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Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Der Jüngling, der sich verwandelte in Falke, Löwe und Ameise

Es war einmal ein Mann, der hatte einen einzigen Sohn; aber er lebte in Armut und Elend, und als es auf das letzte zu ging, sagte zum Sohn, daß er nichts weiter besäße als ein Schwert, eine Sackleinwandkleidung er



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und einige Brotbrocken, und das solle er als Erbe haben. Als der Mann tot war, wollte der Jüngling in die Welt hinaus und sein Glück versuchen. So band er sich das Schwert um, nahm die Brotkrumen, wickelte sie in die Sackleinwand als Wegzehrung, denn sie wohnten oben auf einer kleinen Berghalde, weit, weit weg von anderen Leuten. Unterwegs mußte er über einen Berg. Als er hoch hinauf gekommen war, sodaß er weit umher blicken konnte, sah er plötzlich einen Löwen, einen Falken und eine Ameise, welche sich um ein totes Pferd stritten. Der Junge erschrak sehr, als er den Löwen sah; aber dann wurde er von ihm gerufen, und der Löwe sagte, daß er kommen solle und den Streit schlichten zwischen ihnen und das Roß teilen, so daß jeder den Teil bekäme, den er haben müsse.

Der Junge nahm das Schwert und teilte das Roß so gut er konnte: dem Löwen gab er den Rumpf und den größten Teil, der Falke bekam das Innere und Eingeweide und einige andere Kleinigkeiten; aber die Ameise bekam den Kopf. Als er das getan hatte, sagte er: »Nun glaube ich, ist es richtig geteilt. Der Löwe soll das meiste haben, denn er ist der Größte und Stärkste, der Falke soll das Beste haben, denn er ist fein und anspruchsvoll; die Ameise soll den Schädel haben, denn sie kriecht in Winkel und Ecken«.

Ja, mit dieser Teilung waren sie alle zufrieden, und dann fragten sie, was er dafür haben wolle, daß er so gut geteilt hätte zwischen ihnen. »Habe ich euch einen Dienst geleistet und ihr seid zufrieden damit, so bin ich froh«, sagte er, »aber Bezahlung will ich nicht haben«. —Doch, die solle er haben, sagten sie; »wenn du nichts anderes haben willst«, sagte der Löwe, »so sollst du drei Wünsche tun dürfen«. Aber der Junge wußte nicht, was er sich wünschen sollte. Da fragte der Löwe, ob er sich nicht wünschen wolle, daß er sich verwandeln könne in einen Löwen. Und die beiden anderen fragten, ob er sich nicht verwandeln wolle in einen Falken und eine Ameise. Das schien ihm gut und schön zu sein, und so wünschte er sich das.

Er warf Schwert und Sackleinwand von sich und verwandelte sich in einen Falken und begann zu fliegen. Er flog bis er zu einem großen Wasser kam, aber als er darüber hinflog, wurde er so müde und flügellahm, daß er nicht mehr länger fliegen konnte. Und als er einen schroffen Berg sah, der aus dem Wasser herausragte, setzte er sich darauf und ruhte sich aus. Das erschien ihm ein wunderlicher Berg zu sein und eine Weile ging er darauf umher.

Aber als er ausgeruht war, verwandelte er sich wieder in einen Falken und flog davon, bis er zum Königshof kam. Da setzte er sich in



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einen Baum vor das Fenster der Prinzessin. Als sie den Vogel sah, bekam sie Lust, den Vogel zu fangen. Sie lockte ihn zu sich, und als der Falke hereinflog, stand sie bereit und -hui -schlug die Königstochter das Fenster zu, nahm den Vogel und setzte ihn in einen Vogelbauer.

