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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE BEIDEN JOHANNES SOLDATENSÖHNE

In einem Reich, in einem Königreich, lebte einmal ein Bauer, den steckten sie unter die Soldaten. Seine Frau erwartete ein Kind, und als er von ihr Abschied nahm, sagte er: «Frau, zerstöre nicht unser Häuschen, lebe in Frieden mit den Nachbarn und warte auf mich, vielleicht fügt es Gott, daß sie mir bald den Abschied geben. Hier hast du fünfzig Rubel für das Kind. Ist es eine Tochter, so hat sie eine Mitgift, ist es ein Sohn, so wird es ihm eine große Hilfe sein.»

Damit nahm er Abschied und zog in den Krieg, wie ihm befohlen war. Nach drei Monaten schenkte die Frau Zwillingen das Leben. Es waren zwei Knaben, und sie nannte sie Johannes Soldatensöhne. Die Knaben wuchsen, gingen auf wie der Hefeteig, als züge man sie in die Höhe. Mit zehn Jahren schickte sie die Mutter in die Schule zum Lernen. Sie lernten schnell, hatten bald Kaufmanns- und Bojarensöhne überflügelt; keiner konnte besser lesen, schreiben oder Antwort geben als sie. Die Bojaren- und Kaufmannskinder beneideten sie und stießen und zwickten sie alle Tage.

«Sollen sie uns noch lange stoßen und zwicken? Näht uns Mütterchen dafür Kleider und Mützen, damit sie gleich in Stücke gerissen werden! Laßt es uns ihnen heimzahlen auf unsere Art.»

Als die Kinder wieder zu streiten anfingen, duldeten es die Soldatensöhne



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nicht mehr und schlugen selber zu. Einem schlugen sie ein Auge aus, einem anderen die Hand ab, einem dritten den Kopf und prügelten alle miteinander.

Da lief die Wache herbei und setzte sie beide ins Gefängnis. Der König hörte davon und ließ die Knaben kommen. Er fragte sie aus und befahl dann, sie freizulassen.

«Sie sind unschuldig», sagte er, «sie haben sich nur verteidigt. Gott straft die Angreifer.»

Die beiden Johannes Soldatensöhne wuchsen heran und baten: «Mütterchen, gib uns Geld, wir wollen uns auf dem Jahrmarkt gute Pferde kaufen.»

Die Mutter gab ihnen die fünfzig Rubel und prägte ihnen ein: «Hört, Kinder, auf dem Wege zur Stadt grüßt freundlich jeden, der euch begegnet!»

«Ja, liebes Mütterchen.»

Die Brüder gingen in die Stadt auf den Pferdemarkt. Es waren viele Pferde dort, aber keines, das ihnen gefiel. Da sagte einer zum anderen: «Gehen wir an das andere Ende des Platzes, sehen wir, warum das Volk sich dort so drängt!»

Sie gingen hin und sahen: An zwei eichene Pfosten waren zwei Füllen mit eisernen Ketten gebunden, das eine mit sechs, das andere mit zwölf Ketten. Die Tiere zerrten an Ketten, kauten auf ihrem Gebiß und wühlten die Erde auf mit ihren Hufen. Niemand konnte ihnen nahen.

«Was kosten die Pferde?» fragte Johannes Soldatensohn.

«Diese Ware taugt nicht für dich, brauchst deine Nase nicht überall hineinzustecken und zu fragen!»

«Warum sagst du Dinge, die du nicht weißt? Vielleicht kaufen wir sie, wir müssen nur erst die Zähne besehen.»

Der Pferdehändler lachte: «Sieh hin, wenn dir dein Kopf nicht leid tut!»

Der eine Bruder ging zu dem Füllen, das an sechs Ketten gebunden war, der andere zu dem, welches zwölf Ketten hielten. Sie wollten die Zähne ansehen, aber die Pferde stellten sich auf die Hinterfüße und schnaubten. Da stießen die Brüder ihnen das Knie vor die Brust, daß die Ketten rissen und die Pferde fünf Klafter weit flogen und auf den Rücken fielen.

«Ei, wie habt ihr geprahlt, so elende Klepper nehmen wir nicht einmal geschenkt!»

