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Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Das Goldschloß, das in den Lüften hing

Es war einmal ein armer Mann, der hatte drei Söhne. Als er starb, wollten die beiden ältesten Söhne in die Welt hinaus, um ihr Glück zu versuchen. Aber den Jüngsten wollten sie auf keinen Fall mitnehmen. »Du da«, sagten sie ,»du taugst zu nichts anderem, als zu sitzen und für die Kienspäne zu sorgen und in der Asche zu stochern und in die Glut zu blasen, du!« »Ja, so muß ich wohl allein, ganz für mich selbst gehen«, sagte Askeladd, »so werde ich auf diese Weise auch nicht uneinig mit meiner Gesellschaft«.

Die zwei ältesten zogen los, und als sie einige Tage gewandert waren, kamen sie in einen großen Wald. Da setzten sie sich nieder um auszuruhen, und dann nahmen sie von dem Mundvorrat aus der Wandertasche, die sie mitgenommen hatten, denn sie waren hungrig und müde. Als sie so da saßen, kam ein altes Weiblein herauf aus einem kleinen Hügel, und sie bat um ein wenig Essen; sie war so alt und schwach, daß sie mit dem Mund zitterte und mit dem Kopf wackelte und sich auf einen Stock stützen mußte, um vorwärts zu kommen. Sie hätte seit hundert Jahren keine Brotkrume mehr in den Mund bekommen, sagte sie. Aber die beiden Jungen lachten nur, aßen und sagten, wenn sie es so lange ohne Essen ausgehalten hätte, könnte sie den Rest ihres Lebens auch noch so verbringen, es sei denn, daß sie die Brotkrumen nach ihnen aufessen wollte; sie hätten wenig Mundvorrat und nichts zu verlieren. Als sie sich satt gegessen hatten und ausgeruht waren, gingen sie weiter, und schließlich kamen sie zum Königshof. Dort bekamen sie Arbeit, alle beide.

Eine Weile, nachdem die Brüder den Hof daheim verlassen hatten, sammelte Askeladden die Brotkrumen, welche die Brüder zurückgelassen hatten, und legte sie in seine kleine Wandertasche, nahm auch die alte Flinte mit, wo kein Schloß mehr dran war, denn er dachte, es sei immer gut, so etwas mit auf dem Weg zu haben, und so verließ er den Hof. Als er einige Tage gegangen war, kam er auch in den großen



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Wald, den die Brüder durchwandert hatten, und als er müde und hungrig wurde, setzte er sich unter einen Baum, wollte sich ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Aber seine Augen waren noch wach. Und als er seine Brottasche geöffnet hatte, sah er ein Bild an einem Baum hängen, darauf war eine Jungfrau gemalt, die ihm so schön erschien, daß er seine Augen nicht davon wenden konnte. Er vergaß Essen und Tasche, nahm das Bild herab, lachte und staunte es an. Da geschah es, daß das alte Weiblein aus dem Hügel heraufkam, sie zitterte mit dem Mund und wackelte mit dem Kopfe und stützte sich auf ihren Stock beim vorwärts kommen, und so bat sie um ein wenig Essen, denn sie hätte seit hundert Jahren kein Brot mehr in den Mund bekommen.

