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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DAS MÄRCHEN VOM UNSTERBLICHEN KNOCHENMANN

In einem Herrscherreich waren und lebten einmal ein König und eine Königin. Ihnen wurde ein Kind geboren, Königssohn Johannes. Die Kinderfrauen wiegten ihn, schaukelten ihn hin und her, aber der Königssohn konnte nicht schlafen. «König, großmächtiger Herrscher», rufen sie dem Vater zu, «kommt und wiegt selber euren Sohn!»

Der König schaukelt die Wiege: «Schlaf, Söhnchen schlaf! Wenn du groß geworden bist, vermähle ich dich mit der Unaussprechlichen Schönheit, an der niemand sich satt sehen kann - mit der Unaussprechlichen Schönheit, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

Der Königssohn schlief ein und schlief drei Tage und drei Nächte lang. Als er erwachte, schrie er ärger als zuvor. Die Kinderfrauen wiegten ihn, aber sie konnten ihn nicht in Schlaf wiegen. Sie rufen den Vater: «König, großmächtiger Herrscher, kommt und wiegt selber euren Sohn!»

Der König wiegt und spricht vor sich hin: «Schlaf, Söhnchen schlaf! Wenn du groß geworden bist, vermähle ich dich mit der Unaussprechlichen Schönheit, an der niemand sich satt sehen kann - mit der Unaussprechlichen Schönheit, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

Der Königssohn schlief ein, und wieder schlief er drei Tage und drei Nächte lang. Aber dann erwachte er und schrie noch mehr. Die Kinderfrauen wiegten ihn, aber sie konnten ihn nicht in Schlaf wiegen. «König, großmächtiger Herrscher, kommt und wiegt selber euren Sohn!»

Der König wiegt und spricht vor sich hin: «Schlaf, Söhnchen schlaf! Wenn du groß geworden bist, vermähle ich dich mit der Unaussprechlichen Schönheit, an der niemand sich satt sehen kann - mit der Unaussprechlichen



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Schönheit, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

Der Königssohn schlief ein und schlief abermals drei Tage und drei Nächte lang. Dann erwachte er und sprach: «Väterchen, gib mir deinen Segen, ich gehe auf Freite!»

«Was ist mit dir, Kindchen, bist ja erst neun Tage alt!»

«Gibst du mir deinen Segen, so fahre ich, gibst du ihn nicht, so fahre ich auch.»

«Nun, so fahre mit Gott», sprach der König und segnete ihn. Königssohn Johannes rüstete sich zur Reise und ging aus, um sich das rechte Pferd dafür zu holen. Als er schon recht weit gegangen war, begegnete ihm ein alter Mann: «Wohin des Weges, gehst du freiwillig oder unfreiwillig?»

«Ich habe keine Lust, mit dir zu reden», antwortete der Königssohn und ging weiter. Dann aber besann er sich: Warum habe ich dem Alten nichts gesagt? Alte Leute bringen einen zum Nachdenken. «Warte, Großväterchen, wonach hast du mich gefragt?»

«Wohin des Weges, habe ich gefragt, und ob du freiwillig gehst oder unfreiwillig?»

«Ich gehe freiwillig, zweimal soviel aber unfreiwillig. Als ich noch klein war, wiegte mich der Vater in der Wiege, versprach mir die Unaussprechliche Schönheit zur Gemahlin, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

«Du bist recht, und höflich ist deine Antwort. Doch wirst du dein Ziel nimmer zu Fuß erreichen, denn die Unaussprechliche Schönheit lebt weit, weit von hier.»

«Wie weit denn?» fragte der Königssohn.

«Am Ende der weiten Welt, im goldenen Reich, wo die Sonne aufgeht.»

«Was soll ich tun, Großväterchen, ich finde kein Pferd, auf dem noch niemand geritten ist, und auch kein seidenes Peitschlein, das noch niemand benutzt hat?»

«Du findest kein Pferd? Dein Vater besitzt dreißig Pferde, alle einander gleich. Geh heim, befiehl den Knechten, die Pferde am blauen Meer zu tränken. Das Pferd, das sich allen vorandrängt, bis zum Kopf ins Wasser geht, und anhebt zu trinken - im blauen Meer werden sich dabei Wellen erheben und von einem Ufer zum anderen wallen - das Pferd sollst du nehmen!»