In der Nacht verwandelte sich der Junge in eine Ameise, kroch aus dem Vogelbauer heraus und verwandelte sich in den, der er war, ging hin und setzte sich zur Königstochter. Da bekam sie solche Angst, daß sie zu schreien begann, sodaß der König erwachte, zu ihr hereinkam und fragte, was los sei. »Da ist jemand hier!« schrie die Königstochter. Sogleich war der Junge eine Ameise, kroch in den Vogelbauer und machte sich wieder zum Falken. Der König konnte niemanden sehen, vor dem man Angst haben könnte, und so sagte er zur Königstochter, das müsse ein Nachtmar gewesen sein, der sie bedrückt hätte. Aber kaum war er aus der Tür, so ging es wieder genau so. Der Junge kroch aus dem Bauer als Ameise, wurde derjenige, der er war, und setzte sich zur Königstochter. — Sie schrie laut und der König kam und wollte sehen, was da wieder los war. »Da ist jemand hier«, schrie die Königstochter. Aber der Junge schlüpfte wieder in den Vogelbauer und saß als Falke drin. Der König suchte oben und unten, und als er niemanden fand, wurde er böse, daß er keine Nachtruhe haben sollte und sagte, sie würde nur Unsinn schwatzen »schreist du noch einmal so«, sagte er, »so sollst du erfahren, daß der König dein Vater ist«.

Aber der König war kaum aus der Tür heraus, so war der Junge wieder bei der Königstochter. Diesmal schrie sie nicht, obgleich sie solche Angst hatte, daß sie nicht wußte, was tun.

Da fragte der Junge, was es denn sei, wovor sie solche Angst hätte. Ja, sie sei einem bösen Kobold versprochen worden, sagte sie, und das erste Mal, wenn sie unter freien Himmel käme, würde er kommen, sie zu holen. Und als der Junge zu ihr kam, dachte sie, er sei der böse Kobold. Jeden Donnerstagmorgen käme Botschaft von dem bösen Kobold, und der Bote war ein Drache, dem der König jedesmal neun gut gemästete Schweine zur Beruhigung geben müßte. Und deswegen hatte der König verkünden lassen, daß derjenige, der ihn von dem Drachen befreien könne, die Königstochter bekommen solle und das halbe Reich.

Da sagte der Junge, das würde er tun. Und als es am Morgen hell wurde, ging die Königstochter zum König und sagte, es sei einer da, der ihn befreien wollte vom Drachen und der Schweineabgabe. Als der König das hörte, wurde er froh, denn der Drache hatte so viele Schweine gefressen, daß es nur noch einige gab im ganzen Königreiche. Heute war nun gerade wieder Donnerstag. Und deshalb schlich sich der Junge



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dorthin, wo der Drache zu kommen pflegte und die neun Schweine entgegen nahm, und der Hausknecht des Königshofes zeigte ihm den Weg.

Ja, der Drache kam auch, und er hatte neun Köpfe, und war so wild und bös, daß er Feuer und Flammen sprühte, als er seine Schweinemahlzeit nicht erblickte, und er brüllte den Jungen an, er würde ihn lebend verzehren. Aber - hui - machte der Junge sich zum Löwen, kämpfte mit dem Drachen und riß ihm einen Kopf nach dem anderen ab. Der Drache war aber auch stark und spuckte Feuer und Gift. Aber schließlich hatte er nur noch einen Kopf, der war der zäheste. Zum Schluß konnte der Junge auch den abreißen und so war es aus mit dem Drachen. Da ging er zum König und es war eitel Freude am ganzen Königshofe, und der Junge sollte die Königstochter haben.

Aber als sie eines Tages im Garten spazieren gingen, kam der böse Kobold angefahren, nahm die Königstochter und fuhr durch die Lüfte fort mit ihr. Der Junge wollte gleich hinterher, aber der König sagte, er solle das nicht tun, denn er hätte niemanden mehr, nun er alle seine Töchter verloren hätte. Aber es half weder Bitten noch Gebot, der Jüngling verwandelte sich in einen Falken und flog davon. Doch als er den Königshof nicht mehr sehen konnte, kam ihm in den Sinn, daß er sich einmal auf dem wunderlichen schroffen Berg im Meer ausgeruht hatte, als er das erstemal ausgeflogen war, er ließ sich nieder und setzte sich auf den Fels, verwandelte sich in eine Ameise und kroch in eine Spalte im Berg. Als er eine Weile gekrochen war, kam er an eine Tür, die war verschlossen. Aber er wußte schon, wie er hineinkommen würde, er kroch durchs Schlüsselloch: Da saß eine fremde Königstochter und kraulte und lauste einen bösen Kobold mit drei Köpfen.

