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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DAS KUPFERNE, DAS SILBERNE UND DAS GOLDENE KÖNIGREICH

In einem Reich, in einem Königreich, lebte einmal ein König Bjäl Bjäljanin, der hatte eine Frau, Anastasia mit den goldenen Flechten, und drei Söhne, Basilius, Peter und Johannes.

Eines Tages ging die Königin mit ihren Ammen und Wärterinnen in den Garten lustwandeln. Da erhob sich plötzlich ein heftiger Sturmwind, ergriff die Königin und trug sie fort - Gott weiß wohin. Der König geriet darüber in große Trauer und wußte sich keinen Rat.

Als die Söhne herangewachsen waren, sagte er zu ihnen: «Meine lieben Kinder, wer von euch will ausziehen, um die Mutter zu suchen?»

Die beiden ältesten Söhne waren dazu bereit, rüsteten sich und machten sich auf den Weg. Nach ihnen bat auch der jüngste, Johannes, fortziehen zu dürfen. «Nein, mein Söhnchen», sagte der König, «reite du nicht von mir fort, lass' mich alten Mann nicht allein!»

«Erlaube es mir doch, liebes Väterchen! Ums Leben gern möchte ich in die weite Welt ziehen und mein Mütterchen suchen.»

Der König wollte es ihm ausreden, aber es gelang ihm nicht. Er sprach



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lange dagegen, und schließlich gab er nach: «Nun, wenn gar nichts zu madien ist, dann ziehe fort -Gott mit dir!»

Königssohn Johannes sattelte sein braves Pferd und machte sich auf den Weg. Er ritt und ritt - ob er lange ritt, ob nicht so lange - schnell ist ein Märchen erzählt, nicht so schnell die Tat getan. Endlich kam er in einen großen Wald, darinnen stand ein wunderbar prächtiges Schloß. Johannes ritt in den weiten Hof, erblickte einen Greis und grüßte ihn: «Mögest du noch viele Jahre gesund bleiben, guter Alter!»

«Sei mir willkommen, braver Jüngling. Sage mir, wer du bist?»

«Ich bin Johannes, der Sohn des weißen Königs Bjäl Bjäljanin und der Königin Anastasia mit den goldenen Flechten.»

«Ach, so bist du mein Anverwandter, meines Bruders Sohn! Wohin führt dich Gott?»

«Ja, das ging so zu: Ich bin ausgeritten, um mein Mütterchen zu suchen. Wenn du Vaters Bruder bist, kannst du mir dann nicht sagen, wo sie zu finden ist?»

«Nein, Brudersohn, das weiß ich nicht. Aber soweit ich kann, will ich dir gerne helfen. Hier gebe ich dir eine Kugel, wirf sie hin, sie wird vor dir herrollen und wird dich zu hohen steilen Bergen hinführen. In jenen Bergen ist eine Höhle, in die gehe hinein. Dort wirst du Steigeisen finden, befestige sie an Händen und Füßen und klettere damit hinauf. Vielleicht findest du dort oben deine Mutter Anastasia mit den goldenen Flechten.»

Königssohn Johannes nahm Abschied von seinem Oheim, ließ das Kügelchen fallen, und sogleich rollte es ihm voraus auf dem Weg. Es rollte und rollte, und er ritt hinter ihm her.

Über kurz oder lang kam er auf ein freies Feld. Da hatten seine Brüder Peter und Basilius mit ihren zahlreichen Kriegern ein Lager aufgeschlagen.

«Potztausend, wohin, Johannes?» riefen ihm die Brüder zu.

«Mich hat zu Hause die Sehnsucht gepackt, da kam mir's, auch ich könnte ausziehen, das Mütterchen suchen. Laßt eure Krieger nach Hause reiten, dann reiten wir zusammen!»

Das taten sie auch; sie entließen ihr Heer und folgten zu dritt dem Kügelchen des Johannes. Schon von weitem erblickten sie die Berge, die so hoch und steil waren, daß sie sich - weiß Gott - gegen den Himmelsbogen zu stemmen schienen. Schnell näherten sie sich, und die kleine Kugel rollte geradeswegs auf die Höhle zu. Königssohn Johannes sprang vom Pferde und sprach zu den Brüdern: «Hier habt ihr mein braves Roß. Ich muß nun hinauf auf die Berge steigen und unser Mütterchen dort suchen. Wartet hier auf mich, wartet drei Monate, bin ich dann noch nicht zurückgekehrt, so ist alles weitere Warten vergebens.»