«Dank für den guten Rat, Großväterchen», sagte der Königssohn, tat, wie der Alte ihn gelehrt hatte und erwählte sich sein Heldenroß. In der Nacht schlief er tief, am andern Morgen brach er auf, öffnete weit die Tore und wollte fort reiten.



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Da sprach das Pferd mit menschlicher Stimme: «Königssohn Johannes, wirf dich auf die Erde, ich will dich zuerst einmal stoßen!» Das Pferd stieß ihn einmal, zweimal -aber kein drittes Mal: «Würde ich dich zum dritten Mal stoßen, die Erde könnte uns beide nicht mehr tragen!»

Königssohn Johannes nahm das Pferd aus den Ketten, zäumte und sattelte es, schwang sich in den Sattel und ritt davon, gerade noch sah ihn der König -.

Er ritt weit, weit fort. Der Tag wurde kürzer, die Nacht rückte heran, da lag ein Hof vor ihm, so groß wie eine Stadt, eine Hütte stand darin, so hoch wie ein Turm. Er ritt in den Hof, geradewegs bis vor die Stufen. Dort band er das Roß an einen kupfernen Ring. Dann trat er durch den Flur in die Hütte. Zuerst betete er zu Gott, dann bat er um Nachtlager. «Wohin führt dich Gott?» fragte die Alte, «übernachte, guter Jüngling.»

«Ach, du Alte, du fragst so unhöflich. Erst gib mir zu essen und bereite mir das Lager. Dabei magst du mich fragen!»

Die Alte tat nach seinen Worten, gab ihm zu essen und zu trinken und richtete das Lager. Dann fing sie wieder zu fragen an.

«Als ich ein kleines Kind war, wiegte mich mein Vater in der Wiege. Er versprach mir die Unaussprechliche Schönheit zur Gemahlin, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

«Du bist ein braver, junger Held, gibst höflich Antwort. Das siebte Jahrzehnt lebe ich zu Ende, aber von der Unaussprechlichen Schönheit habe ich nie gehört. Weiter auf dem Weg wohnt meine Schwester, vielleicht weiß sie es. Und nun schlafe, o Königssohn. Der Morgen ist weiser als der Abend.»

Der Königssohn schlief eine Nacht. Am Morgen stand er auf, wusch sich weiß und rein, führte sein Pferd hinaus, sattelte es und legte den Fuß in den Steigbügel. Er ritt weit, weit hinaus. Er ritt hoch, hoch hinauf. Der Tag wurde kürzer, die Nacht rückte heran. Da lag ein Hof vor ihm, so groß wie eine Stadt. Eine Hütte stand darin, so hoch wie ein Turm. Er ritt in den Hof, bis vor die Stufen. Dort band er sein Pferd an den silbernen Ring. Dann trat er durch den Flur in die Hütte. Er betete zu Gott und bat um ein Nachtlager.

«Fuh, fuh», rief die Baba Jaga, «noch nie habe ich einen russischen Knochen gerochen, noch keinen gesehen und von keinem gehört, und jetzt kommt er von selber auf meinen Hof! Woher des Weges, Königssohn Johannes?»

«Ach, altes Weib, was sagst du fuh fuh, und warum fragst du so unhöflich? Gib mir lieber zu essen und zu trinken und ein Lager für die Nacht, danach kannst du mich fragen.»

Sie setzte ihn an den Tisch, gab ihm zu essen und zu trinken und richtete



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das Lager. Dann setzte sie sich zu seinen Häupten und sprach: «Wohin führt dich Gott?»

«Mütterchen, als ich noch klein war, wiegte mich der Vater in der Wiege, versprach mir die Unaussprechliche Schönheit zur Gemahlin, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester.»

