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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE DREI WELTREICHE

In längst vergangenen Zeiten, als Gottes Welt noch von Waldgeistern, Nixen und Hexen bevölkert war, als die Flüsse noch voll Milch waren und die Ufer aus Roter Grütze, und als noch über die Felder die gebratenen Birkhühner flogen, in dieser Zeit lebte der König Erbse mit seiner Gemahlin, Anastasia der Schönen. Und sie hatten drei Söhne.

Eines Tages geschah ein schweres Unglück: ein böser Geist entführte die schöne Königin. Da sprach der älteste Sohn zum Vater: «Väterchen, gib mir deinen Segen, ich will fortreiten und mein Mütterchen suchen!» Er ritt davon, und drei Jahre lang sah und hörte man nichts mt dr von ihm.

Danach ging der zweite Sohn zum Vater und bat: «Väterchen, gib mir deinen Segen, ich will mein Glück versuchen und mein Mütterchen und mei



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nen Bruder finden. Vielleicht gelingt es mir.» Der König gab ihm seinen Segen, der Königssohn ritt davon, und auch er verschwand, als ob er in ein tiefes Wasser gefallen wäre.

Da sprach der jüngste Sohn, Johannes, zu seinem Vater: «Mein Väterchen, gib mir deinen Segen, und lass' mich auf die weite Reise gehen, vielleicht werde ich das Mütterchen und die beiden Brüder finden.»

«Fahre, mein Sohn», sprach der Vater, und der Königssohn Johannes ritt in ferne, fremde Länder. Er ritt und ritt und kam ans blaue Meer. Dort blieb er am Ufer stehen und sagte zu sich selbst: «Wohin soll ich meinen Weg nehmen?»

Auf einmal kamen dreiunddreißig Schwäne geflogen, die warfen sich auf die feuchte Erde und verwandelten sich in Jungfrauen von großer Schönheit, eine davon aber war schöner als alle. Sie warfen ihre Kleider ab, sprangen ins Wasser und badeten. Ob sie lange badeten oder nicht so lang -als sie so im Wasser spielten, schlich Königssohn Johannes hinzu, nahm den Gürtel der allerschönsten Jungfrau und verbarg ihn hinter seinem Brustlatz. Als die Jungfrauen gebadet hatten, kamen sie ans Ufer, um sich anzukleiden, aber siehe, es fehlte ein Gürtel. «Ach, Königssohn Johannes, gib mir doch mein Gürtelchen zurück!»

«Sage mir zuerst, wo mein Mütterchen ist!»

«Dein Mütterchen lebt bei meinem Vater, und mein Vater ist der Rabe Rabensohn. Geh' am Ufer des Meeres entlang, da wird dir ein silbernes Vöglein mit einem goldenen Schöpfchen über den Weg fliegen. Sieh, wohin es fliegt, und folge ihm nach!»

Der Königssohn gab der Jungfrau das Gürtelchen zurück. Er ging am Meere entlang, da kamen ihm seine beiden Brüder entgegen. Sie begrüßten einander, und Johannes nahm sie mit sich, und sie wanderten am Ufer weiter. Auf einmal sahen sie das silberne Vöglein mit dem goldenen Schöpfchen fliegen und folgten seiner Spur. Das Vöglein flog und flog, plötzlich aber stieß es herab und verschwand unter einer eisernen Platte in einem Spalt in der Erde. «Nun, Brüder», sagte Johannes, «gebt mir den Segen an Vaters und Mutters Statt, ich werde mich in dieses Loch hinunterlassen und erfahren, wie die Welt des fremden Glaubens aussieht, und ob unser Mütterchen sich dort befindet.» Die Brüder segneten ihn, und er fing an, sich an einem Seile in die tiefe Schlucht hinunterzulassen. Tief und immer tiefer ging es hinab, und es dauerte nicht mehr und nicht weniger als gerade drei Jahre lang.

Er erreichte die fremde Erde und setzte seinen Weg fort. Er ging und ging, ging und ging und erblickte mit einem Male das kupferne Weltreich. Dort stand ein Schloß, und in dem Schlosse saßen dreiunddreißig Schwanenjungfrauen und stickten, sie bestickten die leinenen Handtücher mit kunstvollen Mustern, stickten kleine Städtchen und Vorstädtchen darauf.



