Held Kuhsohn schwang sein scharfes Schwert und schlug dem Ungeheuer drei Köpfe ab. Der Drache ergriff die Köpfe, kritzelte darauf mit seinem feurigen Finger und sogleich wuchsen sie wieder an, als ob sie nie von den Schultern gekommen wären. Es stand schlecht um Iwan Kuhsohn, das Ungeheuer war nahe daran, ihn zu überwinden, bis zu den Knien drückte es ihn in die feuchte Erde.

«Halt, Unreiner, wenn Zaren und Könige kämpfen, so halten sie dabei Waffenstillstand. Wollen wir kämpfen, ohne zu verschnaufen? Laß mich nur dreimal verschnaufen!»

Der Tschudo Judo willigte ein. Iwan Kuhsohn zog den rechten Fausthandschuh ab und warf ihn nach dem Hüttchen. Der Fausthandschuh klopfte an alle Fenster, aber die Brüder schliefen und hörten nichts.

Iwan Kuhsohn schwang sein Schwert zum zweitenmal, stärker als zuerst, und hieb dem Ungeheuer sechs Köpfe ab. Aber der Drache griff danach, beschrieb sie mit dem feurigen Finger und sie wuchsen wieder fest. Dann drückte er den Helden bis zum Gürtel in die Erde hinein.



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Iwan Kuhsohn bat wieder um Waffenstillstand, zog den linken Fausthandschuh aus und warf ihn nach dem Hüttchen. Der Handschuh durchbrach das Dach, aber die Brüder schliefen und hörten nichts.

Zum drittenmal schwang Iwan Kuhsohn sein Schwert, noch stärker als die andern Male, und hieb dem Tschudo Judo neun Köpfe ab. Aber der Drache bekritzelte sie und sie wuchsen alle wieder an, und Iwan Kuhsohn wurde bis zu den Schultern in die feuchte Erde gedrückt.

Noch einmal bat der Held um Waffenruhe, nahm seinen Helm und warf ihn auf das Hüttchen. Von diesem Schlage brach das Dach zusammen, die Hütte fiel in Splittern auseinander, und jetzt erst erwachten die Brüder. Sie sahen nach der Schüssel - sieh, das Blut floß über den Rand! Im Stalle wieherte der Hengst und riß an der Kette. Da liefen sie hinaus, banden ihn los und eilten zu Hilfe.

«Ach», schrie der Tschudo Judo, «du betrügst mich, du hast Hilfe!» Das Heldenroß schlug mit den Hufen nach ihm, Held Kuhsohn erhob sich aus der Erde und hieb dem Ungeheuer den feurigen Finger ab. Dann schlug er die Köpfe herunter, alle bis zum letzten, zerriß den Rumpf und warf die Stücke in den Johannisbeerfluß. Nun kamen die Brüder herbei.

«Ach, ihr Schläfer», rief Iwan Kuhsohn, «euren Schlaf hätte ich beinahe mit dem Kopfe bezahlen müssen.»

In der Morgenfrühe ging Iwan Kuhsohn auf das freie Feld, setzte sich auf die Erde und verwandelte sich in einen Sperling. Er flog nach dem Palast, nach den weißsteinernen Gemächern, und setzte sich in das geöffnete Fenster. In dem Palaste wohnte eine alte Hexe. Plötzlich sah sie ihn, streute Körner aus und lockte: «Sperling, Sperling, du flogst herbei, um Körner zu fressen, um meinen Kummer zu hören! Iwan Kuhsohn hat mich verhöhnt. Meine drei Schwiegersöhne hat er getötet.»

«Mache dir keinen Kummer, Mütterchen», sprachen die Töchter, die Weiber jener drei Ungeheuer, «wir werden ihm alles zurückzahlen!» «Sieh», sagte die Jüngste, «ich werde Hunger erzeugen und selber auf den Weg gehen und mich in ein Apfelbäumchen mit goldenen und silbernen Äpfelchen verwandeln. Wer ein Äpfelchen ißt, wird sogleich zerspringen.»

«Und ich», sagte die Mittlere, «werde Durst erzeugen und mich selber in einen Brunnen verwandeln. Auf dem Wasser werden zwei Becher schwimmen, ein goldener und ein silberner, wer nach den Bechern greift, den werde ich ertränken.»