«Du bist recht, wackerer Jüngling», sagte die Alte, «du sprichst höflich, gibst ehrfürchtig Antwort. Das achte Jahrzehnt lebe ich zu Ende, aber von der Unaussprechlichen Schönheit habe ich nie gehört. Weiter auf dem Weg wohnt meine älteste Schwester, vielleicht weiß sie davon. Sie hat viele, die ihr Auskunft geben müssen. Die ersten, die ihr Antwort geben, sind die Tiere des Waldes, die zweiten die Vögel in der Luft, und die dritten sind die Fische und Untiere des Meeres. Alles auf der weiten Welt ist ihr untertan. Reite morgen zu ihr. Aber jetzt sollst du schlafen, der Morgen ist weiser als der Abend.»

Königssohn Johannes schlief eine Nacht. Früh stand er auf, wusch sich weiß und rein, sattelte sein Roß und -fort war er.

Er ritt weit, weit hinaus, er ritt hoch, hoch hinauf. Der Tag wurde kürzer, die Nacht rückte heran. Da lag ein Hof vor ihm, so groß wie eine Stadt, eine Hütte stand darin, so hoch wie ein Turm. Er ritt in den Hof, bis vor die Stufen. Dort band er sein Pferd an den goldenen Ring. Dann trat er durch den Flur in die Hütte. Er betete zu Gott und bat um ein Nachtlager.

«Ach, du so und so», schrie die Baba Jaga, «keinen eisernen Ring bist du wert und an den goldenen bindest du dein Pferd?»

«Schon recht, Großmütterchen, schilt nicht, das Pferd kann man losmachen und an einen anderen Ring binden.»

«Na, junger Mann, hat dir die Alte eins gegeben? Fürchte dich nicht, setze dich aufs Bänkchen, ich will dich fragen. Sage mir, woher du stammst, aus welchen Städten du kommst?»

«Ach, Großmütterchen, zuerst sollst du mir zu essen und zu trinken geben, dann magst du mich fragen. Du siehst ja, der Mensch kommt von der Reise, und hat den ganzen Tag nichts gegessen.»

Sofort stellte die Alte einen Tisch hin, brachte Salz und Brot, goß Branntwein ins Glas, und fing an, den Königssohn zu bewirten. Er aß und trank, warf sich aufs Lager und erzählte ihr alles.

«Als ich noch klein war, wiegte mich der Vater in der Wiege. Versprach mir die Unaussprechliche Schönheit zur Gemahlin, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester. Sage mir, Mütterchen, tu mir die Liebe an - wo lebt die Unaussprechliche Schönheit, wie kann ich zu ihr gelangen?»

«Das weiß ich selber nicht, o Königssohn. Mein neuntes Jahrzehnt lebe



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ich schon zu Ende, aber von dieser Schönheit habe ich noch nie gehört. Nun schlafe mit Gott! Morgen früh rufe ich alle meine Hörigen zusammen, vielleicht weiß es einer von ihnen.»

Am andern Tage stand die Alte früh auf, wusch sich weiß und rein und trat mit dem Königssohn auf die Schwelle. Sie rief wie ein Held und pfiff wie ein Jüngling über das Meer hin: «Ihr Fische und alle Untiere des Meeres, sammelt euch hierher!» Sogleich fing das blaue Meer an zu wallen und zu wogen. Die großen und die kleinen Fische und alle Tiere der Tiefe sammelten sich und bedeckten das Wasser bis ans Ufer. «Wo lebt die Unaussprechliche Schönheit, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester?»

Da antworteten alle Fische und alle Untiere des Wassers mit einer Stimme: «Mit den Augen haben wir sie nie gesehen, mit den Ohren nie von ihr gehört.»

Da rief die Alte hinauf zum Himmelszelt: «Sammelt euch, ihr Vögel in der Luft!» Die Vögel kamen geflogen, bedeckten das Himmelszelt. «Wo lebt die Unaussprechliche Schönheit, dreier Mütter Tochter, dreier Großmütter Großtochter, von neun Brüdern die Schwester?» «Mit den Augen haben wir sie nie gesehen, mit den Ohren nie von ihr gehört.»

«Nun bleibt niemand mehr zu befragen», sagte die Alte, nahm den Königssohn bei der Hand und führte ihn in die Hütten Kaum waren sie eingetreten, da kam der Mogol geflogen und fiel nieder zur Erde. Es wurde dunkel, und in den Fenstern erlosch das Licht. «O Mogol, Lebensvogel, wo warst du, wo flogst du, daß du dich so verspätet hast?»