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«Guten Morgen, Königssohn Johannes, wohin gehst du, wohin führt dich dein Weg?» fragte die Königstochter des kupfernen Weltreiches.

«Ich gehe, um mein Mütterchen zu suchen!»

«Dein Mütterchen ist bei meinem Vater, dem Raben Rabensohn, der ist listig und weise, der fliegt über Berge und Täler, über Abgründe und Wolken. Er wird dich wackeren Jüngling töten! Aber hier hast du ein Knäuelchen, gehe ihm nach zu meiner mittleren Schwester, sprich mit ihr und höre, was sie dir wohl sagen mag. Und wenn du zurückkehrst, dann vergiß mich nicht!»

Der Königssohn Johannes rollte das Knäuelchen und ging hinter ihm her. Und so kam er in das silberne Weltreich. Drinnen saßen dreiunddreißig Schwanenjungfrauen, und die Königstochter des silbernen Reiches sprach: «Bis heute habe ich den russischen Geist nicht mit Augen gesehen, nicht mit Ohren gehört, und jetzt erscheint der russische Geist vor meinen Augen! Königssohn Johannes, scheust du die Tat, oder suchst du sie?»

«Ach, schöne Jungfrau, ich gehe, um mein Mütterchen zu suchen.»

«Dein Mütterchen ist bei meinem Vater, dem Raben Rabensohn, der ist listig und weise, der fliegt über Berge und Täler, über Abgründe und Wolken. Königssohn Johannes, er wird dich töten! Aber hier hast du ein Knäuelchen, folge ihm zu meiner jüngsten Schwester, die wird dir sagen, ob du weitergehen sollst oder umkehren.»

Königssohn Johannes kam in das goldene Reich. Und auch dort saßen dreiunddreißig Schwanenjungfrauen und bestickten die leinenen Handtücher. Aber größer und schöner als alle war die Königstochter des goldenen Reiches. So groß war ihre Schönheit, daß man es nicht mit einer Feder beschreiben, nicht in einem Märchen erzählen kann. Und sie sprach zu ihm: «Wohin gehst du? Wohin führt dich dein Weg?»

«Ich gehe, um mein Mütterchen zu suchen.»

«Dein Mütterchen ist bei meinem Vater, dem Raben Rabensohn, der ist listig und weise, er fliegt über Berge und Täler, er schießt dahin über Wolken und Sterne. O Königssohn, er wird dich töten! Hier hast du ein Knäuelchen, folge ihm und gehe in das Perlenreich hinein, dort lebt dein liebes Mütterchen. Wenn die Mutter dich erblickt, wird sie sich von Herzen freuen. Sie wird sogleich ihre Ammen und Wärterinnen rufen und ihnen befehlen: Kredenzt meinem Sohne den jungen Wein! Den jungen Wein aber sollst du nicht nehmen; bitte um den dreijährigen Wein, der im Schranke steht, und um eine gebähte Brotrinde dazu. Und. noch eins merke dir: achte darauf, daß bei meinem Vater auf dem Hofe zwei Bottiche stehen, in dem einen ist starkes Wasser, in dem anderen weniger starkes. Du mußt die Bottiche vertauschen und schnell von dem starken Wasser trinken.

Der jüngste Königssohn und die jüngste Königstochter sprachen lange



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miteinander und gewannen sich so lieb, daß sie gar nicht ans Scheiden denken wollten. Aber was sollte man machen -der Königssohn Johannes mußte weiter wandern. Also nahm er Abschied und begab sich auf seinen Weg.

Er ging und ging und kam ins Perlenreich. Als die Mutter ihn erblickte, freute sie sich gar sehr und rief: «Ihr Ammen und Wärterinnen, kredenzt meinem Sohne den jungen Wein!»

«Ich trinke keinen jungen Wein», sprach der Königssohn Johannes. «Gebt mir den dreijährigen und als Imbiß dazu ein gebähtes Krüstchen Brot!» Er trank den Wein und aß das Brot und trat hinaus auf den weiten Hof. Dort stellte er die Bottiche um und trank das starke Wasser.

Auf einmal kam der Rabe Rabensohn angeflogen, heller als der hellste Tag. Als er aber Johannes, den Königssohn, erblickte, ward er dunkler als die dunkelste Nacht. Er stieß herab auf den Bottich und fing an, von dem schwächeren Wasser zu trinken. Königssohn Johannes sprang geschwind auf seine Schwingen. Der Rabe Rabensohn schnellte hoch, hoch zum Himmel hinauf und trug ihn mit sich. Er trug ihn über Berge und Täler, über Abgründe und Wolken. Endlich hub er zu fragen an: «Was willst du von mir, Königssohn Johannes, willst du meinen Kronschatz haben? Ich gebe ihn dir.»