«Und ich», sagte die Älteste, «werde einen tiefen Schlaf hervorrufen und mich selber in ein goldenes Bett verwandeln. Wer sich auf das Bett legt, wird vom Feuer verzehrt.»

Iwan Kuhsohn hörte alle diese Reden, flog zurück, schlug auf die Erde



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und wurde wieder der junge Held. Die drei Brüder machten sich fertig und zogen heimwärts. Als sie auf dem Wege waren, quälte sie der Hunger, aber weit und breit gab es nirgends etwas zu essen. Schau, da steht ein Apfelbäumchen mit goldenen und silbernen Äpfelchen! Iwan Zarewitsch und Iwan Magdsohn wollten die Äpfelchen pflücken, aber Iwan Kuhsohn sprang hinzu und spaltete den Baum kreuzweise mit seinem Schwert. Blut spritzte nach allen Seiten. Dasselbe geschah mit dem Brunnen und dem goldenen Bett. So gingen die Weiber der drei Ungeheuer zugrunde.

Dies erfuhr die alte Hexe, kleidete sich wie eine Bettlerin und stellte sich mit ihrem Felleisen an den Weg. Als Iwan Kuhsohn mit den Brüdern kam, streckte sie die Hand aus und bat um ein Almosen. Da sagte Iwan Zarewitsch zu Iwan Kuhsohn: «Brüderchen, hat nicht unser Väterchen reiche Schätze? Gib doch der Armen ein frommes Almosen.»

Iwan Kuhsohn holte ein Goldstück hervor und reichte es der Alten. Diese aber griff nicht nach dem Gelde, sondern nach seiner Hand und war im Augenblick mit ihm verschwunden. Die Brüder sahen sich um, und als sie ihn nicht mehr fanden, sprengten sie voller Schrecken nach Hause. Sie hatten allen Mut verloren.

Die Hexe schleppte Held Kuhsohn in die unterirdische Welt und führte ihn zu ihrem Manne: «Hier hast du unseren Verderber!»

Der Alte lag auf einem eisernen Bett und sah nichts. Lange Wimpern und dichte Brauen deckten seine Augen zu. Da rief er zwölf mächtige Helden herbei und befahl ihnen: «Nehmt eine eiserne Mistgabel und hebt mir die Augenbrauen und die schwarzen Wimpern! Ich will sehen, was das für ein Vogel ist, der meine Söhne getötet hat.»

Die Helden hoben ihm die Brauen und die schwarzen Wimpern mit der eisernen Mistgabel. Und der Alte sah: «Ah, das ist Wanjuschka, der tapfere Bursche! Du warst so kühn, gegen meine Kinder zu kämpfen, was soll ich mit dir machen?»

«Das steht bei dir, tu mit mir, was du willst, ich bin auf alles gefaßt.»

«Nun, wozu viel reden, meine Kinder kann ich doch nicht mehr auferwecken. Leiste mir lieber einen Dienst! Geh in das nie gesehene Zarenreich, in die nie dagewesene Herrschaft und verschaffe mir die Zarin mit den goldenen Haaren. Ich will mich mit ihr vermählen.»

«Das wäre eine Frau für mich jungen Burschen», dachte Iwan Kuhsohn bei sich. «was willst du alter Teufel dich mit ihr vermählen?»

Die Alte aber war zornig geworden, band sich einen Stein um den Hals, sprang ins Wasser und ertrank.

«Hier hast du einen Knüttel», sagte der Alte zu Iwan Kuhsohn, «geh zu jener Eiche, schlage dreimal mit dem Knüttel an den Stamm und rufe: Komme heraus, Schiff, komme heraus! Und wenn das Schiff zu dir herausgekommen



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ist, so befiehl dreimal der Eiche, sich wieder zu schließen. Aber gib acht und vergiß es nicht, sonst beleidigst du mich schwer!» Iwan Kuhsohn ging zur Eiche. Er schlug mit der Keule darauf - unzählige Male - und rief: «Alles was darin ist, komme heraus!»

Da kam das erste Schifflein hervor. Iwan Kuhsohn trat hinein und rief: «Alle anderen hinter mir her!» Und er fuhr los.