«Ich habe die Unaussprechliche Schönheit für die Heilige Handlung geschmückt.»

«Das brauche ich jetzt, Vogel Mogol, tue mir einen Dienst, trage den Königssohn Johannes dahin!»

«Gerne diene ich dir», antwortete der Vogel Mogol, «aber es braucht viel Wegzehrung.»

«Wieviel denn brauchst du?»

«Drei Maß Fleisch, das Maß zu vierzig Eimern, und einen Bottich Wasser.»

Der Königssohn füllte einen Bottich mit Wasser. Er erhandelte Rinder, schlachtete sie und füllte drei Maß mit Fleisch und lud sie dem Vogel auf. Dann ging er zum Schmied und schmiedete sich eine lange Lanze aus Eisen. Darauf kehrte er zurück und nahm Abschied von der Alten: «Leb wohl, Mütterchen, füttere mein gutes Roß, ich werde dir alles lohnen.»

Er setzte sich auf den Rücken des Vogels, und schon erhob sich Mogol in die Lüfte und flog davon. Der Vogel flog und wendete den Kopf unaufhörlich



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zurück. Sobald er zurückschaute, reichte ihm Johannes ein Stück Fleisch auf der Lanzenspitze. Sie flogen eine Zeitlang, zwei Maß waren verfüttert, das dritte schon angebrochen. Da sprach der Königssohn zum Vogel: «Vogel Mogol, laß dich auf die feuchte Erde fallen, wenig bleibt dir zur Nahrung!»

«Was fällt dir ein», sprach der Vogel, «da unten sind undurchdringliche Wälder und grundlose Sümpfe. Bis zum Ende der Zeiten würden wir leiden.» Der Königssohn hatte alles Fleisch verfüttert und stieß die leeren Fässer hinab. Der Vogel Mogol flog und wandte sich um.

«Was soll ich tun?» dachte Johannes. Er schnitt seine beiden Waden heraus und gab sie dem Vogel zum Fraß. Der Vogel verschlang sie - und flog hin zu grünen Wiesen, zu seidenen Gräsern, zu blauen Blumen. Da ließ er sich nieder auf die Erde. Johannes stieg herab und bewegte seine Glieder, aber er hinkte auf beiden Beinen.

«Was hast du, Königssohn, du hinkst doch nicht?»

«Doch, Vogel Mogol, ich hinke. Ich habe meine beiden Waden herausgeschnitten und dich damit gefüttert. Deshalb hinke ich.»

Da würgte der Vogel die Waden heraus, legte sie auf die Beine und spie darauf. Die Waden wuchsen an, und der Königssohn schritt wieder kraftvoll und rüstig aus wie zuvor.

Er kam in eine große Stadt. Bei einem alten Mütterchen vom Hinterhof blieb er, um auszuruhen. Spricht zu ihm das Mütterchen vom Hinterhof: «Schlafe, Königssohn Johannes, beim ersten Glockenschlag wecke ich dich auf!»

Der Königssohn legte sich hin und schlief alsobald ein. Er schläft den Tag, er schläft die Nacht. Die Glocken läuteten zum Frühgottesdienst, das Mütterchen vom Hinterhof kommt gelaufen und fängt an, ihn zu wecken. Sie schlägt mit allem auf ihn ein, was ihr nur in die Hände kommt. Aber es gelingt ihr nicht, ihn zu wecken.

Der Frühgottesdienst verging; die Glocken läuteten zur Messe. Die Unaussprechliche Schönheit fuhr zur Kirche. Wieder kommt das alte Mütterchen vom Hinterhof gelaufen, fängt an, ihn zu wecken, mit allem, was ihr zur Hand kommt, schlägt sie auf den Schlafenden ein. Mit Mühe und Not weckt sie ihn auf.

Schnell sprang Johannes auf, wusch sich weiß und rein, kleidete sich schmuck und fein und ging zum Gottesdienst. Er trat in das Gotteshaus, betete vor den Heiligenbildern, verbeugte sich nach allen vier Himmelsrichtungen und insbesondere vor der Unaussprechlichen Schönheit. So standen sie nebeneinander und beteten zu Gott. Am Ende der Heiligen Handlung trat sie als erste unter das Kreuz. Er folgte als zweiter hinter ihr drein.

