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Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Der Junge, der zum Nordwind ging und das Mehl zurückforderte

Es war einmal eine alte Frau, die hatte einen Sohn; sie war gebrechlich und schwach, und so sollte der Junge, ihr Sohn, zum Vorratshaus gehen und Grützenmehl fürs Mittagessen holen. Aber als er wieder die Vorratstreppe hinabstieg, kam der Nordwind angefaucht, nahm ihm das Mehl weg und verstreute es in alle Winde. Der Junge ging ins Vorratshaus zurück, um wieder Mehl zu holen, aber als er die Treppe hinabstieg, kam der Nordwind wieder angefaucht und nahm ihm das Mehl weg; und so ging es auch das dritte Mal. Darüber wurde der Junge traurig, und ihm erschien es widersinnig, wie der Nordwind mit ihm verfuhr, und so gedachte er, ihn aufzusuchen und das Mehl zurückzfordern.

Ja, er ging also los; aber der Weg war lang, und er ging und ging. Endlich kam er doch zum Nordwind.

»Guten Tag«, sagte der Junge, »und Dank für das letzte Mal!«

»Guten Tag«, antwortete der Nordwind - er führte eine grobe Sprache -selber Dank fürs letzte Mal. Was willst du?« sagte er.

»Ach, ich will dich nur bitten, ob du so gut sein willst, mir das Mehl zurückzugeben, welches du mir auf der Vorratshaustreppe wegbliesest; denn wenig haben wir, und wenn du so mit uns verfährst und uns auch noch das wenige nimmst, so bleibt uns nichts anderes übrig, als vor Hunger zu sterben.«

»Ich habe kein Mehl«, sagte der Nordwind, »aber weil du so bedürftig bist, so sollst du ein Tuch haben, welches dir alles schafft, was dir wünschst, wenn du nur sprichst:

»Tuch, deck mir auf, es hungert mich
nach manchem köstlichen Gericht.«

Damit war der Junge wohl zufrieden. Doch da der Weg so lang war, daß er bei Tag nicht mehr heimkam, ging er in ein Gasthaus am Wege. Und da es gerade Zeit war, zu abend zu essen, legte er das Tuch auf einen Tisch, der im Winkel stand, und sagte:

»Tuch, deck mir auf, es hungert mich
nach manchem köstlichen Gericht.«

Kaum hatte er es ausgesprochen, so machte es das Tuch so, und allen du



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schien es eine herrliche Sache zu sein. Aber niemand liebte das Tuch mehr, als die Gastwirtin. Da hatte man keine große Mühe mit Braten und Kochen, mit Tisch decken, holen und vorsetzen, dachte sie. Und als die Nacht voranschritt und alle schliefen, nahm sie das Tuch und legte ein anderes an seine Stelle, welches genau dem Tuch glich, welches der Junge vom Nordwind geschenkt bekommen hatte, welches aber nicht einmal einen Haferfladen aufdecken konnte.

Als der Junge erwachte, nahm er das Tuch und ging mit ihm davon, und an diesem Tage kam er nach Hause zur Mutter.

»Nun bin ich beim Nordwind gewesen«, sagte er, »und das war ein vernünftiger Mann, denn er gab mir dieses Tuch, und wenn ich nur sage:

»Tuch, deck mir auf, es hungert mich
nach manchem köstlichen Gericht

so bekomme ich alles aufgetischt, was ich mir wünsche.«

»Ja, ich weiß schon«, sagte die Mutter, »aber ich glaube es nicht, ehe ich es gesehen habe«.

Der Junge beeilte sich, setzte sich an den Tisch, legte das Tuch darauf und sagte:

»Tuch, deck mir auf, es hungert mich
nach manchem köstlichen Gericht.«

Aber das Tuch deckte nichts auf, nicht einmal einen Bissen Flachbrot.

»Da bleibt nichts anderes zu tun übrig, als daß ich wieder zum Nordwind gehe«, sagte der Junge und ging davon.

Nach langer Zeit kam er dorthin, wo der Nordwind wohnte.

»Guten abend!« sagte der Junge.

»Guten abend!« sagte der Nordwind.

»Ich will etwas haben für das Mehl, das du mir nahmst«, sagte der Junge, »denn das Tuch, welches ich bekam, taugte nicht viel«.

»Ich habe kein Mehl«, sagte der Nordwind, »aber da hast du einen Bock, welcher Gold-Dukaten macht, wenn du nur sagst: »Mein Bock, gib Geld!«

Da hatte der Junge nichts dagegen. Aber da es so weit nach Hause war, daß er es am selben Tag nicht mehr erreichen konnte, so kehrte er wieder in dem Gasthaus ein. Ehe er etwas verlangte, prüfte er den Bock, denn er wollte sehen, ob das wahr sei, was der Nordwind sagte, und das stimmte wirklich. Aber als die Gastwirtin das sah, schien es ihr, das wäre ein prächtiger Bock. Und kaum war der Junge eingeschlafen, so nahm sie einen anderen Bock, welcher keine Gold-Dukaten gab, und tat ihn an seine Stelle.



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Am Morgen darauf zog der Junge los, und als er heim zur Mutter kam, sagte er ihr: »Der Nordwind ist doch immerhin ein lieber Mann. Nun gab er mir einen Bock, der Gold-Dukaten machen kann, wenn ich nur sage: »Mein Bock, gib Geld!«

»Das weiß ich schon«, sagte die Mutter, »das ist nur so ein Geschwätz, und ich glaube es nicht, ehe ich es gesehen habe«.

»Mein Bock, gib Geld!« sagte der Junge, aber das waren keine Münzen, die der Bock machte.

So war der Junge wieder unterwegs zum Nordwind und sagte, daß der Bock nichts tauge und daß er Ersatz für das Mehl haben wolle.

»Ja, nun habe ich nichts anderes mehr dir zu geben, als diesen Knüppel, der dort in der Ecke steht«, sagte der Nordwind, »aber der ist so beschaffen, wenn du sagst: »Mein Knüppel, schlag zu!«, so schlägt er bis du sagst: »Mein Knüppel, steh still!«

Weil der Weg so weit war, ging der Junge ins Gasthaus, auch an diesem Abend. Aber da er sich denken konnte, wie es mit dem Tuch und dem Bock zugegangen war, so legte er sich mit einem Male auf die Bank, um zu schnarchen und tat so als ob er schliefe. Der Gastwirtin schien der Knüppel auch zu etwas nütze zu sein, so nahm sie einen, der demjenigen glich, und wollte ihn an seine Stelle legen, da sie hörte, daß der Junge bereits schnarchte. Aber im selben Augenblick, als die Gastwirtin den Knüppel nehmen wollte, rief der Junge: »Mein Knüppel, schlag zu!« Und der Knüppel begann die Gastwirtin zu schlagen und zu prügeln, so daß sie über Tisch und Bänke sprang und rief und schrie: »O, Herrgott, o, Herrgott! Bitte mit dem Knüppel aufzuhören, sonst schlägt er mich zu Tode. Du sollst beides zurückhaben, Tuch und Bock!« Als es dem Jungen schien, daß die Gastwirtin genügend Prügel bezogen hätte, so sagte er: »Mein Knüppel, steh still!«, nahm das Tuch, steckte es in die Tasche, nahm den Knüppel in die Hand, band einen Strick um die Hörner des Bockes und ging mit allem zusammen heim. Das war ein schöner Ersatz fürs Mehl.


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