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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


VORWORT

Vorliegende Märchen sind alle ohne Ausnahme aus der Sammlung «Narodnyja russkija skaski» von A. N. Afanasjev, Moskau 1861

Afanasjev - der russische Grimm, wie man ihn auch nennt - lebte von 1826 bis 1871. Sein Werk ist bedeutungsvoll, wie das aller großen Sammler. Bei ihm aber kommt noch etwas Besonderes hinzu: Der schier unübersehbare Schatz der russischen Märchen blieb in den weiten, einsamen, noch nicht der Zivilisation verfallenen Gegenden Rußlands als altes Kulturgut größtenteils unverändert bewahrt, und man kann gerade an diesen Märchen die Urform des Märchens überhaupt erkennen.

Afanasjev sagt: «Das Volk hat es sich nicht ausgedacht, es erzählte von dem, woran es glaubte, und darum hat es in seinen Erzählungen vom Übersinnlichen mit richtigem Takt Wiederholungen betont und hat seiner Phantasie nicht erlaubt, die Grenzen zu überschreiten und sich in einer Welt von unheimlichen Vorstellungen zu verlieren. Bei aller Einförmigkeit, die man in diesen volkstümlichen Überlieferungen trifft, enthalten sie doch so viel wahre Poesie und rührende Szenen.»

Afanasjev nennt die Märchen Erzählungen vom Übersinnlichen. Wurde doch in jener Zeit noch gewußt, was im Zeitalter des Materialismus weitgehend verlorengegangen ist: Märchen sprechen vom übersinnlichen Wesen des Menschen. Sie stammen aus einer Zeit, in der der Mensch in einer inneren Bildschau lebte und diese Bilder formte in der Bildsprache. Einmal war die innere Bildschau Gemeingut aller Völker. Ihr höchster Niederschlag war der Mythos. Der Mensch sah die Schöpfung der Welt, ihre Entwicklung und fortwährende Wandlung, in die er als seelisch-geistiges Wesen lebendig einbezogen ist, im inneren Wahrbild, in der Imagination (imago =Bild).

Man könnte dieses hellsichtige Naturbewußtsein auch «Wesensbewußtsein» nennen, denn solange es waltete, war der Mensch mehr mit dem inneren Wesen der Dinge verbunden, als mit dem gegenständlichen Äußeren. Manche Naturvölker leben noch teilweise in diesem Bewußtsein. Ein letzter dekadenter Rest jener uralten Fähigkeit ist auch bei uns, noch vorhanden: der nächtliche Traum. Wohl ist der Traum meist ein chaotischer Abklatsch der Tagesereignisse, aber hin und wieder werden noch tiefere Bewußtseinsschichten ergriffen, und es erzeugt sich das Wahrbild. So selten der echte Traum heute geworden ist - er ist noch nicht ausgestorben und ist ein bedeutsamer Hinweis auf jene fast erstorbene Fähigkeit der Imagination. Das



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imaginative Natur-Bewußtsein bildete sich zurück, als das Denken erwachte, und erlosch schließlich ganz, als dieses abstrakt geworden war und sich mehr und mehr zum einseitigen Intellekt entwickelt hatte. Aber durch lange Zeiträume blieb das Denken noch bildhaft. In Mythen und Sagen wurde in der Bildsprache niedergelegt, was ehemals hellsichtig traumhaft geschaut worden war. Als der Mensch immer mehr sein persönliches Wesen erfaßte und dessen Entwicklung begriff, entstanden die Märchen. Während der Mythos von der göttlichen Überwelt spricht und die Heldensage vom Schicksal des Volkes und seiner Führer, spricht das Märchen vom Schicksal des einzelnen Menschen. Märchen sind Seelenwege in Bildern.

Nun können wir bei allen Märchen deutlich verschiedene Arten unterscheiden: Streng gefügte Gleichnisse seelischer Erlebnisse, innere Entwicklungswege und andere, aus Scherz und Neckerei entsprungene, der Fabel verwandte Märchen.

Afanasjev: «Wie alle volkstümlichen Schöpfungen atmen diese Märchen poetische Reinheit und Wahrhaftigkeit. Mit kindlicher Naivität und Einfachheit vereinigen sie - oftmals grob - ehrliche Aufrichtigkeit und geben ihre Erzählungen ohne versteckte Ironie und falsche Sentimentalität. Wir sprechen von den Märchen ältester Herkunft. Bei den späteren ordnet sich das Märchen neueren Anforderungen unter, die mit der neueren Lebensführung zusammenhängen, und wird ein gehorsames -Werkzeug-des volkstümlichen Humors und der Satire und verliert die ursprüngliche Einfalt des Herzens.»

Diese Märchen «ältester Herkunft» zeigen deutlich, daß sie nicht der naiven Bildschau allein entsprossen sind. Lückenlos reiht sich in ihnen Bild an Bild. Innere Seelenwege werden mit solcher Prägnanz geschildert und Wandlungen und Entwicklungen aus einer so umfassenden Erkenntnis des Menschenwesens heraus, daß man voller Ehrfurcht die Hand des Eingeweihten erkennt. Und so kann man sagen: Diese Märchen sind ausgegangen von Wissenden, denen die innere Bildschau noch völlig gegeben war, und die aus einer großen Überschau heraus die besonderen Anlagen und Aufgaben eines Volkstums erfaßten. Sie zeigten in ihren Märchen Wege, die gerade diese Volksseele und damit auch jede einzelne Seele zu gehen hat, damit sie ihren Beitrag leistet an dem großen sich fortbildenden Wesen «Menschheit». Die russischen Afanasjev-Märchen haben den nicht genug zu schätzenden Vorzug, daß viele von ihnen die Urform des Märchens schlechthin zeigen, wo Bild und Wort noch eines sind. Ihr eigentümlicher holzschnittartiger Stil, der dem Übersetzer gerade in seiner Einfachheit nicht geringe Mühe bereitet, zeigt uns die alte Gleichnissprache in seltener Reinheit. Jeder Satz ist ein Bild. Man könnte von einem Bild-Kanon sprechen. Darum die fortwährende Wiederholung des vollen Namens, selten ersetzt durch ein persönliches Fürwort,