Danach schritt er über die Schwelle und sah auf das blaue Meer. Da kamen sechs Schiffe, sechs Helden kamen gefahren, um die Königstochter zu



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freien. Sie erblickten den Königssohn Johannes, fingen an zu lachen: «Du kropfiger Bauer, steht dir so eine Schönheit zu? Nicht ihren kleinen Finger bist du wert!» Sie sagten es einmal, sie sagten es zweimal. Als sie es zum drittenmal sagten, kränkte sich der Königssohn. Er winkte mit der einen Hand - da entstand eine Gasse, er winkte mit der anderen Hand - rundherum war alles wie reingefegt. Er selber ging zum Mütterchen vom Hinterhof.

«Nun, Königssohn Johannes, hast du die Unaussprechliche Schönheit gesehen?»

«Ich habe sie gesehen und werde sie in Ewigkeit nicht vergessen!»

«Nun, so lege dich schlafen. Morgen wird sie wieder zur Messe gehen. Beim ersten Glockenschlag wecke ich dich auf.»

Der Königssohn legte sich hin. Er schläft den Tag, er schläft die Nacht. Die Glocken läuteten zur Frühmesse, und die Alte vom Hinterhof kommt gelaufen. Sie versucht, ihn zu wecken, mit allem, was ihr zur Hand kommt, schlägt sie auf ihn ein - nein, er erwacht nicht. Es läutete zur Mittagsmesse, und wieder schlug sie ihn und weckte ihn. Endlich sprang er auf, wusch sich weiß und rein, warf sich in schmucke Kleider und lief zur Kirche. Er trat zu den Heiligenbildern, verneigte sich nach allen vier Himmelsrichtungen, insbesondere aber vor der Unaussprechlichen Schönheit. Sie schaute ihn an und errötete. So standen sie nebeneinander und beteten zu Gott. Am Ende der heiligen Handlung trat sie als erste unter das Kreuz, er folgte als zweiter hinter ihr drein.

Dann schritt er über die Schwelle und sah auf das blaue Meer. Da fahren Schiffe herbei. Zwölf Helden kommen gefahren, fangen an, um die Unaussprechliche Schönheit zu freien. Sie spotten über den Königssohn: «Du kropfiger Bauer, steht dir so eine Schönheit zu? Nicht ihren kleinen Finger bist du wert!»

Die Reden kränkten den Königssohn. Er winkte mit der einen Hand, da entstand eine Gasse, er winkte mit der anderen Hand - rundherum war alles wie rein gefegt. Er selber ging zum Mütterchen vom Hinterhof.

«Nun, hast du die Unaussprechliche Schönheit gesehen?»

«Ich habe sie gesehen und werde sie in Ewigkeit nicht vergessen!»

«So schlafe, morgen früh wecke ich dich wieder auf.»

Der Königssohn legte sich hin. Er schläft den Tag, er schläft die Nacht. Als die Glocken zur Frühmesse läuten, kommt die Alte vom Hinterhof gelaufen, um ihn zu wecken. Sie schlägt und schlägt auf ihn ein, wie sich's trifft, ohne Erbarmen, aber er erwacht nicht. Bis die Glocken zur Mittagsmesse läuten müht sie sich, und endlich gelingt es ihr doch.

Flink sprang der Königssohn auf, wusch sich, kleidete sich schmuck und eilte zur Kirche. Er betete zu den Heiligenbildern und verneigte sich nach



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allen vier Himmelsrichtungen und besonders vor der Unaussprechlichen Schönheit. Sie grüßte ihn und stellte ihn zu ihrer Rechten. Selbst stand sie zur Linken. So standen sie und beteten zu Gott. Diesmal trat er am Ende der heiligen Handlung als erster unter das Kreuz, sie folgte als zweite hinter ihm drein.