Das Volk staunte und bewunderte die Helden. Der Pferdehändler weinte beinahe. Die Füllen jagten über das freie Feld. Niemand wagte, ihnen zu nahen und sie einzufangen. Da erbarmten sich die beiden Brüder, gingen vor die Stadt und riefen die Tiere mit mächtiger Stimme. Die Pferde kamen und standen vor ihnen still wie festgeschmiedet. Die Brüder legten ihnen



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die eisernen Ketten an, führten sie in die Stadt und schlossen sie an die eichenen Pfosten. Dann gingen sie wieder nach Hause.

Unterwegs begegnete ihnen ein alter Mann, sie vergaßen, was die Mutter geboten hatte, und gingen vorüber, ohne zu grüßen. Aber dann erinnerten sie sich: «Bruder, was taten wir, wir vergaßen, diesen Alten zu grüßen. Eilen wir ihm nach!»

Sie eilten dem Alten nach, zogen die Kappen und verneigten sich vor ihm: «Großväterchen, verzeih, daß wir ohne zu grüßen vorbeigingen. Unser Mütterchen befahl, jeden zu grüßen, den wir auf unserem Wege antreffen.»

«Schönen Dank, wackere Burschen, woher kommt ihr?»

«Aus der Stadt vom Pferdemarkt. Wir wollten uns gute Pferde kaufen, aber sie taugten uns alle nicht.»

«Soll ich jedem von euch ein Pferd schenken?»

«Ach, Großväterchen, wenn du das tust, wollen wir immer zu Gott für dich beten.»

«Ei, so kommt!»

Der Alte führte sie an einen großen Berg, öffnete eine eiserne Türe und führte zwei echte Heldenrosse heraus. «Hier habt ihr Pferde, gute Jungen, reitet mit Gott und bleibt gesund!»

Sie dankten ihm, saßen auf und jagten nach Hause. Dort banden sie die Tiere an einen Pfosten und traten ein. Die Mutter fragte: «Kinder, habt ihr euch Pferde gekauft?»

«Wir haben sie nicht gekauft, aber es wurden uns zwei geschenkt.»

«Wo sind sie?»

«Vor der Hütte.»

«Ach, Kinder, wenn sie jemand stiehlt!» «Mütterchen, die führt keiner hinweg, niemand wagt es, ihnen zu nahen.»

Die Mutter trat vor die Tür und betrachtete die Pferde. Dann brach sie in Tränen aus: «Ach, ihr Söhne, ihr bedürft meines Schutzes nicht mehr!»

Am nächsten Tage baten die Söhne ihre Mutter: «Lass' uns in die Stadt gehen, scharfe Säbel zu kaufen!»

«Geht, ihr Lieben!»

Sie gingen zum Schmied und sagten: «Schmiede uns scharfe Säbel!»

«Wozu schmieden, es sind viele fertig, nehmt, welche ihr wollt!»

«Nein, wir brauchen Säbel, die dreihundert Pud wiegen.»

«Was ihr euch einbildet, wer kann so einen Säbel schwingen? Man kann auf der ganzen Welt keine Esse dazu finden.»

Es war nichts zu machen, die Brüder ließen die Köpfe hängen und zogen heim. Unterwegs begegneten sie demselben Alten.

«Guten Tag, wackere Burschen!»

«Guten Tag, Großväterchen!»



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«Woher des Weges?»

«Aus der Stadt vom Schmied, wir wollten uns Säbel kaufen, aber solche, wie wir brauchen, gibt es nicht!»

«Das ist schlimm. Soll ich jedem einen Säbel schenken?»

«Ach, Großväterchen, wenn du das tust, werden wir immer Gott für dich bitten.»

Der Alte führte sie zu einem großen Berge, öffnete eine eiserne Tür und brachte jedem einen mächtigen Säbel. Sie nahmen die Säbel, dankten dem Greis und wurden fröhlichen Herzens.

Zu Hause fragte die Mutter: «Nun, Kinderchen, kauftet ihr euch Säbel?»

«Gekauft haben wir uns keine, aber wir bekamen sie geschenkt.»

«Wo habt ihr sie?»

«Sie lehnen an der Hütte.»

«Wenn sie aber jemand hinwegträgt?»