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darum die in knappen Hauptsätzen fortschreitende Handlung, der Verzicht auf Relativsätze und das Beiwerk füllender und schmückender Worte. Darum auch die Einförmigkeit der Darstellung, die rhythmischen wörtlichen Wiederholungen, der sparsame Ausdruck.

Wir sind durch die gemüthafte Sprache der Grimmschen Märchen einen ganz bestimmten Märchenstil gewohnt und sind versucht, ihn für den allein gültigen zu halten. Aber die Gebrüder Grimm waren Romantiker und haben - wie sie selber sagen - auf ihre eigene Weise gestaltet und ihre Erzählungen in langer Arbeit ausgeformt. Es war vor allem Wilhelm, der den alten Gleichnis-Kanon auflockerte, durch das ausgestaltete Satzgefüge und das Rankenwerk poetischer Ausdrücke. Jakob, der Mythologe, sah in den Märchen «Urkunden einer vergangenen epischen Poesie», und diese epische Poesie war ihm die Einheit von Bild und Wort in der knappsten Ausdrucksweise. «Die Urfassung der Märchen nach der Originalhandschrift der Abtei Ölenberg im Elsaß», herausgegeben von Josef Lefftz, sowie «Die Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm in ihrer Urgestalt» von Friedrich Panzer lassen uns erkennen, daß den deutschen Märchen ursprünglich derselbe strenge Bild-Kanon zu Grunde gelegen hat.

In Rußland blieb diese alte Form länger bewahrt als im Westen. Der Stamm der Märchen-Erzähler reicht herauf bis in die heutige Zeit.

In dieser Ausgabe ging es darum, die Bilder in absoluter Treue in die deutsche Sprache zu übertragen. Dazu war ein Erarbeiten der inneren Bilder notwendig, weiterhin ein Erarbeiten der geschilderten Seelenwege und ihrer Bedeutung. Es mußte verzichtet werden auf jede gefällige Auflockerung der Sprache, damit die Einheit von Wort und Bild möglichst bewahrt blieb. Es mußte ferner für jedes Bild das deutsche Wort gefunden werden, durch welches im deutschen Leser das innere Bild wieder rein erweckt wird. Darum wurde auch auf Ausdrücke verzichtet, die billig von vornherein den russischen Charakter aufprägen. Der Begriff des inneren Königtums, der königlichen Menschenwürde, erbildet sich beim deutschen Leser schneller an den Worten König, Königin, Königssohn als an Zar, Zarin, Zarewitsch. Um aber denen gerecht zu werden, die bei vorhandenen typisch russischen Namen auch nach der russischen Bezeichnung verlangen, wurde es in einzelnen Märchen belassen. Jeder kann sie dann so weitererzählen, wie er es wünscht.

Was das eigentlich Russische dieser Märchen bedingt, liegt in ihren Inhalten. Ein Großteil der Afanasjev-Sammlung sind Iwan-Märchen, wenn auch nicht in allen der Name genannt wird (Iwan heißt Johannes). Die Durchforschung dieser Märchen führt zu einer einzigartigen Erfahrung: Geisterkenntnisse und Seelenwege des johanneischen Christentums sind darin ausgesprochen. Von dieser Erfahrung berichtet das Nachwort in der Beilage.



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Es enthält einige Sinndeutungen, damit der Leser, der in die Bildersprache eindringen will, eine kleine Hilfe hat.

Selbstverständlich sind diese Skizzen nur als Hilfe für die Erwachsenen gedacht. Sie gehören nicht in die Hand des Kindes. Einem Kinde darf man Märchen nicht deuten, denn es lebt ja selbst noch bis zu einem gewissen Grade im Bildbewußtsein. In ihm wiederholen sich frühe Menschheitsepochen, da noch nicht gedacht, sondern im Bilde Wahrheiten erlebt wurden. Das Kind vermag, unbelastet vom Verstand, die Bilder in ihrer inneren Wahrheit zu erleben. Es ist aber von großer Bedeutung, daß man dem Kinde echte Volksmärchen gibt, und daß diese Märchen nicht «bearbeitet» und nicht verstümmelt sind. Wer z. B. von «Grausamkeiten» im Märchen spricht, zeigt nur, daß er die Gleichnissprache nicht mehr versteht. (Wir kennen auch in der Umgangssprache den «kopflosen Menschen», sprechen davon, daß man «sein Auge auf etwas geworfen hat» u. s. f.) Werden Bilder aus dem Märchen weggelassen oder willkürlich ergänzt, so leidet der innere Wahrheitsgehalt. Solche Märchen schaden letzten Endes der Seele des Kindes, während echte Wahrheiten in echten Bildern ernähren und aufbauen.

Durch diese Johannes-Märchen vermag das Kind auf völlig undogmatische Weise einen Schatz christlicher Weisheit in sein Gemüt aufzunehmen.

Friedel Lenz


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