Die Brüder dachten bei sich: «Wie kann man auf diese steilen Berge steigen,



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ohne sich dabei Hals und Bein zu brechen?» Zu Johannes aber sagten sie: «Gut denn, gehe mit Gott! Wir werden indessen hier auf dich warten.»

Der Königssohn Johannes trat an die Höhle heran und erblickte eine eiserne Tür. Mit aller Kraft schlug er dagegen, da sprang sie auf, und er trat hinein. Steigeisen hefteten sich von selber an seine Hände und Füße, und er fing an, den Berg zu besteigen. Er stieg und stieg, einen ganzen Monat lang mühte er sich, mit größter Anstrengung langte er endlich oben an. «Nun also» —sprach er zu sich selber, «gelobt sei Gott!» Er ruhte sich ein wenig aus und ging dann über die Höhen, er ging weiter und weiter, und mit einem Male stand er vor einem Schloß, das aus reinem Kupfer erbaut war. Vor dem Tore ringelten sich schreckliche Drachenschlangen, die an kupferne Ketten geschmiedet waren. Daneben stand ein Brunnen, am Brunnen hing ein kupferner Eimer, an einer kupfernen Kette hing er herab. Königssohn Johannes nahm den kupfernen Eimer, schöpfte Wasser damit und tränkte die Schlangen. Sie beruhigten sich, legten sich nieder, und er schritt an ihnen vorbei in das Schloß hinein. Fröhlich sprang die Königin des kupfernen Reiches heraus: «Wer bist du, guter Jüngling?»

«Ich bin Johannes, der Königssohn.»

«Kamst du aus freiem Willen hierher oder aus Zwang?»

«Ganz aus freiem Willen kam ich hierher. Ich suche meine Mutter, Königin

Anastasia mit den goldenen Flechten. Ein Sturmwind raubte sie aus unserem Garten. Weißt du vielleicht, wo sie zu finden ist?» «Nein, ich weiß es nicht, aber nicht weit von hier wohnt meine Schwester, die Königin des silbernen Reiches. Vielleicht kann sie es dir sagen.» Sie gab ihm eine kupferne Kugel und einen kupfernen Ring. «Dieses Kügelchen», sagte sie, «wird dich zu meiner Schwester leiten, und in diesem Ringlein ist das ganze kupferne Königreich beschlossen. Wenn du den Sturmwind besiegst, der mich hier gefangen hält und der alle drei Monate zu mir geflogen kommt, so vergiß mich Arme nicht, erlöse mich von hier und nimm mich mit dir in die freie Welt!»

«Gut», sagte der Königssohn Johannes, nahm das kupferne Kügelchen und warf es vor sich hin. Das Kügelchen rollte davon, und der Königssohn ging hinter ihm her. Er ging und ging und kam in das silberne Reich. Dort fand er ein Schloß, das noch viel schöner war, als das erste. Es war ganz aus Silber erbaut. Vor dem Tore ringelten sich schreckliche Drachenschlangen, die an silberne Ketten geschmiedet waren. Daneben stand ein Brunnen; am Brunnen hing ein silberner Eimer, an einer silbernen Kette hing er herab. Königssohn Johannes schöpfte Wasser mit dem silbernen Eimer und tränkte die Schlangen. Da legten sie sich nieder und ließen ihn vorbei in das Schloß. Heraus trat die Königin des silbernen Reiches.

«Ach», sprach sie, «es sind bald drei Jahre her, daß der mächtige Sturmwind



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mich hier festhält. Ich habe noch nie den russischen Geist mit Augen gesehen, noch nie mit Ohren gehört, aber jetzt tritt der russische Geist vor meinen Augen in Erscheinung. Wer bist du, guter Jüngling?»

«Ich bin Johannes, der Königssohn.»

«Wie kamst du hierher, kamst du aus freiem Willen oder aus Zwang?»

«Ganz aus freiem Willen kam ich, ich suche mein liebes Mütterchen. Sie lustwandelte einst im grünen Garten, da erhob sich ein Sturmwind und riß sie mit sich fort. Weißt du vielleicht, wo sie zu finden ist?»