«Nein, Mütterchen, die stiehlt keiner, die sind viel zu schwer!»

Die Mutter ging hinaus und betrachtete die Säbel. Sie waren groß und redcenhaft und drückten beinahe die Mauer der Hütte ein.

Da weinte die Mutter: «Ihr werdet ,weiß Gott, nicht meine Ernährer sein!»

Am nächsten Morgen sattelten die beiden Johannes Soldatensöhne ihre Pferde, ergriffen ihre Säbel und nahmen Abschied von der Mutter: «Mutter, gib uns deinen Segen mit auf den weiten Weg!»

«Kinder, mein-mütterlicher Segen möge immer über euch bleiben! Reitet mit Gott, zeigt euch und seht euch die Leute an! Nehmt nicht jeden zum Freunde, tut niemandem ein Leid und weichet niemals vor dem Feind!»

«Fürchte dich nicht, Mütterchen, wir bleiben unserm Grundsatz treu: Wir reiten und reiten und pfeifen dazu, und kommt der Feind, so schlagen wir zu.»

Die wackeren Jünglinge stiegen zu Pferde und ritten fort. Ob es kurz war oder lang, ob es nah war oder fern, schnell ist ein Märchen erzählt, nicht so schnell die Tat getan. Sie kamen schließlich an einen Kreuzweg, dort standen zwei Pfosten. Auf dem einen Pfosten stand geschrieben: «Wer rechts reitet, wird König.» Auf dem andern: «Wer links reitet, wird getötet.»

Die Brüder blieben stehen, lasen die Inschriften und überlegten, wohin sie reiten sollten. Wenn beide nach der rechten Seite ritten, war es nicht ruhmvoll für ihre ritterliche Kraft und ihren Wagemut, aber links reiten und sterben wollte auch keiner von ihnen. Doch sie mußten sich entscheiden. Da sagte der eine: «Bruder, ich bin stärker als du, ich reite nach links und will sehen, wie der Tod ist. Reite du nach rechts, vielleicht macht Gott dich zum König!»

Sie nahmen Abschied voneinander. Jeder gab dem andern ein Tüchlein und schwor, auf seinem Wege überall Zeichen aufzustellen. Jeden Morgen



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sollte jeder sein Gesicht mit dem Tüchlein abreiben. Zeigte sich Blut darin, so bedeutete es den Tod des anderen. Dann sollte der Überlebende den andern suchen gehen.

Sie ritten also nach verschiedenen Seiten. Der, welcher sein Pferd nach der rechten Seite gehen ließ, kam in ein herrliches Reich. Dort lebten ein König und eine Königin mit ihrer Töchter, Anastasia, der Wunderschönen. Der König sah Johannes, den Soldatensohn, gewann ihn lieb, weil er so kühn war, und gab ihm ohne Zaudern seine Tochter zur Frau.

Er nannte ihn Johannes Königssohn und übertrug ihm die Verwaltung seines Reiches. Johannes Königssohn lebte in Freude und Herrlichkeit; er liebte seine Frau, hielt das Reich in Ordnung und ging auf die Jagd.

Als er wieder einmal jagen gehen wollte und seinem Roß den Zaum umlegte, fand er in den Satteltaschen zwei Bläschen, das eine mit heilendem Wasser, das andere mit Wasser des Lebens. Er betrachtete sie, steckte sie wieder an ihre Stelle zurück und sagte: «Ich will sie aufbewahren, bis die Stunde kommt, da ich sie brauche.»

Sein Bruder Johannes Soldatensohn, der den Weg nach links eingeschlagen hatte, war Tag und Nacht ohne Rast und Ruh geritten - einen Monat, zwei Monate, drei Monate. Schließlich kam er in ein fremdes Land und gerade in die Hauptstadt hinein. Dort herrschte große Trauer. Die Häuser waren mit schwarzem Tuch verhängt, und die Menschen gingen wie im Traum einher. Bei einer alten Frau ging er zur Herberge und fragte sie: «Sage, Mütterchen, warum trauert das ganze Volk, warum sind die Häuser mit schwarzem Tuch verhangen?»

