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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM NÄCHTLICHEN ABENTEUER DES KALIFEN'

Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kalif Harûn er-Raschîd eines Nachts immerfort wachen mußte; und als er am Morgen sich erhob, kam Unruhe über ihn. Darum waren auch die Leute seiner Umgebung beunruhigt; denn das Volk folgt gern der Weise des Fürsten: es freut sich sehr, wenn er sich freut, und ist sorgenvoll, wenn er sich sorgt, wiewohl es den Grund nicht kennt, weshalb er so gestimmt ist.



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Alsbald aber sandte der Beherrscher der Gläubigen nach Masrûr, dem Eunuchen; und als der zu ihm kam, tiefer: ,Hole mir meinen Wesir, den Barmekiden Dscha'far, ohne Zögern und Zaudern!' So ging denn jener fort und kehrte mit dem Minister zurück; und da dieser den Herrscher allein fand, was wahrlich selten geschah, und, als er näher trat, erkannte, daß er sich in düsterer Stimmung befand und nicht einmal seine Augen hob, so blieb er stehen, bis sein Gebieter geruhen würde, ihn anzublicken. Schließlich warf der Beherrscher der Gläubigen einen Blick auf Dscha'far; doch er wandte sein Haupt sogleich wieder ab und saß regungslos da, wie zuvor. Da nun der Wesir im Antlitz des Kalifen nichts gewahrte, was ihn selber anging, so faßte er sich Mut und redete ihn mit diesen Worten an: .O Beherrscher der Gläubigen, will deine Hoheit mir gnädigst gestatten zu fragen, woher diese Traurigkeit kommt?' Da antwortete der Kalif ihm mit einer freundlicheren Stirn: ,O Wesir. diese Stimmungen haben mich letzthin gequält; und ich kann mich ihrer nur dadurch erwehren, daß ich seltsame Geschichten und Verse höre. Drum, falls du jetzt nicht mit dringenden Geschäften kommst, so wirst du mich erfreuen, wenn du mir etwas erzählst, um meine Traurigkeit zu verscheuchen.' ,O Beherrscher der Gläubigen,' erwiderte der Wesir, ,mein Amt zwingt mich, stets dir zu dienen, und so möchte ich dich daran erinnern, daß dies der Tag ist, der dafür bestimmt wurde, daß du dich über die gute Verwaltung deiner Hauptstadt und ihrer Umgebung unterrichtest. Dies wird, so Gott will, deinen Geist ablenken und seine trübe Stimmung verscheuchen.' Der Kalif gab zur Antwort: ,Du tust recht daran, mich zu erinnern; denn ich hatte es ganz vergessen. Drum geh und wechsle deine Kleider, während ich das gleiche mit den meinen tue.' Alsbald legten beide die Gewänder von fremden Kaufleuten an und gingen



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hinaus durch eine geheime Tür des Palastgartens, die auf die Felder führte. Nachdem sie dann am Saume der Stadt entlang geschritten waren, erreichten sie das Ufer des Euphrats' in einiger Entfernung von dem Tore, das auf jener Seite lag, ohne daß sie irgendwelche Gesetzwidrigkeit bemerkt hätten. Dann fahren sie über den Fluß in dem ersten Fährboot, das sie fanden; und nachdem sie auf der anderen Seite einen zweiten Rundgang gemacht hatten, kamen sie über die Brücke, durch die beide Hälften der Stadt Baghdad miteinander verbunden werden. Am Ende der Brücke fanden sie einen blinden Alten, der sie um ein Almosen bat; da wandte der Kalif sich um und legte ihm einen Dinar auf die Hand. Der Bettler aber ergriff seine Hand und hielt ihn fest, indem er sprach: ,O Wohltäter, wer du auch sein magst, du, dem Allah es eingab, mir ein Almosen zu reichen, versage mir nicht die Gunst, um die ich dich bitte, und die ist, daß du mir einen Backenstreich gibst, denn ich verdiene eine solche Züchtigung, ja, eine noch größere!' Nach diesen Worten ließ er die Hand des Kalifen los, damit sie ihn schlagen könnte; aber aus Furcht, der Fremde möchte weitergehen, ohne es getan zu haben, hielt er ihn an seinem langen Gewande fest. Der König jedoch, überrascht von den Worten und dem Tun des Blinden, erwiderte: ,Ich kann dir deine Bitte nicht erfüllen, und ich will auch nicht das Verdienst meiner Mildtätigkeit verringern, indem ich dich behandle, wie du möchtest, daß ich an dir tun soll.' Mit diesen Worten suchte er von dem Blinden loszukommen; jener aber, der nach seiner langen Erfahrung diese Weigerung seines Wohltäters erwartet hatte, tat sein Äußerstes, um ihn festzuhalten, und rief: ,O mein Herr, verzeih meine Kühnheit und meine Hartnäckigkeit! Ich flehe dich an, daß du mir entweder einen