Dann schritt er über die Schwelle und sah auf das blaue Meer. Da kommen Schiffe gefahren, vierundzwanzig Helden kommen gefahren, fangen an, um die Unaussprechliche Schönheit zu freien. Sie verspotten den Königssohn: «Du kropfiger Bauer, steht dir so eine Schönheit zu?» Sie umringen den Königssohn, suchen ihm die Braut zu entreißen. Der Königssohn hielt es nicht aus, er winkte mit der einen Hand, da entstand eine Gasse, er winkte mit der anderen Hand - rundherum war alles wie reingefegt, er hatte sie bis zum Letzten erschlagen. Die Unaussprechliche Schönheit nahm ihn an der Hand und führte ihn in ihre Gemächer. Sie setzte ihn an die eichenen Tische mit den gemusterten Tischtüchern. Sie bewirtete ihren Gast, nannte ihn ihren Bräutigam und erwies ihm reiche Gastfreundschaft.

Bald darauf machten sie sich auf den Weg und fuhren in das Reich des Königssohn Johannes. Sie fuhren und fuhren - auf freiem Feld machten sie Halt, um auszuruhen. Die Unaussprechliche Schönheit legte sich schlafen, und Königssohn Johannes bewachte ihren Schlaf. Nun hat sie sich ausgeschlafen, ist wieder aufgewacht, und der Königssohn spricht zu ihr: «Unaussprechliche Schönheit, hüte du meinen weißen Leib, denn auch ich will schlafen!»

«Und wie lange wirst du schlafen?»

«Neun Tage und neun Nächte werde ich mich nicht von einer Seite auf die andere drehen, wenn du mich wecken willst - du kannst mich nicht wecken. Kommt die Zeit, so erwache ich von selber.»

«So lange, Königssohn? Da werde ich mich nach dir sehnen!»

«Ob lang oder nicht lang, es muß so sein!»

Er legte sich nieder und schlief genau neun Tage und neun Nächte. Während dieser Zeit aber kam der unsterbliche Knochenmann und trug die Unaussprechliche Schönheit fort in sein Reich.

Der Königssohn erwachte aus dem Schlaf, schaute um sich, die Unaussprechliche Schönheit war fort. Da fing er an zu weinen. Dann ging er weiter ohne Weg und Steg. Ob es lang war oder nicht so lang -endlich kam er in das Reich des unsterblichen Knochenmannes. Dort bat er ein altes Weiblein um Rast.

«Was gehst du so traurig einher?»

«Großmütterchen, so und so ist es mir ergangen. Alles habe ich besessen, alles habe ich verloren.»



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«Schlecht steht es um deine Sache, Königssohn Johannes. Den Knochenmann kannst du nicht umbringen.»

«Wenigstens anschauen will ich meine Braut, die Unaussprechliche Schönheit.»

«Nun, so lege dich hin und schlafe, morgen zieht der Knochenmann in den Krieg.»

Königssohn Johannes legte sich hin, aber an Schlaf dachte er nicht. Frühmorgens zog der Knochenmann zum Hofe hinaus. Königssohn Johannes ging in den Hof hinein, trat vor das Haus und klopfte ans Tor. Die Unaussprechliche Schönheit öffnete, schaute hinaus und weinte. Dann gingen sie in die Stube, setzten sich an den Tisch und fingen an zu reden. Und der Königssohn belehrte sie: «Frage den unsterblichen Knochenmann: Wo ist dein Tod?»

«Gut, ich werde ihn fragen.»

Kaum war Johannes vom Hofe fortgegangen, so kam der unsterbliche Knochenmann in den Hof: «Hier riecht's nach einem russischen Knochen, sicher war der Königssohn Johannes bei dir!»

«Was fällt dir ein, unsterblicher Knochenmann! Wie sollte ich den Königssohn sehen? Er blieb ja zurück in den dunklen Wäldern, in den grundlosen Sümpfen, gewiß haben ihn mittlerweile die wilden Tiere zerrissen.» Sie setzten sich zum Nachtmahl. Während des Nachtmahls fragte die Unaussprechliche Schönheit: «Sage mir, unsterblicher Knochenmann, wo ist dein Tod?»

«Mußt du das wissen, du törichtes Weib? Mein Tod ist in den Reisigwisch gebunden.»