«Ach, guter Jüngling, großes Unglück hat uns getroffen! Jeden Tag steigt aus dem blauen Meer, hinter dem grauen Stein, ein zwölfköpfiger Drache hervor und verschlingt einen Menschen. Heute ist der König an der Reihe. Er hat drei wunderschöne Töchter. und die älteste hat man eben ans Meer gefahren, dem Drachen zum Fraß.»

Johannes Soldatensohn bestieg sein Roß und ritt ans Meer zu dem grauen Stein. Da stand die schöne Königstochter mit eisernen Ketten angeschmiedet. Als sie den Ritter erblickte, rief sie ihm zu: «Geh fort von hier, wackerer Held, gleich kommt der Drache, um mich zu verschlingen, er soll nicht auch dich noch verderben!»

«Fürchte dich nicht, schöne Jungfrau, vielleicht wird er sich an mir verschlucken!»

Er nahm die Ketten mit starker Hand und zerriß sie, als wären es mürbe Bindfäden. Dann legte er den Kopf in ihren Schoß und sprach: «Nun suche mir meinen Kopf ab, aber sieh so oft auf das Meer wie auf meinen Kopf. Und wenn sich eine Wolke erhebt, der Sturm tost und das Meer erbebt, dann wecke mich getrost auf, schöne Jungfrau!»



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Sie gehorchte ihm und sah so oft auf das Meer wie auf seinen Kopf. Plötzlich erhob sich eine Wolke, der Wind stürmte, das Wasser toste, und der Drache hob sich aus dem blauen Meer. Die Jungfrau weckte den Ritter, er sprang auf und bestieg sein Roß. Da flog der Drache herbei und rief: «Hänschen, warum kamst du hierher? Das ist mein Platz! Nimm Abschied von der weiten Welt und steige in meinen Schlund - da wird es dir wohl sein!»

«Du lügst, verfluchter Drache, du wirst mich nicht verschlingen, du wirst an mir ersticken!»

Der Held zog seinen scharfen Säbel, schwang ihn und hieb dem Untier die zwölf Köpfe ab. Dann hob er den grauen Stein auf, legte die Köpfe darunter und warf den Leichnam ins Meer.

Er ging nach Hause, aß und trank, legte sich schlafen und schlief drei Tage und drei Nächte lang. Unterdessen rief der König einen Wasserträger zu sich und sprach: «Nimm dein Wägelchen, geh ans Meer und sammle die Gebeine der Königstochter!»

Der Wasserträger fuhr ans blaue Meer und fand die Königstochter am Leben. Kein Leid war ihr geschehen. Er setzte sie auf seinen Wagen, führte sie tief in einen dichten, dunklen Wald und begann, sein Messer zu schärfen.

«Was willst du tun?» fragte die Königstochter. «Ich schärfe mein Messer, um dich zu erstechen!»

Da weinte sie und sprach: «Erstich mich nicht, ich tat dir nichts Böses!»

«Wenn du dem König sagst, daß ich dich von dem Drachen befreit habe, übe ich Gnade an dir.»

Sie konnte sich nicht anders helfen und willigte ein. Als sie ins Schloß zurück kam und der König sie sah, freute er sich so über ihre Heimkehr, daß er den Wasserträger zum Hauptmann machte.

Als Johannes, der Soldatensohn, erwachte, gab er der Alten Geld und bat:

«Alte, geh auf den Markt, kaufe, was nötig ist, und höre, was die Leute reden. Vielleicht gibt es etwas Neues.»

Die Alte lief auf den Markt, kaufte Vorräte ein, hörte, was die Leute redeten, lief wieder heim und sprach: «Im Volke geht das Gerücht, daß der König ein großes Gastmahl gab. Königssöhne, Bojaren und viele andere große Männer saßen an der Tafel, als ein glühender Pfeil durchs Fenster in die Mitte des Saales flog. Daran hing der Brief eines zwölfköpfigen Drachen, und der Drache schrieb: Wenn du mir nicht deine zweite Tochter gibst, verheere ich dein Reich mit Feuer und zerstreue die Asche im Wind. Und heute noch führen sie die Arme ans blaue Meer zum grauen Stein.»