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Backenstreich gibst oder dein Almosen zurücknimmst; denn ich darf es nur unter der Bedingung annehmen, wenn ich nicht einen feierlichen Eid brechen will, den ich vor dein Angesichte Allahs geschworen habe. Und wenn du den Grund wüßtest, so würdest du mir darin beipflichten, daß die Strafe wahrlich gering ist.' Der Kalif nun, der nicht länger aufgehalten werden mochte, gab dem Drängen des Blinden nach und versetzte ihm. einen leichten Streich; darauf ließ jener ihn sofort los und dankte ihm und segnete ihn. Nachdem der Kalif und der Wesir sich eine kleine Strecke von dem Blinden entfernt hatten, rief der erstere aus: ,Dieser blinde Bettler muß wirklich einen guten Grund haben, daß er sich in dieser Weise allen gegenüber benimmt, die ihm Almosen geben, und ich würde gern darum wissen. Kehre zu ihm zurück und sage ihm, wer ich bin, und befiehl ihm auch, nicht zu versäumen, daß er in meinem Palaste um die Zeit des Nachmittagsgebetes erscheine, auf daß ich mit ihm rede und höre, was er zu sagen hat!' Darauf ging Dscha'far zurück, reichte dem Blinden ein Almosen, indem er ihm gleichfalls einen Backenstreich gab, machte ihn mit dem Befehl des Kalifen bekannt und kehrte sogleich zu seinem Herrn zurück. Als die beiden nun die Stadt erreichten, fanden sie auf einem Platze eine ungeheure Menge Volks, die auf einen schönen und wohlgestalteten Jüngling schaute; der ritt auf einer Stute, die er in rasender Eile um den offenen Platz jagte, indem er das Tier so grausam spornte und peitschte, daß es von Schweiß und Blut bedeckt war. Als der Kalif dies sah, war er entsetzt über die Roheit des Jünglings, und er blieb stehen, um die Anwesenden zu fragen, ob sie wüßten, weshalb er die Stute in solcher Weise quälte und folterte; aber er konnte nur erfahren, daß jener seit einiger Zeit jeden Tag um dieselbe Stunde sie in derselben Weise behandelte.