«Nein, das weiß ich nicht. Aber nicht weit von hier lebt meine älteste Schwester, Elena, die Wunderschöne, die Königin des goldenen Reiches, vielleicht kann sie es dir sagen. Nimm hier das silberne Kügelchen, wirf es vor dich hin und folge seiner Spur. Es wird dich zum goldenen Königreich hinführen. Aber denke daran, wenn du den Sturmwind besiegst, vergiß mich Arme nicht, erlöse mich von hier und nimm mich mit dir in die freie Welt! Der Sturmwind hält mich gefangen und kommt alle zwei Monate zu mir geflogen.» Darauf gab sie ihm ein silbernes Ringlein: «In diesem Ringlein ist das ganze silberne Königreich beschlossen.»

Königssohn Johannes ließ das silberne Kügelchen rollen, und wohin es rollte, dahin richtete er auch seinen Schritt. Ob er lange ging oder nicht so lang - er kam an ein goldenes Schloß, das so hell wie Feuer lohte. Vor dem Tore wimmelte es von furchtbaren Drachenschlangen, die an goldene Ketten geschmiedet waren. Daneben stand ein Brunnen; am Brunnen hing ein goldener Eimer, an einer goldenen Kette hing er herab. Johannes der Königssohn schöpfte Wasser mit dem goldenen Eimer und tränkte die Schlangen. Da legten sie sich nieder und wurden still. Der Königssohn trat in das Schloß, und Elena, die Wunderschöne, kam ihm entgegen: «Wer bist du, guter Jüngling?»

«Ich bin Johannes, der Königssohn.»

«Wie kamst du hierher - kamst du aus freiem Willen oder aus Zwang?»

«Ganz aus freiem Willen kam ich, ich suche meine liebe Mutter, Anastasia mit den goldenen Flechten. Hast du Kenntnis davon, wo sie zu finden ist?» «Wie sollte ich nicht Kenntnis davon haben, sie lebt ja nicht weit von hier! Jede Woche fliegt der Sturmwind zu ihr, zu mir kommt er einmal im Monat. Hier hast du ein goldenes Kügelchen, wirf es vor dich hin und folge seiner Spur! Es wird dich dorthin leiten, wohin du mußt. Und nimm auch noch dieses goldene Ringlein! In dem goldenen Ringlein ist das ganze goldene Königreich beschlossen. Denke daran, o Königssohn, wenn du den Sturmwind besiegst, vergiß mich Arme nicht und nimm mich mit dir in die freie Welt!»

«Gut», sagte Königssohn Johannes, «ich werde dich mit mir nehmen!»

Er rollte das goldene Kügelchen vor sich her und schritt hinter ihm drein.



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Er ging und ging und kam zu einem Schloß, das - o du mein Gott ganz in Diamanten und Edelgestein flammte und strahlte. Vor dem Tore zischten schreckliche Drachenschlangen. Der Königssohn tränkte sie, sie beruhigten sich und ließen ihn vorbei. Er durchschritt viele hohe Gemächer.

Im allerletzten fand er seine Mutter. Sie saß auf hohem Thron, im königlichen Schmuck, mit einer kostbaren Krone gekrönt. Sie erblickte den Gast und rief: «Ach, du mein Gott, bist du es, mein geliebter Sohn? Wie kamst du hierher?»

«Auf mancherlei Weise kam ich hierher, dich zu holen!»

«Ach, lieber Sohn, das wird nicht leicht für dich sein! Wisse, daß auf diesen Bergen der böse, mächtige Sturmwind herrscht, dem alle Geister untertan sind. Er ist es auch, der mich fort trug. Du mußt mit ihm kämpfen. Wir wollen schnell in den Keller hinabgehen.»

Sie stiegen hinunter. Dort standen zwei Kufen mit Wasser, die eine zur Rechten, die andere zur Linken. «Trinke von dem Wasser, das rechts steht>', sagte die Königin Anastasia mit den goldenen Flechten. Johannes trank.

«Nun sage, wieviel Kraft hast du gewonnen?»

«Ich fühle mich jetzt so stark, daß ich das ganze Schloß mit einer Hand herumdrehen könnte.»

«Nun, so trinke noch einmal!»

Der Königssohn trank.

«Wieviel Kraft hast du jetzt?»

«Jetzt kann ich, wenn ich will, die ganze Welt umkehren!»

«Das ist schon sehr viel, mein Sohn! Nun stelle die beiden Kufen um, von einem Platz auf den anderen. Die, welche rechts steht, trage auf die linke Seite, und die, welche links steht, auf die rechte!»