Als er ein wenig gefahren war, schaute er zurück: Eine unübersehbare Reihe von Schiffen und Kähnen folgte ihm. Alle Insassen lobten ihn, alle dankten ihm. In einem Kahne näherte sich ein Greis: «Held Kuhsohn, lange Jahre mögest du leben bleiben, nimm mich zum Gefährten an!»

«Und was kannst du?»

«Ich kann Brot essen.»

«Bah, das kann ich selber», sagte Iwan Kuhsohn, «setze dich aber auf das Schiff, ich freue mich über einen braven Gefährten!»

In einem anderen Kahn fuhr ein zweiter Greis herbei. «Sei gegrüßt, Iwan Kuhsohn, nimm mich mit dir!»

«Und was kannst du?»

«Väterchen, ich kann Wein und Bier trinken.»

«Das ist keine pfiffige Wissenschaft, aber steige ins Schiff!»

Ein dritter nahte: «Sei gegrüßt, Iwan Kuhsohn, nimm auch mich mit dir!»

«Und was kannst du?»

«Ich kann in jedem Bade baden.» -

«Hol dich der Teufel! Hältst du das für eine Weisheit?» Aber er nahm auch diesen ins Schiff.

Als er schon weiter fuhr, nahte sich ein vierter Greis: «Viele lange Jahre mögest du leben, nimm auch mich unter deine Gefährten!»

«Und was für einer bist du?»

«Ach, Väterchen, ich bin ein Sternenzähler.»

«Nun, der Gefährten sind noch nicht zuviel, komme mit!» Da bat ein fünfter Greis um Aufnahme.

«Was soll ich mit euch allen machen, was kannst du denn?»

«Ich, Väterchen, kann wie ein Kaulbars schwimmen.»

«Nun, so komm!»

Und sie fuhren dahin zur Zarin mit den goldenen Haaren. So kamen sie in das nie gesehene Zarenreich, in die nie dagewesene Herrschaft. Dort wußte man schon lange, daß Iwan Kuhsohn kommen würde. Man hatte volle drei Monate lang Brot gebacken, Wein gekeltert und Bier gebraut. Iwan Kuhsohn sah unzählige Fuder Brot, unzählige Fässer mit Wein und Bier. Er wunderte sich und fragte, was das alles zu bedeuten habe.

«Das ist alles für dich hergerichtet.»

«Zum Teufel, soviel kann ich in einem ganzen Jahre nicht essen und



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trinken.» Aber er erinnerte sich an seine Gefährten und rief: «He da, ihr wackeren Alten, wer von euch kann alles essen und trinken?»

«Das ist für uns ein Kinderspiel», antworteten Freßsack und Saufsack.

«Nun, so macht euch ans Werk!»

Der erste Greis kam herzu und fing an das Brot zu essen. Fuderweise aß er es auf. «Das war wenig Brot», tiefer, «gebt mir mehr!»

Der andere Greis eilte herbei und begann Wein und Bier zu trinken. Fässerweise schluckte er es hinunter, alles trank er aus. «Das war wenig», rief er, «gebt mir mehr!»

Die Diener eilten voller Sorge zur Zarin und berichteten, daß weder Wein noch Brot gereicht habe.

Nun befahl die Zarin mit den goldenen Haaren, den Iwan Kuhsohn ins Badhaus zu führen. Das Badhaus war schon drei Monate lang geheizt und so heiß, daß man sich ihm nicht auf fünf Werst nähern konnte. Man holte Iwan Kuhsohn zum Baden. Er sah, daß aus dem Badhaus Feuer sprühte und rief:

«Seid ihr um den Verstand gekommen? Dort würde ich ja verbrennen!» Aber er erinnerte sich seiner Gefährten.

«He da, ihr wackren Greise, wer von euch kann in diesem Badhaus baden?»

Da kam jener Alte herbei und rief: «Ich, Väterchen, für mich ist das ein Kinderspiel.» Munter sprang er ins Badhaus, in die eine Ecke blies er, in die andere spuckte er. Da wurde das heiße Bad kalt und in den Winkeln lag Schnee.

«Ach, ich erfriere», rief der Greis, «heizt das Bad noch drei Jahre lang.»

Die Diener eilten mit der Botschaft zur Zarin, daß das Bad vollständig eingefroren sei. Nun aber verlangte Iwan Kuhsohn die Zarin mit den goldenen Haaren. Die Jungfrau kam herbei und reichte ihm ihre weiße Hand.