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Wie sic dann weiterschritten, gebot der Kalif dem Wesir, sich den Platz genau zu merken und dem Jüngling zu befehlen, daß er am nächsten Tage unweigerlich zu kommen habe, und zwar zu der Stunde, die für den Blinden bestimmt war. Doch ehe der Kalif noch seinen Palast erreichte, sah er in einer Straße, durch die er seit vielen Monaten nicht mehr gekommen war, ein neuerbautes Haus, das ihm der Palast eines großen Herrn im Lande zu sein schien. Er fragte den Wesir, ob er den Besitzer kenne; doch Dscha'far erwiderte, er kenne ihn nicht, darum wolle er sich erkundigen. So fragte dieser denn einen Nachbarn, und der erzählte ihm, daß der Hausbesitzer ein gewisser Chawâdscha Hasan sei, der nach seinem Gewerbe den Beinamen el-Habbâl' habe; er selber hätte den Mann in den Tagen seiner Armut bei der Arbeit gesehen, aber er wisse nicht, wie Glück und Geschick ihm hold geworden seien; doch dieser Chawâdscha habe solch übermäßigen Reichtum erworben, daß er imstande gewesen sei, alle die Ausgaben, die er auf sich genommen, als er das Haus baute, ehrlich und reichlich zu bezahlen. Dann kehrte der Wesir zum Kalifen zurück und erstattete ihm genauen Bericht über alles, was er gehört hatte. Da rief der Beherrscher der Gläubigen: ,Ich muß diesen Chawâdscha Hasan el-Habbâl sehen! Drum geh du, o Wesir, und sage ihm, er solle in meinen Palast kommen zur selben Stunde, die du den anderen beiden angegeben hast.' Der Minister führte den Befehl seines Herrn aus; und am nächsten Tage nach dem Nachmittagsgebet zog sich der Kalif in sein eigenes Gemach zurück. Dann führte Dscha'far die drei Männer, von denen wir gesprochen haben, herein und stellte sie dem Kalifen vor. Alle drei warfen sich vor seinen Füßen nieder, und als sie sich wieder erhoben hatten, fragte der Beherrscher der Gläubigen



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den Blinden nach seinem Namen; der antwortete, er heiße Baba Abdullah'. ,O Knecht Allahs,' rief der Kalif, ,deine Art, wie du gestern um Almosen batest, schien mir so absonderlich, daß ich dir deine Bitte nicht gewährt hätte, wäre es nicht um gewisser Erwägungen willen geschehen; ja, ich hätte dich gehindert, fürderhin beim Volk Anstoß zu erregen. Jetzt aber habe ich dich hierher entboten, um von dir selbst zu erfahren, was dich veranlaßt hat, jenen voreiligen Eid zu schwören, von dem du mir erzählt hast, auf daß ich besser beurteilen kann, ob du recht oder übel daran getan hast, und ob ich dulden soll, daß du in einem Tun beharrst, das meiner Meinung nach ein so verderbliches Beispiel geben muß. Sage mir offen, wie ein so unsinniger Gedanke dir in den Kopf kommen konnte, und verbirg mir nichts; denn ich will die Wahrheit, die volle Wahrheit erfahren!' Baba Abdullah, erschrocken durch diese Worte. warf sich ein zweites Mal vor den Füßen des Kalifen mit dem Gesicht auf den Boden; und als er sich wieder erhoben hatte, sprach er: ,O Beherrscher der Gläubigen, ich flehe deine Hoheit um Vergebung an für meine Kühnheit, dieweil ich zu fordern wagte, ja, fast von dir erzwang, daß du etwas tatest, was wirklich dem gesunden Verstande zu widersprechen scheint. Ich gestehe meine Schuld ein; aber da ich deine Hoheit zu jener Zeit nicht kannte, so flehe ich deine Milde an, und ich bitte dich, du wollest meine Unkenntnis deines hocherhabenen Ranges bedenken. Was nun die Absonderlichkeit meines Tuns angeht, so gebe ich gern zu, daß es den Menschenkindern seltsam erscheinen muß; aber in den Augen Allahs ist es nur eine geringe Strafe, die ich mir selbst auferlegt habe um eines ungeheuren Verbrechens willen, dessen ich schuldig bin



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und fur das es noch keine hinreichende Sühne wäre, wenn alle Menschen der Welt samt und sonders mir einen Backenstreich geben würden. Deine Hoheit soll selbst darüber urteilen, wenn ich deinem Befehle gemäß meine Geschichte erzählt und dir darin mitgeteilt habe, welcher Art mein Vergehen war.' Und nun begann er zu erzählen


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