Johannes, der Königssohn, nahm die Kufen und stellte sie um. «Merke es dir wohl, mein lieber Sohn, in der einen Kufe ist kräftigendes Wasser, in der anderen schwächendes. Wer sich von dem ersteren satt trinkt, wird ein großmächtiger Held, aber wer von dem anderen trinkt, wird ganz schwach. Der Sturmwind trinkt immer das Wasser der Stärke und stellt es auf die rechte Seite. Man muß ihn täuschen, sonst wird man mit ihm nie zurechtkommen.»

Sie kehrten in das Schloß zurück. «Bald wird der Sturmwind angebraust kommen», sprach die Königin zu Johannes, «setze dich unter meinen Purpurmantel, damit er dich nicht erblickt. Wenn er herbeifliegt und sich auf mich wirft, um mich zu umarmen und zu küssen, so ergreife ihn an seiner Keule. Er wird sich hoch, hoch emporheben und dich weit über Meere und Abgründe tragen. Dann sieh zu, daß du seine Keule nicht aus der Hand läßt. Der Sturmwind wird sich völlig erschöpfen und nach dem stärkenden Wasser verlangen. Er wird sich in den Keller hinablassen und sich auf die Kufe



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stürzen, die rechts steht. Du aber trinke aus der Kufe, die links steht. Wenn er ganz von Kräften ist, entreiße ihm sein Schwert und schlage ihm mit einem Hiebe den Kopf ab. Hast du das getan, so werden Stimmen hinter dir rufen: Schlage noch einmal zu, schlage noch einmal zu! Du aber, mein Sohn, schlage nicht mehr zu, sondern antworte ihnen: Eine Heldenhand schlägt nicht zweimal zu, sondern macht alles mit einem Streiche.»

Kaum hatte Johannes sich unter dem Purpurmantel verborgen, als sich Finsternis über den Hof legte, und der ganze Umkreis erbebte. Der Sturmwind flog heran, schlug auf den Boden, verwandelte sich in einen jungen Burschen und trat in das Schloß. In der Hand hielt er die Keule. «Fuh, fuh, was riecht bei dir nach russischem Geist? War etwa jemand hier zu Caste?»

Antwortet die Königin:

«Ich weiß nicht, warum es dir so vorkommt.»

Der Sturmwind warf sich auf sie, um sie zu umarmen und zu küssen, aber Johannes, der Königssohn, griff sogleich nach seiner Keule.

«Ich verschlinge dich», schrie der Sturmwind ihn an.

«Vielleicht -vielleicht auch nicht», spottete Johannes.

Da fuhr der Sturmwind mit dem Königssohn durch das Fenster, bis unter das Himmelsgewölbe. Er brauste mit ihm über die Berge und schrie: «Soll ich dich an den Felsen zerschmettern?» Er sauste mit ihm über die Meere und drohte: «Soll ich dich in der Tiefe ertränken?»

Umsonst, Johannes behielt die Keule fest in der Hand. Die ganze, weite Welt durchflog der Sturmwind. Endlich ermattete er und begann, sich hinunterzulassen, und ließ sich in den Keller hinab. Er stürzte zur Kufe, die zur Rechten stand und fing an, das entkräftende Wasser zu trinken. Johannes, der Königssohn, aber warf sich auf die andere Kufe, trank sich satt am kraftspendenden Wasser und wurde zum mächtigsten Helden der Welt. Als er sah, daß der Sturmwind völlig entkräftet war, entriß er ihm sein scharfes Schwert und hieb ihm mit einem einzigen Streiche den Kopf ab. Hinter ihm riefen Stimmen: «Haue noch einmal zu, haue noch einmal zu, sonst lebt er wieder auf!» Aber Johannes antwortete:

«Nein, eine Heldenhand holt nie zweimal aus - mit einem Hieb macht sie ein Ende.»

Sogleich schürte er ein Feuer an, verbrannte den Körper des Sturmwindes und auch sein Haupt und ließ die Asche im Winde verwehen.

Die Königin-Mutter aber freute sich über alles: «Jetzt lass' uns fröhlich sein, mein über alles geliebter Sohn! Wir wollen ein Mahl halten und dann so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren, denn hier ist es so traurig, außer uns ist keine Menschenseele da.»

«Aber wer wird uns beim Mahle bedienen?»