Frühmorgens ritt der Knochenmann wieder in den Krieg.

Der Königssohn kam zur Unaussprechlichen Schönheit, nahm den Reisigbesen und überzog ihn mit hellem, reinem Golde. Kaum war der Königssohn weggegangen, da kam der Knochenmann auf den Hof: «Ah, hier riecht's nach einem russischen Knochen, sicher war der Königssohn Johannes bei dir!»

«Was fällt dir ein, unsterblicher Knochenmann! Flogst ja selber durch Rußland, nahmst in dich auf den russischen Geist, du riechst nach russischem Geist. Wie sollte ich denn den Königssohn sehen? Er blieb ja zurück in den dunklen Wäldern, in den grundlosen Sümpfen; gewiß haben ihn mittlerweile die wilden Tiere zerrissen.»

Die Zeit zum Nachtmahl kam. Die Unaussprechliche Schönheit setzte sich auf einen Stuhl, den Knochenmann ließ sie auf der Bank sitzen. Da schaute er zur Schwelle -dort lag der vergoldete Besen.

«Was ist das?» fragte der Knochenmann.

«Ach, unsterblicher Knochenmann, du siehst doch selber, wie ich dich ehre. Da du mir teuer bist, so ist es auch dein Tod.»



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«Törichtes Weib, ich habe nur gescherzt, mein Tod hängt draußen im Eichenzaun.»

Frühmorgens ritt der Kochenmann fort. Der Königssohn Johannes kam und vergoldete den ganzen Zaun. Am Abend kehrte der unsterbliche Knochenmann zurück: «Ah, hier riecht's nach einem russischen Knochen, sicher war der Königssohn Johannes bei dir!»

«Was fällt dir ein, unsterblicher Knochenmann. Hab ich dirs nicht oft genug gesagt? Flogst ja selber durch Rußland, nahmst in dich auf den russischen Geist. Du riechst nach russischem Geist! Wie soll ich denn den Königssohn sehen? Blieb er doch zurück in den dunklen Wäldern, in den grundlosen Sümpfen. Sicher haben ihn längst die wilden Tiere zerrissen.»

Sie setzten sich zum Nachtmahl nieder. Die Unaussprechliche Schönheit setzte sich selbst auf die Bank. Ihm gab sie den Stuhl. Der Knochenmann blickte durchs Fenster. Da steht der vergoldete Zaun, brennt wie Feuerlohe. «Was ist das?»

«Unsterblicher Knochenmann, du siehst doch selber, wie ich dich ehre, da du mir teuer bist, so ist es mir auch dein Tod!»

Diese Rede gefiel dem Knochenmann: «Ach, du törichtes Weib, ich habe nur gescherzt. Mein Tod ist im Ei. Das Ei ist im Entchen, das Entchen im Wurzelstock. und der Wurzelstock schwimmt im Meer.»

Sobald am Morgen der Knochenmann in den Krieg gezogen war, brachte die Unaussprechliche Schönheit dem Königssohn weißes gutes Brot und erzählte ihm, wo man den Tod des Knochenmannes zu suchen habe.

Der Königssohn Johannes machte sich auf und wanderte fort, wanderte ohne Weg und Steg, bis er ans breite, weite Meer kam. Da wußte er nicht mehr, wohin er gehen solle. Das Brot war längst aufgezehrt. Es gab nichts mehr zu essen. Plötzlich flog ein Habicht daher. Königssohn Johannes zielte: «Nun hab ich dich, Habicht, ich schieße dich herab und esse dich, wie du bist!»

«Iß mich nicht, Königssohn Johannes, zur rechten Stunde werde ich dir nützlich sein!»

Ein Bär lief des Weges daher: «Krummpfotiger Michel, ich erschlage dich, und esse dich, wie du bist!»

«Iß mich nicht, Königssohn Johannes, zur rechten Stunde werde ich dir nützlich sein!»

«Sieh, da zittert ein Hecht am Ufer!»

«Oh, du vielzahniger Hecht, habe ich dich, so esse ich dich, wie du bist!»

«Iß mich nicht, Königssohn Johannes, wirf mich lieber ins Meer, zur rechten Stunde werde ich dir nützlich sein.»