Sie setzten sich in das Schiff und fuhren ab. Sie fuhren einen Tag, zwei Tage. Da wurde die Zarin traurig, ja schwermütig, schlug sich auf die Brust, verwandelte sich in einen Stern und flog zum Himmel hinauf.

«Ach, nun ist sie mir verloren!» rief Iwan Kuhsohn, aber er erinnerte sich an seine Gefährten: «Heda, ihr wackeren Greise, wer von euch ist ein Sternenzähler?»

<SIch, Väterchen, für mich ist das ein Kinderspiel», antwortete jener Greis. Er schlug auf den Boden und verwandelte sich in einen Stern. Dann flog er zum Himmel hinauf und fing an zu zählen. Erfand einen überzähligen Stern und stieß ihn an. Das Sternchen löste sich los von seinem Platz, schnell rollte es über den Himmel, fiel herab auf das Schiff und verwandelte sich wieder in de Zarin mit den goldenen Haaren.

Wieder fuhren sie weiter, einen Tag, zwei Tage. Da wurde die Zarin aufs



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neue von tiefem Kummer befallen. Sie schlug sich an die Brust, verwandelte sich in einen Hecht und schwamm ins Meer hinaus.

«Ach, nun ist sie mir verloren!» rief Iwan Kuhsohn. Aber er erinnerte sich an seinen letzten Gefährten und fragte: «Kannst du so gut schwimmen wie ein Kaulbars schwimmt?»

«Ja, Väterchen, für mich ist das ein Kinderspiel.»

Er setzte sich auf den Boden, verwandelte sich in einen Kaulbars, schwamm dem Hechte nach und machte sich daran, ihn in die Seiten zu stechen. Da sprang der Hecht auf das Schiff und wurde wieder zur Zarin mit den goldenen Haaren.

Darauf nahmen die Alten Abschied und wurden in ihre Heimat entlassen. Iwan Kuhsohn fuhr mit der goldhaarigen Zarin zum Vater der Ungeheuer in die unterirdische Welt. Der rief die zwölf mächtigsten Helden herbei, befahl ihnen, die eiserne Forke zu bringen und die schwarzen Wimpern und Brauen aufzuheben. Er schaute auf die Zarin mit den goldenen Haaren und sprach: «Wanjuschka, wackrer Bursche, jetzt verzeihe ich dir und entlasse dich in die lichte Welt!»

«O nein», antwortete Iwan Kuhsohn, «so habe ich es nicht gemeint.»

«Und wie denn?»

«Ich habe eine tiefe Grube hergerichtet, und über dieser Grube liegt eine dünne Stange. Wer über diese Stange hinübergehen kann, der gewinnt die den Zarin mit goldenen Haaren.»

«Gut, Wanjuschka, gehe du voraus!»

Iwan Kuhsohn trat zur Grube. Leise flüsterte die goldhaarige Jungfrau vor sich hin: «Geh hinüber, leichter als ein Schwanenflaum!»

Iwan Kuhsohn betrat die Stange und sie bog sich nicht einmal unter seinen Füßen. Als aber der Alte darauf trat, kam er nur bis zur Mitte und stürzte in die Grube hinab.

Da nahm Iwan Kuhsohn die Zarin mit den goldenen Haaren und kehrte mit ihr nach Hause zurück. Sie wurden miteinander vermählt und gaben ein Gastmahl für die ganze Welt. Iwan Kuhsohn saß beim Male und rühmte sich vor seinen Brüdern:

«Wenn ich auch lange kriegte, ich mir doch eine Frau ersiegte, aber ihr sitzt auf dem Ofen alleine und verschluckt Ziegelsteine.»

Ich war auf diesem Fest,
trank Met und Wein,
über den Bart lief's,
in den Mund kam nichts hinein.
Man nahm dem Stier sein Tröglein,
goß Milch hinein



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und tunkt' darein ein Brötlein.
Das reichte man mir dort.
Doch aß ich nicht
und trank auch nicht,
den Mund allein nur wischte ich
und wollte wieder fort.
Man stritt mit mir,
man schlug nach mir,
ein Schlafmützlein dann gab man mir,
so stieß man mich vom Ort.


Copyright: arpa, 2015.

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