«Nichts will ich von dir haben», erwiderte Johannes, «gib mir nur dein Stabfederchen.»

«O nein, Königssohn Johannes», antwortete der Rabe, «da setzt du dich in einen zu weiten Schlitten!»

Und wieder flog der Rabe mit ihm über Berge und Täler, über Wolken und Klüfte. Königssohn Johannes aber hielt sich fest, legte sich mit ganzer Schwere auf den Raben und zerbrach ihm fast die Schwingen. «Brich mir meine Schwingen nicht entzwei!» rief der Rabe Rabensohn, «nimm lieber mein Stabfederchen!» Er gab dem Königssohn die Stabfeder, wurde ein ganz gewöhnlicher Rabe und flog auf die steilen Berge hinauf.

Königssohn Johannes gelangte ins Perlenreich, nahm sein Mütterchen mit und trat den Rückweg an. Er schaute sich um und sah: Das Perlenreich wickelte sich zu einem Knäuelchen zusammen und rollte hinter ihm her. Er ging weiter und kam zum goldenen Reich und danach zum silbernen und endlich zum kupfernen Weltreich. Überall nahm er die schönen Königstöchter mit sich, und jedes der drei Weltreiche knäuelte sich zusammen und rollte hinter ihm her. So kamen sie alle miteinander zu jener Stelle, wo das Seil herabhing. Dort blies Königssohn Johannes in ein goldenes Horn und rief: «Meine lieben Brüder, wenn ihr noch lebt, dann verratet mich nicht!» Die Brüder hörten das Horn, zogen am Seil und zogen die Königstochter aus dem kupfernen Reiche herauf. Als sie die schöne Jungfrau sahen, fingen sie an zu streiten, keiner wollte sie dem anderen gönnen.



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«Warum streitet ihr, wackere Jünglinge? Unten wartet eine Jungfrau, die ist noch schöner als ich.»

Die Brüder ließen sogleich die Seile hinab und zogen die Königstochter aus dem silbernen Reiche herauf. Als sie die erblickten, fingen sie wieder an zu streiten und schlugen aufeinander los. «Mir gehört sie!» sagte der eine. «Nein, sie soll mein sein!» rief der andere.

«Zankt euch nicht, wackere Jünglinge, da unten ist eine andere, die ist weit schöner als ich!»

Da hörten die Königssöhne auf zu streiten, ließen schnell die Seile hinab und zogen die goldene Jungfrau herauf. Kaum erblickten sie die schöne Königstochter, so stritten sie noch viel mehr. Sie aber sprach: «Hört auf zu streiten, unten wartet eure Mutter!» Da zogen sie sogleich die Mutter herauf, und dann ließen sie die Stricke noch einmal hinab für den Königssohn Johannes. Als sie ihn aber bis zur Hälfte heraufgezogen hatten, schnitten sie die Stricke durch, und Johannes fiel wieder ins Grundlose hinab. Und er zerschlug sich so sehr, daß er ein halbes Jahr lang ohne Besinnung lag.

Als er endlich wieder zu sich kam, schaute er um sich und erinnerte sich an alles, was mit ihm geschehen war. Er holte aus der Tasche die Stabfeder und schlug damit auf die Erde. In demselben Augenblicke erschienen zwölf Jünglinge und sprachen: «Was wünschest du, Königssohn Johannes? Befiehl!»

«Tragt mich sofort hinauf in die freie Welt!»

Die Jünglinge griffen ihm unter die Arme und trugen ihn hinaus in die freie Welt.

Königssohn Johannes erkundigte sich nach seinen Brüdern und erfuhr, daß sie beide längst vermählt waren. Die Königstochter aus dem kupfernen Reich hatte den mittleren Bruder geheiratet, die Königstochter aus dem silbernen Reich den älteren; doch seine eigene Erwählte, die Königstochter aus dem goldenen Reiche, wollte nicht freien.