Johannes, der Soldatensohn, setzte sich sofort auf sein braves Roß und jagte ans Meer. Da rief die Königstochter: «Weshalb kommst du, wackerer Held? Die Reihe, den Tod zu leiden, ist an mir. Mein warmes Blut wird fließen, warum willst auch du dabei sterben?»



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«Fürchte dich nicht, schöne Jungfrau, vielleicht rettet dich Gott!»

Kaum hatte er das gesagt, da kam der Drache geflogen. Feuerschnaubend drohte er Tod. Aber der Ritter schwang seinen Säbel und schlug ihm mit einem Streiche alle zwölf Köpfe ab. Die Köpfe verbarg er unter dem Stein, den Leib warf er ins Meer und ritt nach Hause. Er aß und trank und schlief drei Tage und drei Nächte lang.

Wieder kam der Wasserträger gefahren und fand die Königstochter lebend und gesund. Er setzte sie auf sein Wägelchen, fuhr in den dunklen Wald und wetzte sein Messer.

«Warum schleifst du dein Messer?»

«Ich schleife mein Messer, um dich zu erstechen, aber wenn du schwörst, deinem Vater zu sagen, was ich verlange, dann verschone ich dich!»

Die Königstochter schwor es. Der Wasserträger führte sie zum Hofe. Der König freute sich über alle Maßen und machte ihn zum General.

Nach drei Tagen erwachte Johannes, der Soldatensohn, und schickte die Alte auf den Markt, um Neuigkeiten zu hören. Die Alte lief fort und kehrte bald zurück: «Nun hat ein dritter Drache Botschaft gesandt, daß der König die dritte und jüngste Tochter ausliefern müsse.»

Johannes, der Soldatensohn, sattelte sein braves Roß und jagte an das blaue Meer. Am Ufer stand die Jungfrau mit eisernen Ketten an den Stein gefesselt. Der Held faßte die Ketten und zerriß sie wie mürbe Bindfäden. Dann legte er das Haupt auf ihre Knie: «Suche mir den Kopf ab, aber blicke so oft auf das Meer wie auf meinen Kopf, und wenn sich eine Wolke erhebt, der Sturm tost und das Meer erbebt, dann wecke mich auf!»

Die Königstochter suchte seinen Kopf ab. Da erhob sich eine Wolke, der Sturm brauste, das Meer bebte, und aus dem Wasser hob sich der Drache und fing an, den Hügel zu erklimmen. Die Königstochter versuchte, Johannes, den Soldatensohn, zu wecken, aber wie sehr sie ihn auch rüttelte, sie konnte ihn nicht erwecken. Da weinte sie bitterlich, und ihre heißen Tränen fielen auf seine Wangen, so daß er endlich erwachte. Schnell lief er zu seinem Roß, das hatte die Erde schon zwei Ellen tief aufgewühlt. Der zwölfköpfige Drache kam geflogen, und das Feuer stob aus seinem Rachen: «Schön bist du, junger Ritter, und gewiß zu etwas nütze, aber du hast die längste Zeit gelebt! Ich fresse dich auf bis aufs letzte Knöchelchen!»

«Du lügst, verfluchter Drache, du wirst an mir ersticken!»

Ein tödlicher Kampf begann. Johannes schwang so oft und so schnell seinen Säbel, daß das Eisen glühte, kaum vermochte er ihn noch zu halten. «Rette mich, schöne Jungfrau!» bat er die Königstochter, «nimm ab dein kostbares Tüchlein, tauche es ins blaue Meer und wickle es um meinen Säbel.»

Die Königstochter nahm ihr Tüchlein, tauchte es ins blaue Meer und gab es dem Helden. Er wickelte es um den Griff seines Säbels, schlug mit



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aller Kraft zu und hieb dem Drachen alle zwölf Köpfe ab. Die Köpfe legte er unter den grauen Stein, den Leichnam warf er ins Meer. Dann eilte er nach Hause, aß und trank, legte sich schlafen und schlief drei Tage und drei Nächte lang.

Der König sandte wieder den Wasserträger ans Meer, der nahm die Königstochter, führte sie in den dunklen Wald und begann, sein Messer zu schleifen.

«Was tust du?» fragte sie.