«Das sollst du bald sehen!»



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Kaum hatten sie an das Essen gedacht, so deckte sich der Tisch ganz von selber, und Speisen und Weine erschienen in Fülle. Die Königin und der Königssohn nahmen das Mahl zu sich, und eine unsichtbare Musik spielte wundersame Weisen. Als sie gegessen und getrunken hatten, ruhten sie aus. Dann sprach Johannes, der Königssohn: «Wir wollen aufbrechen, Mütterchen, es ist an der Zeit, erwarten uns doch unten am Berge die Brüder. Unterwegs müssen wir noch die drei Königinnen befreien, die der Sturmwind hier gefangen hielt.»

Sie nahmen mit, was sie brauchten, und machten sich auf den Weg. Zuerst holten sie die Königin des goldenen Reiches ab, dann die des silbernen und endlich die des kupfernen Reiches, und die drei gingen mit ihnen.

Auch ein Stück Leinwand nahmen sie mit und noch allerlei und gelangten bald an den Ort, an dem man sich von den Bergen hinunterlassen mußte. Der Königssohn ließ zuerst die Mutter auf der Leinwandbahn hinab, dann Elena, die Wunderschöne, und zuletzt ihre Schwestern. Unten am Berge standen die Brüder und warteten. Als sie die Königinnen herabkommen sahen, dachten sie bei sich: Lassen wir doch Johannes in der Höhe! Die Mutter und die drei Schwestern wollen wir zum Vater bringen und sagen, daß wir sie gefunden haben. Peter, der Königssohn, sprach: «Elena, die Wunderschöne, nehme ich für mich, du, Basilius, nimmst die Königin des silbernen Reiches, und die Königin des kupfernen Reiches geben wir zumindest einem General.»

Als Johannes, der Königssohn, an der Reihe war, sich hinabgleiten zu lassen, da griffen die älteren Brüder nach der Leinwand, zerrten daran und rissen sie ab. Königssohn Johannes mußte oben auf dem Berge bleiben. Was war da zu machen? Er weinte bitterlich und ging wieder zurück. Er ging und ging - ging durch das kupferne, das silberne und das goldene Reich - nirgends war eine Seele. Er kam wieder in das diamantene Reich, und auch da war niemand. War er denn wirklich vollkommen allein auf dem Berge? Tödliche Schwermut befiel ihn. Da sah er am Fenster des diamantenen Schlosses ein Rohrpfeifchen liegen. «Sieh da! Ich will mir eins aufspielen, das tut gut gegen die Schwermut!» Er nahm das Pfeifchen in die Hand und fing an, ein Liedchen zu pfeifen. Beim ersten Pfeifenton standen auf einmal ein Krummer und ein Lahmer vor ihm: «Was wünschest du, Königssohn Johannes?»

«Ich will essen!»

Im selben Augenblick erschien - weiß Gott woher - ein gedeckter Tisch mit Wein und Speisen allerbester Art. Johannes, der Königssohn, aß und trank und dachte bei sich: Jetzt sollte man auch ein wenig ruhen! Er blies ins Pfeifchen, und wieder erschienen der Krumme und der Lahme: «Was wünschest du, Königssohn?»



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«Ein Lager soll mir bereitet werden!»

Er hatte es kaum ausgesprochen, da stand vor ihm die allerschönste Lagerstatt. Er legte sich hin, schlief sich aus und blies darauf wieder ins Pfeifchen.

«Was wünschest du, Königssohn?»

«Kann ich mir denn alles wünschen?» fragte der Königssohn.

«Ja, alles ist möglich, und nichts ist unmöglich für den, der auf diesem Pfeifchen spielen kann. Für ihn tun wir alles. Wie wir früher dem Sturmwind dienten, so freuen wir uns, jetzt dir zu dienen. Nur muß das Pfeifchen immer in deiner Hand bleiben.»

«Gut so», sagte Johannes, der Königssohn, «ich wünsche sogleich in meinem Reich zu sein!»

Kaum hatte er es gesagt, da stand er mitten auf dem Marktplatz in seinem eigenen Reiche. Er ging auf dem Markte umher, da kam ihm ein Schuhmacher entgegen, ein ganz lustiger Geselle.

«Wohin gehst du, Bäuerlein?» fragte Johannes.

«Ich bin ein Schuhmacher und bringe feine Schuhe zum Verkauf.»

«Nimm mich zum Gesellen an!»