»Da wird es aber Zeit, daß du etwas bekommst, damit du wieder auflebst, alte Mutter«, sagte der Knabe und gab ihr von den Brotbrocken, die er in seiner Tasche mitgenommen hatte. Die Alte sagte, seit hundert Jahren hätte sie niemand Mutter genannt, und so wolle sie ihm dafür eine mütterliche Gabe schenken. Sie reichte ihm ein graues Wollgarnknäuel, welches er vor sich abrollen lassen sollte, so käme er dorthin, wohin er selbst wolle. Aber das Bild, sagte sie, solle er nicht beachten, er käme nur damit ins Unglück. Askeladd schien sonst alles gut und schön zu sein, aber das Bild wollte er nicht zurücklassen. So nahm er es unter den Arm und ließ das Wollknäuel vor sich her abrollen. Und es dauerte nicht lang, so kam er zum Königshof, wo seine Brüder dienten. Dort bat auch er um Dienste. Aber ihm wurde geantwortet, sie könnten ihn nicht brauchen, sie hätten kürzlich erst zwei Dienstjungen eingestellt; aber er bat so schön, und schließlich bekam er die Erlaubnis, beim Stallmeister zu lernen, wie man die Pferde versorgt. Das wollte Askeladd gerne, denn er liebte Pferde, und er war flink und fleißig, und er lernte bald alles richtig zu versorgen, und es dauerte nicht lange, daß sie ihn am Königshof alle schätzten. Aber jede Stunde, die er frei hatte, ging er zum Heuboden über dem Stall hinauf und sah nach dem Bild, welches er dort in einem Winkel aufgehängt hatte.

Seine Brüder waren faul und dumm, dafür bekamen sie oft Schelte und Schläge, und als sie sahen, daß Askeladd besser behandelt wurde, als sie selbst, wurden sie eifersüchtig auf ihn und sagten zum Stallmeister, daß er Götzenverehrung triebe, denn er bete zu einem Bilde und nicht zu unserm Herrn Jesus-Christus. Obgleich der Stallmeister dem Jungen wohlgesinnt war, währte es nicht lang, daß er dies dem König berichtete. Aber der König wollte davon zunächst gar nichts hören. Er war nur traurig und sorgenvoll, denn seine Töchter waren ihm von einem Troll geraubt worden.



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Aber so lange lagen sie dem König mit dieser Sache in den Ohren, bis er es erforschte, was es mit dem Jungen auf sich hätte. Als der König hinaufkam zu dem Heuboden über dem Stall und das Bild zu sehen bekam, erkannte er darauf seine jüngste Tochter. Als die Brüder das hörten, dachten sie sich einen bösen Plan aus. Sie sagten zum Stallmeister: »Wenn der Bruder nur will, so kann er dem König die Tochter wieder herschaffen«. So kann man sich denken, daß es nicht lange dauerte, bis der Stallmeister mit dieser Nachricht zum König ging. Und als der König das hörte, ließ er Askeladden zu sich rufen und sagte: »Deine Brüder sagen, daß du mir meine Tochter wieder herschaffen kannst, und nun sollst du es auch tun«. Askeladd sagte, daß er gar nicht gewußt hätte, daß dies seine Tochter sei, ehe der König es ihm selbst gesagt hätte, und wenn er sie erlösen und holen könne, so wolle er gewiß sein Bestes tun. Aber zwei Tage müsse er Zeit haben, um zu überlegen und sich zu rüsten. —Die solle er gerne haben.

Der Junge nahm sein Wollknäuel und warf es auf den Weg. Es rollte voran und der Junge folgte ihm bis er zu dem alten Weiblein kam, von dem er das Wollknäuel einst geschenkt bekommen hatte. Er fragte sie, was er nun machen solle. Und sie antwortete, daß er seine alte Flinte mitnehmen solle und dreihundert Kasten mit Nägeln und Hufnägeln und dreihundert Tonnen Korn und dreihundert Tonnen Graupen und dreihundert Tonnen geschlachtete Schweine und dreihundert Tonnen geschlachtete Ochsen. Dann solle er das Garnknäuel im Weg voranrollen lassen bis er einen Raben und einen kleinen Troll treffen würde, dann sei er auf dem rechten Weg, denn die zwei seien verwandt mit ihr.

Gut also, der Junge tat, wie sie gesagt hatte, er ging wieder zum Königshof, nahm seine alte Flinte und bat den König um Nägel, Fleisch und Korn und Knechte, Pferde und Wagen, das alles aufzuladen und mit zunehmen. Dem König schien es zuerst, das sei doch zu viel verlangt, aber wenn er die Tochter wieder herschaffen könne, so solle er all das haben, was er wünsche, und wenn es sein halbes Reich ware.