«Ich schärfe mein Messer, um dich zu erstechen. Sagst du aber deinem Vater, daß ich dich vom Drachen befreite, so übe ich Gnade.»

Die schöne Jungfrau fürchtete sich und schwor ihm Gehorsam.

Die jüngste Königstochter war dem König die liebste, und als er sie lebend und unversehrt sah, freute er sich noch mehr als die anderen Male. Er wollte den Wasserträger besonders belohnen und versprach ihm die jüngste Tochter zur Gemahlin. Das Gerücht durchlief das ganze Reich. Auch Johannes, der Soldatensohn, erfuhr, daß am Königshofe Hochzeit gehalten wurde und begab sich zum Schloß. Das Mahl war im Gange, die Gäste aßen und tranken und vergnügten sich.

Da erblickte die jüngste Königstochter Johannes, den Soldatensohn, und erkannte ihr Tüchlein an seinem Säbel. Sie sprang auf, ergriff ihn bei der Hand und rief: «Königlicher Vater, dieser war es, der mich vom Drachen befreite und vom Tode errettete. Der Wasserträger konnte nur sein Messer schärfen, um mich zu erstechen.»

Da erzürnte der König und befahl, den Wasserträger zu hängen. Die Königstochter aber gab er Johannes, dem Soldatensohn, zur Frau. Darüber herrschte allenthalben große Freude.

Die Neuvermählten fingen an, zusammen zu leben, und sie lebten und lebten und mehrten ihr Hab und Gut.



***
Während dieses alles geschah, ging es bei dem Bruder anders zu. Einstmals ritt er auf die Jagd und stieß auf einen schnellfüßigen Hirsch. Johannes Königssohn gab seinem Pferd einen Schlag, ritt und ritt und verfolgte den Hirsch bis auf eine große Wiese. Dort entschwand er, und Johannes wußte nicht, wohin er reiten sollte. Durch die Wiese floß ein Bächlein, darauf schwammen zwei graue Enten. Er nahm sie aufs Korn, schoß sie, legte sie in seinen Ranzen und ritt weiter. Er ritt und ritt und kam schließlich zu einem Schloß aus weißem Stein. Da stieg er ab, band sein Pferd an einen Pfosten und ging hinein. Alles war totenstill, kein einziger Mensch in den Gemächern, nur in einer Stube brannte der Herd. Eine Pfanne stand davor, und auf dem Tisch lag ein Gedeck, Teller, Gabel und Messer. Johannes Königssohn nahm die Enten aus dem Ranzen, rupfte und zupfte sie, legte sie in die



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Pfanne und schob sie in den Ofen. Als sie gebraten waren, nahm er sie heraus und begann zu essen. Auf einmal war eine Jungfrau an seiner Seite, die war so schön, so schön, daß keine Feder es beschreiben, kein Märchen es erzählen kann. «Laß es dir schmecken, Johannes Soldatensohn!»

«Willst du nicht mit mir speisen, schöne Jungfrau?»

«Ich möchte wohl, aber ich traue mich nicht, du hast ein Zauberpferd.»

«Nein, schöne Jungfrau, mein Zauberpferd steht zu Hause. Ich kam auf einem gewöhnlichen Pferde geritten.»

Als das die schöne Jungfrau hörte, fing sie an zu blasen, blies sich auf und ward zu einer fürchterlichen Löwin. Die Löwin riß ihren Rachen auf und verschlang Johannes Königssohn; denn sie war keine Jungfrau, sie war die Schwester der drei Drachen, welche Johannes, der Soldatensohn, erschlagen hatte.

In diesem Augenblick gedachte Johannes, der Soldatensohn, seines fernen Bruders. Er nahm sein Tüchlein, wischte sich ab, und siehe, das ganze Tüchlein war voller Blut. Er wurde traurig und dachte in seinem Herzen: «Was für ein Geschick! Ritt doch mein Bruder auf die gute Seite und sollte König werden, und trotzdem ereilte ihn der Tod.»

Er nahm Abschied von seiner Frau und seinem Schwiegervater und ritt auf seinem Rosse fort, den Bruder zu suchen. Ob es kurz währte oder lang, ob es nah war oder fern -endlich kam er in das Reich des Bruders. Da forschte er nach und erfuhr, daß sein Bruder auf die Jagd geritten und nicht mehr zurückgekehrt sei.