»Ich habe ganz recht getan«, sagte der Junge bei sich, denn er hatte gehört, daß der König ehedem schon zwei Töchter verloren hatte, welche die Trolle weggeholt hatten.

»Vielleicht finde ich die andere auch«, sagte er zu sich selbst und kroch als Ameise durchs Schlüsselloch von noch einer anderen Tür.

Da saß eine zweite fremde Königstochter und lauste und kraulte einen bösen Kobold, und der hatte sechs Köpfe. Dann kroch er als Ameise wieder durch ein Schlüsselloch: da saß die jüngste Königstochter und kraulte und lauste einen bösen Kobold mit neun Köpfen. Er kroch ihr am Bein empor und zwickte sie; da schien es ihr, das sei der Jüngling, der mit ihr sprechen wollte, und so bat sie den bösen Kobold, ob sie nicht Erlaubnis bekäme, ein wenig hinauszugehen. Als sie herauskam, war der Jüngling wieder richtig der, welcher er war. Da sagte er zu ihr, daß sie den bösen Kobold fragen solle, ob sie niemals mehr von



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hier fort käme und nach Hause zum Vater. Dann machte er sich zur Ameise und setzte sich ihr auf den Fuß. So ging die Königstochter wieder hinein und fuhr fort, den bösen Kobold zu kraulen. Als sie ihn wieder eine Weile gekrault hatte, verfiel sie in Gedanken.

»Du vergißt mich zu kraulen; worüber grübelst du nach?« fragte der Troll.

»Ich grüble darüber nach, ob ich niemals mehr von hier fort komme und heim an meines Vaters Hof«, sagte die Königstochter.

»Nein, das tust du niemals«, sagte der böse Kobold, nicht eher bis einer das Sandkorn findet, welches unter der neunten Zunge und in dem neunten Haupte des Drachen liegt, welchem dein Vater den Schweinetribut entrichtet. Aber das findet niemand. Denn wenn das Sandkorn über den Berg kommt, so Zerspringen alle Trolle und bösen Kobolde, und der Berg wird zu einem vergoldeten Schloß und das Wasser zu Wiesengründen.«

Als der Junge das hörte, kroch er durch alle Schlüssellöcher wieder heraus und durch die Spalte im Berge. Dann verwandelte er sich in einen Falken und flog dorthin, wo der tote Drache lag. Dann suchte er das Sandkorn, bis er es fand unter der neunten Zunge des neunten Kopfes und flog damit davon. Aber als er zum Wasser kam, wurde er so müde, so müde, daß er niederschweben mußte und sich auf einen Stein am Strande setzte. Als er so saß, schlummerte er einen Augenblick, und sogleich fiel das Sandkorn aus seinem Schnabel heraus und hinab in den Sand des Strandes. Drei Tage mußte er suchen, ehe er es wieder fand. Doch als er es gefunden, flog er direkt zum schroffen Berg damit und ließ es in die Spalte niederfallen.

Da sprangen alle bösen Kobolde und Trolle entzwei, der Berg zerriß und es stand ein goldenes Schloß da, das war das prächtigste Schloß in der ganzen Welt. Und das Wasser wurde zu den schönsten Ackern und grünsten Wiesen, die man je sah.

Dann reisten alle zum Königshof und da war große Freude und Herrlichkeit. Der Jüngling und die jüngste Königstochter sollten einander haben und da feierten sie Hochzeit, und das ganze Königreich feierte mit während sieben voller Wochen. Und wenn sie es nicht gut machten, so gehe du hin und mache es besser.


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