Nun hatte sich aber der Vater, der alte König, in den Kopf gesetzt, selbst die Jungfrau aus dem goldenen Reiche zu nehmen. Er rief alle seine Räte zusammen und beschuldigte seine Gemahlin, daß sie mit bösen Geistern Umgang gehabt hätte. Und er befahl, ihr den Kopf abzuschlagen. Als dies geschehen war, fragte er die Königstochter aus dem goldenen Reiche: «Willst du dich mit mir vermählen?»

«Nur dann werde ich es tun», antwortete die Jungfrau, «wenn du mir Schuhe machst, ohne Maß zu nehmen.»

Da ließ der König überall ausrufen, wer für die Jungfrau Schuhe anfertigen könne, ohne Maß zu nehmen.

Gerade zu dieser Zeit kehrte der Königssohn Johannes in sein Reich zurück. Als er von dem Aufruf hörte, verdingte er sich zu einem alten Mann



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als Handwerker. «Geh zum König, Großväterchen, und nimm die Arbeit an!» sagte er zu ihm. «Ich werde die Schuhe schon nähen, sage aber nichts von mir!»

Der alte Mann ging zum König und sprach: «Ich bin bereit, diese Arbeit zu machen!»

Der König gab ihm Zeug für ein Paar Schuhe und fragte: «Wirst du sie auch zu meiner Zufriedenheit machen, Alter?»

«Hab' keine Angst, o König, mein Sohn ist ein guter Schuhmacher.»

Als der Alte heimkam, gab er dem Königssohn das Zeug. Johannes nahm es, schnitt es in kleinste Stückchen und warf alles aus dem Fenster. Dann wickelte er aus dem goldenen Knäuelchen das goldene Reich, nahm die fertigen Schuhe heraus und sprach: «Großväterchen, nimm sie und bringe sie dem König!»

Der König freute sich sehr und fing an, die Braut von neuem zu bedrängen: «Wann gehen wir zur Vermählung?» Sie aber antwortete ihm: «Nur dann, wenn du mir ein Kleid machst, ohne Maß zu nehmen.»

Der König tat sich um, rief alle Meister des Reiches zusammen, damit sie für die goldene Jungfrau ein Kleid nähen möchten, ohne Maß zu nehmen, und bot ihnen viel Gold dafür.

«Großväterchen, geh hin zum König», sagte Johannes zu dem Alten, «nimm den Stoff, ich werde das Kleid nähen. Aber du darfst mich nicht verraten!»

Der Alte schleppte sich zum Schloß, ließ sich Samt und Seide geben, kehrte zurück und gab es dem Königssohn. Der Königssohn ergriff sofort die Schere, schnitt den Stoff in kleine Stückchen und warf alles aus dem Fenster. Dann wickelte er aus dem Knäuelchen das goldene Reich, nahm daraus das schönste Kleid und gab es dem Alten. «Hier, Alter, bring es schnell ins Schloß!»

Der König wußte vor Freude nicht, was er tun sollte. «Nun, meine geliebte Braut, ist es Zeit, zur Vermählung zu fahren!» Aber die Königstochter aus dem goldenen Reich antwortete ihm: «Nur dann werde ich mich mit dir vermählen, wenn du den Befehl gibst, den Sohn jenes alten Mannes in Milch zu kochen!»

Der König dachte nicht lange nach und gab sofort den Befehl. Noch am selben Tage brachte man von jedem Hofe einen Eimer Milch, goß ihn in einen großen Kupferkessel und fing an, die Milch auf starkem Feuer zu kochen. Man holte Königssohn Johannes herbei, er nahm von allen Abschied und verbeugte sich tief, tief bis zur Erde. Dann warf man ihn in den Kessel. Er tauchte unter, einmal und noch einmal - sprang heraus und war ein so wunderbar schöner Jüngling geworden, daß man es nicht mit der Feder beschreiben, ja, nicht einmal in einem Märchen erzählen kann.



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«Wen soll ich nun heiraten?» sagte die Jungfrau zum König, «dich, den Alten, oder diesen tapferen Jüngling?»

Der König dachte bei sich: «Wenn ich in der Milch baden würde, käme ich vielleicht als ein ebenso schöner Mensch heraus.» Er warf sich in den Kessel -aber siehe: er zerkochte in der Milch.

Johannes aber fuhr mit der Königstochter aus dem goldenen Reiche zur Vermählung. Die Hochzeit wurde gefeiert, und sie fingen an, miteinander zu leben, und sie lebten und lebten und mehrten ihr Hab und Gut.


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