«Kannst du denn auch Schuhe nähen?»

«Ich kann alles machen, was gewünscht wird, nicht nur Schuhe, auch Kleider kann ich nähen.»

«Nun, so komme mit!»

Als sie beim Schuhmacher daheim waren, sprach er: «So, nun zeige deine Meisterschaft! Hier hast du Leder - beste Ware - ich will sehen, was du kannst!»

Johannes, der Königssohn, ging in seine Kammer, holte das Pfeifchen hervor und pfiff. Der Krumme und der Lahme erschienen: «Was wünschest du, Königssohn Johannes?»

«Bis morgen soll ein Paar Schuhe fertig sein!»

«Das ist eine ganz geringe Gefälligkeit, das ist kein Dienst!»

«Da habt ihr das Leder dazu.»

«Das soll Leder sein? Lumpenzeug ist es, das man aus dem Fenster werfen sollte!»

Am anderen Morgen erwachte Johannes. Auf dem Tisch standen wunderschöne Schuhe von der allerbesten Sorte. Der Schuhmacher kam herein: «Nun, braver Geselle, hast du die Schuhe genäht?»

«Ja, sie sind fertig.»

«So zeige sie her!»

Der Schuhmacher besah sich die Schuhe und rief: «Da habe ich mir einen Meister gefunden! Nein, das ist nicht nur ein Meister, das ist ein wahrer Zauberer!»



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Er nahm die Schuhe und brachte sie auf den Markt zum Verkauf. Zur selben Zeit wurden bei dem König Bjäl Bjäljanin drei Hochzeiten vorbereitet. Der Königssohn Peter wollte Elena, die Wunderschöne, heiraten, der Königssohn Basilius die Königin des silbernen Reiches, und die Königin des kupfernen Reiches sollte mit einem General vermählt werden. Man war gerade dabei, den Hochzeitsstaat für diese drei Hochzeiten zu beschaffen. Elena, die Wunderschöne, brauchte ein Paar Tanzschuhe. Es zeigte sich, daß unser Schuhmacher die allerschönsten Schuhe hatte, und so wurde er in das Schloß geholt. Elena, die Wunderschöne, schaute darauf und staunte: «Was ist das? Nur hoch auf den Bergen kann man solche Schuhe machen!»

Sie gab dem Schuhmacher viel Geld dafür und befahl: «Mache mir - ohne Maß zu nehmen - ein zweites Paar Schuhe. Sie sollen ein Wunderwerk sein und mit kostbaren Edelsteinen und Diamanten besetzt sein. Und bis zum Morgen sollen sie fertig sein, sonst wirst du gehängt.>'

Der Schuhmacher nahm das Geld und die kostbaren Edelsteine und ging finster nach Hause. «Das ist ein wahres Unglück», sagte er, «was soll ich jetzt machen? Wie können solche Schuhe in einer Nacht fertig werden, und noch dazu ohne Maß? Mir scheint, man wird mich morgen hängen. So will ich wenigstens den Tag noch mit meinen Freunden verjubeln.» Er ging ins Wirtshaus, wo es an Freunden nicht fehlte: «Brüderchen, warum bist du so finster?» fragten sie ihn.

«Ach, liebe Freunde, morgen wird man mich hängen!»

«Und warum denn das?»

Der Schuhmacher erzählte ihnen seinen Kummer. «Ach, was soll man da noch an die Arbeit denken, lieber verjubeln wir noch zum Abschluß die Zeit!»

Nun ging es lustig zu, sie tranken und schmausten. Der Schuhmacher wankte schon ganz beträchtlich. «Ich nehme ein Fäßchen Wein mit nach Hause», sagte er, «und lege mich schlafen. Und morgen, wenn die Henker kommen, trinke ich noch einen halben Eimer aus, dann bin ich wenigstens nicht bei Bewußtsein, wenn sie mich hängen.»

Als er nach Hause kam, schalt er Johannes: «Sieh, du Elender, was du mit deinen Schuhen angerichtet hast! So steht es nun mit mir. Morgen früh, wenn sie mich holen kommen, wecke mich sofort!»

In der Nacht holte Johannes das Rohrpfeifchen hervor und tat einen kurzen Pfiff, und sofort erschienen der Krumme und der Lahme.

«Was wünschest du, Königssohn Johannes?»

