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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DIE DREI KÖNIGREICHE DAS KUPFERNE, DAS SILBERNE UND DAS GOLDENE

Es waren und lebten ein Alter und eine Alte. Sie hatten drei Söhne: Der erste hieß Georg der Brausekopf, der zweite Michael der Tollpatsch, der dritte Johannes hinter dem Ofen.

Vater und Mutter gedachten, sie zu verheiraten und schickten zuerst den ältesten Sohn auf Brautschau. Er ging und ging eine lange, lange Zeit, aber wie viele Mädchen er auch anschaute, er konnte sich keine als Braut erwählen, denn sie mißfielen ihm alle. Da traf er auf dem Wege eine Drachenschlange mit drei Köpfen, und er erschrak.

«Guter Mann, wohin gehst du?» fragte die Drachenschlange.

«Ich ging aus, um zu freien, kann aber keine Braut finden.»

Die Drachenschlange sprach: «Komm mit mir, ich werde dich führen. Ob du wohl eine Braut gewinnst?»

Sie gingen und gingen, bis sie zu einem großen Stein kamen. «Wälze den Stein weg», sagte der Drache, «dann wirst du bekommen, was du dir wünschest.»

Georg der Brausekopf bemühte sich, den Stein beiseite zu wälzen, konnte aber nichts machen.

«So gibt es für dich keine Braut», sagte die Drachenschlange zu ihm.

Georg der Brausekopf kehrte nach Hause zurück und erzählte Vater und Mutter von allem. Vater und Mutter bedachten und überdachten noch einmal alles, was zu tun sei, und schickten den mittleren Sohn, Michael den Tollpatsch, fort. Aber diesem geschah das Gleiche.

Wieder dachten der Alte und die Alte nach, wußten nicht, was zu tun sei: «Wenn man Johannes hinter dem Ofen schickt, so wird der erst recht nichts ausrichten!» Aber Johannes hinter dem Ofen begann selber zu bitten, daß er die Drachenschlange sehen dürfe. Vater und Mutter ließen es zuerst nicht zu, aber endlich gaben sie nach, und Johannes hinter dem Ofen nahm Abschied. Er ging und ging und begegnete der Drachenschlange mit den drei Köpfen.

«Guter Mann, wohin gehst du?» fragte der Drache.

«Meine Brüder wollten freien, konnten aber keine Braut finden, und jetzt ist die Reihe an mir.»

«So wollen wir gehen, ich werde dir den Weg zeigen. Vielleicht gewinnst du die Braut?»

Die Drachenschlange und Johannes gingen miteinander und kamen zu dem Stein. Die Schlange forderte ihn auf, den Stein wegzuwälzen. Johannes hinter dem Ofen rührte ihn an, und der Stein flog von der Stelle, als wäre



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er nie da gewesen. Da zeigte sich ein großes Loch in der Erde, und daneben waren Riemen angebracht.

«Johannes», sagte die Schlange, «setze dich auf die Riemen, ich werde dich hinunterlassen. Gehe dort unten weiter, bis du zu drei Königreichen kommst. In jedem Reich wirst du eine Jungfrau finden!»

Johannes ließ sich hinunter und ging los. Er ging und ging und kam zum kupfernen Königreich. Da trat er hinein und sah eine Jungfrau, die war schön aus sich selbst.

«Willkommen, nie gesehener Gast!» sagte die Jungfrau. «Tritt ein und setze dich, wo der Platz frei ist, sage mir, woher du kommst, und wohin du gehst!»

«Ach, schöne Jungfrau», erwiderte Johannes, «du speistest mich nicht, du tränktest mich nicht, und schon beginnst du zu fragen!»

Da trug die Jungfrau Speisen und Getränke auf. Johannes hinter dem Ofen aß und trank und fing an zu erzählen, daß er ausgezogen sei, um eine Braut zu suchen. «Wenn du die Güte hast, bitte ich dich, mich zu heiraten!»

«Nein, guter Mensch», antwortete die Jungfrau, «geh' weiter voran, es gibt noch ein silbernes Königreich. Darin ist eine Jungfrau, viel schöner als ich.» Und sie schenkte ihm einen silbernen Ring. Der Jüngling dankte für Salz und Brot und nahm Abschied.

Er ging und ging und kam zu dem silbernen Königreich.

Da trat er hinein und sah eine Jungfrau sitzen, schöner als die erste. Er betete zu Gott und berührte mit der Stirn den Boden. «Guten Tag, schöne Jungfrau!»

«Willkommen, junger Wandersmann! Setze dich und gib Auskunft, wessen du bist, und woher du kamst, und nach welchen Geschäften du trachtest.»

«Ach, schöne Jungfrau», sprach Johannes hinter dem Ofen, «du tränktest mich nicht, du speistest mich nicht, und schon beginnst du zu fragen!»

Da deckte die Jungfrau den Tisch mit allerlei Speisen und Getränken. Johannes hinter dem Ofen aß und trank, soviel wie er wollte, und begann zu erzählen, daß er ausgezogen sei, um eine Braut zu suchen. Und er bat sie, ihn zu heiraten. Sie aber antwortete ihm: «Geh weiter voran, es gibt noch ein goldenes Königreich, und in dem sitzt eine Jungfrau, viel schöner als ich.» Und sie schenkte ihm einen goldenen Ring. Johannes hinter dem Ofen nahm Abschied und ging weiter.