Als der Junge sich nun so ausgerüstet hatte, warf er das Wollknäuel voran auf seinen Weg, und er war noch nicht viele Tage gegangen, als er zu einen hohen Berg kam. Da saß ein Rabe oben in einer Föhre. Askeladd ging dichter an ihn heran und zielte nach ihm mit seiner Flinte. »Nein, schieß nicht, schieß nicht, so werde ich dir helfen«, schrie der Rabe. »Ich habe nie jemanden Rabenfleisch loben hören, und da du so um dein Leben bangst, so will ich dich wohl leben lassen«, sagte Askeladd. Er warf die Flinte beiseite und der Rabe flog herunter zu



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ihm und sagte: »Hier oben in den Bergen hat sich ein Trollkind verirrt, das nicht wieder herunter kommen kann. Ich helfe dir hinnauf, so kannst du das Trollkind heimbringen in den Trollhof und dir damit einen Lohn verdienen, den du wohl brauchen kannst. Wenn du zum Troll kommst, so bietet er dir das Kostbarste, was er hat. Aber das sollst du nicht wählen. Du sollst nichts anderes nehmen, als den kleinen grauen Esel, der hinter der Stalltür steht«. —Dann nahm der Rabe den Jungen auf den Rücken, flog mit ihm auf den Berg und setzte ihn dort ab. Als er ein Stück gegangen war, hörte er das Trolljunge, wie es da wimmerte und sich verzweifelt gebärdete, weil es nicht herunter kommen konnte. Der Junge tröstete es, sie wurden Freunde und mochten einander wohl leiden. Und er begann ihm vom Berg herunter zu helfen. So wollte er das Trolljunge nach Hause in den Trollgarten bringen, damit es sich auf dem Heimwege nicht wieder verirren könne. So gingen sie zum Raben, und er trug beide auf dem Rücken hinab, direkt hin zum alten Bergtroll. Als der Troll sein Kind wiedersah, war er so glücklich, daß er sich beinah selbst vergaß, und er sagte zu dem Jungen, daß er mit zu ihm herein kommen solle, er könne sich auswählen, was er wolle als Lohn dafür, daß er seinen Sohn gerettet hätte. Er bot ihm Silber und Gold und alles was schön und kostbar war, aber der Junge sagte, er wolle höchstens ein Pferd. Ja, er solle auch ein Pferd haben, sagte der Troll, und er bat ihn, mit in den Stall zu kommen. Der Stall war voller prächtiger Pferde, die schimmerten wie Sonne und Mond, aber dem Jungen schienen alle zu groß für ihn zu sein. Da schaute er hinter die Stalltür und entdeckte den kleinen grauen Esel, der dort stand. »Den will ich haben«, sagte er, »der paßt mir gut, wenn ich da herunterfalle, bin ich nicht weit weg vom Erdboden«. Der Troll wollte ihn zuerst nicht gerne hergeben, aber da er es nun einmal gesagt hatte, mußte er zu seinem Wort stehen. So bekam also der Junge den Esel mit Sattel, Zügel, Zaumzeug und allem, was dazu gehörte. Damit ritt er von dannen.

Er ritt durch Wald und Feld, über Berg und Hügel. Als er eine Weile unterwegs war, fragte ihn das Eselein, ob er nichts sähe. »Nein, ich sehe nichts anderes als einen hohen Berg, um den es blaut«, sagte der Junge. »Ja, auf den Berg müssen wir hinauf«, sagte der Esel. »Soll ich das glauben?« sagte der Junge. Als sie auf dem Berg anlangten, stürmte ein Einhorn heran, als ob es sie lebendig verschlingen wollte.

»Nun glaube ich, daß ich Angst habe«, sagte der Junge.