«Macht schleunigst die gleichen Schuhe noch einmal, mit Edelsteinen und Diamanten sollen sie besetzt sein.»

«Wie du befiehlst!»

Johannes legte sich schlafen. Als er am Morgen erwachte, standen die



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Schuhe fertig auf dem Tisch, funkelten wie Feuer. Er ging hin, um seinen Hausherrn zu wecken: «Herr, es ist Zeit zum Aufstehen!»

«Wie, kommen sie mich schon holen? Gib mir schnell das Fäßchen mit Wein her! Hier ist eine Kanne - schenk ein! So mögen sie denn einen Betrunkenen hängen!»

«Aber die Schuhe sind ja fertig!»

«Wie, fertig? Wo sind sie?» Der Meister lief hin, sah sie und staunte: «Ach, wann haben wir beiden denn das gemacht?»

«Nun, Meister, in der Nacht! Erinnerst du dich nicht daran, wie wir sie zuschnitten und nähten?»

«Ach, Bruder, ich habe es ganz verschlafen, kaum noch erinnere ich mich daran.»

Er packte die Schuhe, drehte sich um und lief zum Schloß. Elena, die Wunderschöne, sah die Schuhe und hatte es gleich erraten: Wahrscheinlich tun es die Geister für den Königssohn Johannes! «Wie hast du das gemacht?» fragte sie den Schuhmacher.

«Ich kann eben alles machen», antwortete er.

«Wenn es so ist, dann nähe mir das Hochzeitskleid, es soll mit Gold bestickt und mit Edelsteinen und Diamanten übersät sein. Und daß es mir morgen früh fertig ist - sonst -Kopf ab!»

Wieder lief der Schuhmacher finster einher. Schon lange hatten die Freunde auf ihn gewartet. «Was ist mit dir?» «Ach, eine verfluchte Geschichte. Diese Verdreherin des Christentums befahl mir, bis morgen ein Kleid mit Gold und Edelsteinen zu nähen, als wäre ich ein Schneider. Wahrscheinlich schlägt man mir morgen den Kopf ab.»

«Ach, Bruder, der Morgen ist weiser als der Abend, komm, lass' uns trinken und lustig sein!»

Sie gingen ins Wirtshaus, tranken und vergnügten sich. Der Schuhmacher trank sich wieder voll, schleppte ein ganzes Fäßchen Wein nach Hause und sagte zu Johannes: «Nun, wenn du mich früh aufweckst, werde ich einen ganzen Eimer hinunterschütten, dann können sie einem Betrunkenen den Kopf abschlagen. Ein solches Kleid kann ich im Leben nicht machen.»

Der Schuhmacher legte sich schlafen und fing an zu schnarchen. Johannes aber tat einen kurzen Pfiff auf seinem Pfeifchen. Sogleich erschienen der Krumme und der Lahme.

«Königssohn Johannes, was wünschest du?»

«Daß bis morgen dasselbe Kleid genäht werde, welches Elena, die Wunderschöne, beim Sturmwind trug!»

«Wie du befiehlst, es wird fertig sein!»

Am Morgen lag das Kleid auf dem Tisch und leuchtete wie Feuer, so daß die ganze Stube erhellt war. Kaum begann es zu tagen, da erwachte Johan



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nes und weckte seinen Meister. Der riß die Augen auf: «Sind sie gekommen, um mir den Kopf abzuschlagen? Gib mir ganz schnell den Wein!»

«Aber siehe, das Kleid ist fertig!»

«Ach - wann haben wir denn das miteinander gemacht?»

«Nun, in der Nacht, erinnerst du dich nicht daran? Du selbst hast es zugeschnitten.»

«Ach, Bruder, kaum erinnere ich. mich. Ich sehe das alles nur wie im Traum.»

Der Schuhmacher nahm das Kleid und lief zum Schloß.

Da gab ihm Elena, die Wunderschöne, viel Geld und befahl: «Beim Morgenrot soll sieben Werst weit von hier auf dem Meere ein goldenes Schloß stehen und von jenem Schlosse zu unserem her eine goldene Brücke gebaut sein. Die Brücke muß mit kostbarem Samt belegt sein. Am Geländer zu beiden Seiten sollen wunderbare Bäume wachsen und Singvögel mit allerlei Stimmen darauf singen. Wenn das bis morgen nicht fertig ist, wirst du gevierteilt.»