Er ging und ging und kam zu dem goldenen Königreich. Da trat er hinein und sah eine Jungfrau, schöner als alle. Er betete zu Gott, wie es sich gehört, und begrüßte die Jungfrau.

«Woher kommst du, und wohin gehst du?» fragte die Jungfrau.

«Ach, schöne Jungfrau, du tränktest mich nicht, du speistest mich nicht, und schon beginnst du zu fragen!»



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Da brachte sie allerlei Speisen und Getränke auf den Tisch, wie man sie besser nicht wünschen konnte. Johannes hinter dem Ofen bediente sich gut und fing an zu erzählen: «Ich bin auf dem Weg und suche mir eine Braut. Wenn du mich heiraten willst, so komm mit mir!» Die Jungfrau willigte ein und schenkte ihm ein goldenes Knäuel, und sie machten sich zusammen auf den Weg.

Sie gingen und gingen und kamen zum silbernen Königreich und nahmen die Jungfrau mit. Dann gingen sie weiter zum kupfernen Königreich und nahmen auch da die Jungfrau mit. Endlich kamen sie an das Loch, aus dem man hinaufsteigen mußte, und die Riemen hingen noch herab. Oben standen die älteren Brüder, wollten in das Loch hinein, um Johannes hinter dem Ofen zu suchen.

Da setzte Johannes die Jungfrau aus dem kupfernen Königreich auf die Riemen. Die Brüder begannen zu ziehen und zogen die Jungfrau heraus. Die Riemen aber ließen sie wieder hinab. Johannes hinter dem Ofen setzte die Jungfrau aus dem silbernen Reiche darauf. Auch sie wurde hinaufgezogen, und die Riemen kamen wieder herab. Dann setzte er die Jungfrau aus dem goldenen Königreich darauf, und sie wurde hinaufgezogen. Als die Riemen wieder heruntergelassen waren, setzte sich Johannes selber darauf, und die Brüder fingen an zu ziehen. Als sie aber sahen, daß Johannes hinter dem Ofen darauf saß, dachten sie bei sich: «Vielleicht gibt er uns keine der Jungfrauen, wenn wir ihn heraufziehen?» Und sie schnitten die Riemen ab, und Johannes fiel in die Tiefe.

Soviel er auch weinte, es half alles nichts, er mußte weitergehen. Er ging und ging. Da saß auf einem Baumstumpf ein Alter - selbst eine Viertel-Elle und der Bart eine Elle lang. Johannes erzählte ihm alles, wie und was ihm geschehen war. Der Alte belehrte ihn: «Geh weiter voran, dann kommst du zu einem Hüttchen, und in dem Hüttchen liegt ein Mann, der ist so lang, daß er von einer Ede in die andere reicht, den sollst du fragen, wie man herauskommen kann ins russische Reich.»

Johannes hinter dem Ofen ging und ging und kam zu jenem Hüttchen. Er trat hinein und sprach: «Starker Götze, vernichte mich nicht, sag, wie gelange ich hinaus ins russische Reich?»

«Fuh! Fuh!» rief der Götze, «niemand hat den russischen Knochen gerufen, er kam von selber. Geh du hinter dreißig Seen, dort steht auf einem Hühnerfüßchen ein Häuschen, und in dem Häuschen wohnt die Baba Jaga. Sie hat einen Adlervogel, und der wird dich hinaustragen ins russische Reich.»

Da ging der wackere Jüngling, ging und ging und kam zu jenem Häuschen und trat hinein.

«Fuh! Fuh!» schrie die Baba Jaga, «du russischer Knochen, warum kamst du hierher?»



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«Großmütterchen, ich kam auf den Rat eines starken Götzen hierher, dich um den kraftvollen, mächtigen Adler zu bitten, damit er mich hinausträgt ins russische Reich.»

«Geh in mein Vogelhaus», sagte die Baba Jaga, «an dem Tore steht ein Wächter. Nimm bei ihm die Schlüssel und geh durch sieben Türen! Wenn du die siebente Türe aufschließest, wird der Adler auffahren und sich schütteln. Und wenn du Mut hast und nicht vor ihm erschrickst, so setze dich auf seinen Rücken und fliege. Aber nimm Rindfleisch mit, und wenn er sich umschaut, gib ihm ein Stück davon!»

Johannes tat alles nach Geheiß der Baba Jaga. Dann setzte er sich auf den Adler, und der Adler flog. Er flog und und flog, sah sich um, und Johannes gab ihm ein Stück Fleisch. Er flog und flog, und immer wieder wandte der Vogel den Kopf. Allmählich war alles verfüttert, aber der Weg war noch weit. Der Adler sah sich um, es war kein Fleisch mehr vorhanden. Da schnappte er nach dem Schopfe des Jünglings, riß ein Stück Fleisch heraus und verschlang es. Dann trug er ihn aus jenem Loche hinaus ins russische Reich.

Als Johannes vom Adler stieg, würgte der Vogel das Fleisch wieder aus und befahl dem Jüngling, es an seinen Schopf zu legen. Johannes legte es an, es heilte fest, belebte sich, und der Schopf wuchs wieder zu.

Johannes hinter dem Ofen kehrte nach Haus zurück. Er nahm den Brüdern die Jungfrau aus dem goldenen Königreiche und vermählte sich mit ihr.

Und sie fingen an zu leben, und sie lebten lange, und sie leben heute noch.


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