»Ach, nichts da«, sagte der Esel, »wirf dem Einhorn einige Stücke Ochsenfleisch vor und bitte es, ein Loch in den Berg zu bohren und ei-



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nen Weg da durchzubrechen«. Der Junge tat das, und als das Einhorn sich satt gefressen hatte, versprach der Junge ihm noch einige Stücke Schweinefleisch, wenn es den Weg fertig durchbrechen würde, sodaß sie durch den Berg gelangen könnten. Als das Einhorn das hörte, bohrte es ein Loch und brach einen Weg durch den Berg, so schnell, daß sie kaum folgen konnten. Und als es damit fertig war, warfen sie ihm noch einige Stücke Schweinefleisch vor. Nachdem sie so gut vorangekommen waren, reisten sie weit in das Land hinein, und sie kamen wieder durch Wald und Feld, über Berge und wilde Hügel. »Siehst du nun etwas?«fragte der Esel. »Nun sehe ich nichts anderes als Himmel und wilde Berge«, sagte der Junge. Dann ritten sie lange und länger als lang, und als sie höher hinauf kamen, wurden die Berge ebener und flacher und sie konnten weiter um sich herum sehen. »Siehst du nun etwas?«fragte der Esel. »Ja, ich sehe etwas weit weit weg«, sagte der Junge, »das glitzert und scheint wie ein kleiner Stern«. »Der ist gar nicht so klein«, sagte der Esel.

Als sie lange geritten waren und länger als lang, fragte er wieder: »Siehst du nun etwas?« —»Ja, jetzt sehe ich etwas weit weit weg, das scheint wie ein Mond«, sagte der Junge. »Das ist kein Mond«, sagte der Esel, »das ist das Silberschloß, wohin wir reiten sollen«, sagte er. »Wenn wir dorthin kommen, werden wir sehen, daß drei Drachen als Wache vor dem Tor liegen, die seit hundert Jahren aufgewacht sind, sodaß Moos über ihre Augen gewachsen ist«. — »Ich meine, ich werde Angst vor ihnen bekommen«, sagte der Junge. »Ach, nichts da«, sagte der Esel, »du mußt den jüngsten Drachen wecken und ihn mit einigen Stücken Ochsenfleisch füttern und mit Schweinefleisch, so wird er schon mit den anderen sprechen, sodaß du ins Schloß kommst«.

Sie reisten lange und länger als lang, ehe sie vors Schloß kamen. Aber als sie dort waren, erschien es ihnen so prächtig und groß, und alles, was sie sahen, war aus Silber gegossen. Und draußen vorm Schloß lagen die Drachen und versperrten den Weg, sodaß niemand hineinkommen konnte. Ruhig und still hatten sie hier gelegen, man hatte sie bei der Wache nicht gestört, denn sie waren über und über mit Moos bewachsen, sodaß man gar nicht sehen konnte, wo sie anfingen und wo sie aufhörten, und um sie herum wuchs zwischen Moosbüscheln ein kleiner Wald auf.

Der Junge weckte den kleinsten Drachen, der rieb sich die Augen und schob die Moosbüschel weg. Als der Drache sah, daß da ein Mensch stand, kam er auf ihn zu mit weit offenem Rachen und schnappte nach ihm. Aber der Junge war wohl vorbereitet, warf ihm Ochsenfleisch