Der Schuhmacher ging fort und ließ den Kopf hängen. Wieder kamen seine Freunde auf ihn zu: «Bruder, was ist mit dir?»

«Ach, mit mir ist es aus, morgen werden sie mich vierteilen, sie trug mir einen Dienst auf, den kein Teufel vollbringen kann.»

«Genug damit, der Morgen ist weiser als der Abend, laßt uns ins Wirtshaus gehen!»

«Nun also, ich will zum letzten Male lustig sein!»

Sie tranken und tranken. Der Schuhmacher war am Abend so betrunken, daß sie ihn nach Hause führen mußten. «Lebe wohl, Kleiner, morgen werde ich gevierteilt!»

«Ist dir vielleicht ein neuer Dienst aufgetragen?»

«Ja», sagte der Schuhmacher und erzählte.

Dann legte er sich hin und fing an zu schnarchen.

Johannes ging in seine Kammer, blies auf dem Pfeifchen, und sogleich erschienen der Krumme und der Lahme.

«Königssohn Johannes, was wünschest du?»

«Könnt ihr mir diesen Dienst leisten?»

«Ja, Königssohn, das ist endlich ein Dienst! Bis morgen wird alles fertig sein.»

Als es am Morgen anfing hell zu werden, erwachte der Königssohn und sah aus dem Fenster hinaus. Heilige Väter! Alles war fertig, und wie es sein sollte - auf dem Meer stand ein goldenes Schloß und glänzte wie Feuer. Johannes weckte seinen Meister, der sprang aus dem Bett: «Wie, sind sie schon gekommen, um mich zu holen? Gib mir den Wein, dann können sie einen Betrunkenen vierteilen!»



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«Aber siehe, das Schloß ist gebaut!»

Der Schuhmacher sah aus dem Fenster und rief voller Verwunderung: «Wie kam dies zustande?»

«Kannst du dich nicht besinnen, wie wir dies zusammen taten?»

«Ach, ich kann mich nicht erinnern, ich verschlief es wohl ganz!»

Sie liefen zu dem goldenen Schlosse. Unerhörter, nie gesehener Reichtum zeigte sich ihren Blicken. Da sprach Johannes: «Meister, hier ist ein Flügelchen, geh, und fege das Geländer der Brücke! Wenn aber jemand kommt und fragt, wer in diesem Schlosse wohne, so sage nichts, sondern gib ihm dieses Schreiben!»

Der Schuhmacher ging hin und fing an, das Brückengeländer zu kehren. Am Morgen erwachte Elena, die Wunderschöne, sah das goldene Schloß und lief sogleich zum König. «Seht doch, o König, was sich bei uns tut! Auf dem Meere steht ein goldenes Schloß, und von diesem Schlosse aus erstreckt sich eine sieben Werst lange Brücke. Um die Brücke herum wachsen wunderbare Bäume, darinnen singen seltene Vögel mit vielerlei Stimmen.»

Der König schickte sogleich dahin und ließ fragen, was das bedeuten solle —ob vielleicht ein mächtiger Held gekommen sei?

Die Abgesandten fingen an, den Schuhmacher auszufragen. «Ich weiß es nicht», antwortete er, «aber ich habe ein Schreiben für euren König.»

In diesem Schreiben erzählte Johannes seinem Vater alles, was geschehen war, wie er die Mutter befreit hatte, wie er Elena, die Wunderschöne, erwarb, und wie die beiden Brüder ihn betrogen. Zugleich schickte er goldene Wagen und bat, daß der König und die Königin und Elena, die Wunderschöne, mit ihren Schwestern zu ihm fahren möchten, aber die Brüder sollten hinterher in hölzernen Wagen fahren. Alle machten sich bereit und fuhren ab. Königssohn Johannes ging ihnen voller Freude entgegen. Der König wollte die beiden älteren Söhne für ihre Lüge töten lassen. Aber Johannes bat für sie, und es wurde ihnen verziehen.

Da begann ein großes Heldenmahl. Johannes, der Königssohn, vermählte sich mit Elena, der Wunderschönen. Dem Königssohn Peter gab er die Königin des silbernen Reiches, dem Königssohn Basilius die Königin des kupfernen Reiches, und den Schuhmacher machte er zum General.

Auf jenem Mahle bin ich auch gewesen, ich habe Honigmet und Wein getrunken, über den Bart ist es geflossen, aber in den Mund kam nichts hinein.


Copyright: arpa, 2015.

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