Da stand der Königssohn und dachte bei sich: Wann wird die rechte Stunde wohl kommen? — noch muß ich bitteren Hunger leiden. Auf einmal



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wallte das blaue Meer auf, die Wasser wogten und ergossen sich über die Ufer. Der Königssohn stürzte den Berg hinauf. Er lief aus aller Kraft; aber das Wasser jagte ihm nach, bis an die Fersen. Endlich erreichte er den Gipfel und stieg auf einen Baum. Nach einer Weile fielen die Wasser. Das Meer wurde still und legte sich. Am Ufer tauchte ein großer Baumstumpf auf. Der Bär kam gelaufen, packte den Wurzelstock und schlug ihn so gegen die Erde, daß er auseinanderbrach. Ein weißes Entchen flog heraus und schwang sich hoch in die Luft. Plötzlich tauchte von irgendwoher der Habicht auf, stürzte sich auf das Entchen und zerriß es in zwei Stücke. Aus dem Entchen fiel das Ei und fiel mitten ins Meer. Dort erschnappte es der Hecht, schwamm zum Ufer und brachte es dem Königssohn. Der verbarg das Ei an seiner Brust und ging zum unsterblichen Knochenmann.

Er kam zu ihm in den Hof, da traf ihn die Unaussprechliche Schönheit, küßte ihn auf den Mund und lehnte sich an seine Schulter. Der Knochenmann aber saß am Fenster und drohte: «Königssohn Johannes, willst du mir die Unaussprechliche Schönheit fortnehmen, so bist du des Todes!» «Du selbst hast sie mir fortgenommen», antwortete der Königssohn. Er nahm das Ei aus dem Brustlatz und hielt es dem Knochenmann entgegen: «Was ist das?»

Das Licht des Tages verging dem Knochenmann. Er wurde still und fügte sich. Königssohn Johannes ließ das Ei von einer Hand in die andere fallen, immer schneller. Da fiel der unsterbliche Knochenmann in sich zusammen und starb.

Kostbare Schätze fand der Königssohn im Hause des Knochenmanns. Er spannte Pferde vor einen goldenen Wagen, nahm ganze Säcke voll Silber und Gold mit und fuhr mit seiner Braut, der Unaussprechlichen Schönheit, heim zum leiblichen Vater. Ob es lang war oder nicht so lang - sie kamen zu derselben Alten, die alle Tiere befragen konnte, die Fische, die Vögel und die Tiere des Waldes. Als der Königssohn sein Roß wiedersah, rief er: «Gott sei gelobt, mein Rappe lebt!» Und überschüttete die Alte mit Gold für des Pferdes Futter und Pflege. Und wenn sie noch einmal neunzig Jahre lebte, das wird sie nicht verleben.

Dann rüstete er einen Boten aus und schickte ihn mit einem Brief zum König: «Väterchen, komme deinem Sohn entgegen, ich komme mit meiner Braut, der Unaussprechlichen Schönheit!»

Der Vater erhielt den Brief, las ihn und traute kaum seinen Augen: Wie kann das sein, Johannes ritt fort, da war er nur neun Tage alt! Hinter dem Boten kam schon der Königssohn gefahren. Der König sah, daß sein Sohn die Wahrheit geschrieben hatte, lief hinaus auf die Freitreppe ihm entgegen und befahl, die Trommel zu schlagen und Musik zu spielen.

«Väterchen, segne mich zur Hochzeit!»



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Und da man bei Königen nicht erst Bier zu brauen braucht und Wein zu keltern, denn von allem haben sie in Fülle, so wurde noch am selben Tage die Hochzeit mit einem fröhlichen Festmahl gefeiert, und der Königssohn Johannes wurde mit der Unaussprechlichen Schönheit vermählt. Auf allen Wegen standen große Fässer mit allerlei Getränken, und ein jeder konnte hinzutreten und trinken, soviel die Seele verlangte.

Auf jener Hochzeit bin ich auch gewesen und habe Honigmet und Wein getrunken. Es floß mir über den Bart, doch nicht in meinen Mund. Aber in meinem Herzen wurde ich trunken und satt.


Copyright: arpa, 2015.

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