Johannes Soldatensohn ritt denselben Weg, den sein Bruder geritten war, und auch er traf auf den schnellfüßigen Hirsch. Er verfolgte ihn bis zu einer großen Wiese und verlor ihn dort aus den Augen. Durch die Wiese floß ein Bächlein, und auf dem Wasser schwammen zwei Enten. Er schoß die Enten und ritt zu dem weißen Schloß, trat in die Gemächer und fand alles leer. Nur in einer Stube brannte der Herd, und eine Pfanne stand bereit. Johannes Soldatensohn briet die beiden Entchen, trug sie in den Hof hinaus, setzte sich auf die Treppe, zerteilte sie und fing an zu essen. Wiederum erschien die schöne Jungfrau und sprach: «Lass' es dir schmecken, wackerer Held! Warum ißt du draußen im Hof?»

«Ich hatte keine Lust, da drinnen zu essen. Draußen ist es fröhlicher. Setze dich zu mir, schöne Jungfrau!»

«Mit Freuden würde ich tun, was du begehrst, aber ich fürchte dein Zauberpferd.»

«Lass' gut sein, schöne Jungfrau, ich ritt heute einen gewöhnlichen Gaul.» Sie war dumm, glaubte es, fing an, sich aufzublasen, wurde zu einer schrecklichen Löwin und wollte Johannes verschlingen.

Sein Zauberpferd aber lief herbei und trat sie mit starken Füßen nieder.



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Johannes Soldatensohn zog seinen Säbel und rief mit klingender Stimme: «Halte ein, Verfluchte, du hast meinen Bruder, Johannes Königssohn, verschlungen, gib ihn mir wieder heraus, sonst haue ich dich in Stücke!»

Die Löwin würgte und spie Johannes Königssohn aus. Er war tot und halb verwest, und sein Kopf war kahl. Johannes Soldatensohn nahm aus seiner Satteltasche die beiden Bläschen mit dem heilenden Wasser und dem Lebenswasser und besprengte den Bruder. Da wuchs das Fleisch zusammen und wurde fest und gesund. Dann besprengte er ihn mit dem Wasser des Lebens, und Johannes Königssohn stand auf und sprach: «Ach, wie habe ich so lange geschlafen!»

«Du hättest in Ewigkeit geschlafen, wenn ich nicht gewesen wäre», antwortete Johannes Soldatensohn.

Er nahm seinen Säbel und wollte der Löwin den Kopf abhauen.

Aber sie verwandelte sich wieder in eine liebliche Jungfrau und war so schön, so überaus schön, daß man es nicht erzählen kann. Und sie fichte bitterlich weinend um Vergebung. Als er ihre unbeschreibliche Schönheit sah, hatte Johannes Soldatensohn Erbarmen und gab ihr die Freiheit.

Die Brüder ritten heim ins königliche Schloß und gaben ein Festmahl, das drei Tage lang währte. Danach nahmen sie Abschied voneinander. Johannes Königssohn blieb in seinem Reiche; Johannes Soldatensohn kehrte heim zu seiner Gemahlin und lebte weiter mit ihr in Liebe und Eintracht.

Als einige Zeit vergangen war, erging sich einmal Johannes Soldatensohn im freien Feld. Da trat ihm ein kleines Kind entgegen und bat um eine Gabe. Johannes hatte Mitleid, nahm ein Goldstück aus seiner Tasche und reichte es ihm. Das Kind nahm es, fing an, sich aufzublasen, verwandelte sich in einen Löwen und zerriß Johannes Soldatensohn in Stücke.

Einige Zeit danach geschah Johannes Königssohn dasselbe: Er erging sich in seinem Garten. Da kam ihm ein alter Mann entgegen, verneigte sich tief vor ihm und bat um ein Almosen. Der Königssohn gab ihm ein Goldstück. Der Alte nahm es, fing an, sich aufzublasen und verwandelte sich in einen Löwen, packte den Königssohn und riß ihn in Stücke.

So kamen die großen, mächtigen Helden um. Der Drachen Schwester überwältigte sie.


Copyright: arpa, 2015.

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