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stücke zu und schleuderte ihm Schweinefleischstücke in den Rachen, bis er ihn gesättigt hatte. Da wurde er zugänglicher für ein Gespräch. Der Junge bat ihn, die andern beiden Drachen später zu wecken und sie zu bitten, zur Seite zu rücken, sodaß er ins Schloß kommen könne. Aber das getraute er sich nicht, und das mache er nicht, sagte der kleine Drache gleich von vornherein, denn die beiden wären seit hundert Jahren nicht mehr aufgewacht und hätten seit hundert Jahren nichts mehr gegessen. Er fürchtete, sie würden so verwirrt sein, daß sie ohne Unterschied, Lebendiges und Todes verschlingen würden. Der Junge meinte, damit hätte es keine Not, er könne ihnen hundert geschlachtete Ochsen und hundert geschlachtete Schweine bereit legen. Inzwischen würde er ein Stück weiterreisen, so könnten sie sich sättigen und sich sammeln bis er wieder zurückkäme. Ja, das wollte der kleine Drache auch, und so machten sie es. — Aber bevor die Drachen richtig wach wurden und das Moos aus den Augen bekamen, da fuhren sie umher und schnappten nach diesem und jenem, und der jüngste Drache mußte sich vor ihnen hüten bis sie genug Fleisch zu fressen bekommen hatten. Sie verschluckten ganze Ochsen und Schweine bis sie endlich satt waren. Dann wurden sie umgänglicher und gut gelaunt und ließen den Jungen ins Schloß hineinschlüpfen, grad in der Mitte durch zwischen beiden. Drinnen war es so prächtig, daß er glaubte niemals etwas Prächtigeres gesehen zu haben. Aber alles war menschenleer. Er ging von einem Raum in den anderen, schloß alle Türen auf, aber er sah niemanden. Zum Schluß schaute er in ein Kämmerlein hinein, dessen Tür er vorher gar nicht bemerkt hatte. Darin saß eine Prinzessin und spann. Sie wurde froh und glücklich, als sie ihn sah.

»Nein, so etwas, daß sich Christenvolk hierhertraut!« rief sie, »aber es wird das beste sein, du gehst gleich wieder fort, sonst wird der Troll dich töten; denn hier wohnt ein Troll mit drei Köpfen«. Der Junge meinte, er würde auch nicht fliehen, wenn der Troll sieben Köpfe hätte. Als die Prinzessin das hörte, wollte sie, daß er versuchen solle, ob er das große, rostige Schwert schwingen könne, das dort hinter der Tür hing. Nein, er konnte es nicht, er konnte es nicht einmal anheben. »Ja, sagte die Prinzessin, wenn du das nicht vermagst, so mußt du einen Schluck aus der Flasche nehmen, die zu seiten des Schwertes hängt, denn das tut der Troll auch immer, ehe er hinausgeht und das Schwert braucht«. Der Junge nahm ein paar Schlucke, dann konnte er das Schwert so leicht schwingen, als ob es ein Vogelflügel wäre.

Da plötzlich kam der Troll angebraust: »Hu, hier riecht es nach Christenmanns Blut!« schrie er. »Das tut es«, sagte der Junge, »aber



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du hast keinen Grund, dich deshalb aufzublasen, dich soll der Geruch nicht mehr lange stören!« sagte er und hieb ihm alle drei Köpfe ab.

Die Königstochter war darüber so glücklich, als ob sie etwas Gutes bekommen hätte, aber nach einer kleinen Weile wurde sie wieder traurig und sehnte sich nach ihrer Schwester, die von einem Troll mit sechs Köpfen geraubt worden war. Sie wohnte in einem Goldschloß, dreihundert Meilen weit entfernt vom Ende der Welt. Der Junge meinte, das sei doch nicht schlimm; er könne beides erreichen, das Schloß und die Königstochter. So nahm er also das Schwert und die Flasche mit, setzte sich auf seinen Esel und bat die Drachen, ihm zu folgen und die Fracht zu tragen, das Fleisch und die Nägel, all das, was er mitgenommen hatte.

Als sie eine Weile unterwegs und langsam geritten waren über Land und Strand, fragte der Esel eines Tages: »Siehst du etwas?«

»Ich sehe nichts anderes als Land und Wasser und Himmel und hohe Hügel«, sagte der Junge. Da ritten sie noch lange und länger als lang. »Siehst du nun etwas?« fragte der Esel. Ja, als er sich vorbeugte, sah er etwas ganz weit weg, das schien wie ein kleiner Stern. »Das wird noch größer werden«, sagte der Esel. Als sie wieder ein langes Stück Weges vorangekommen waren, fragte der Esel: »Siehst du nun etwas?« — »Nun sehe ich etwas, das wie ein Mond scheint«, sagte der Junge. »Ja, ja«, sagte der Esel. Als sie lang geritten waren und länger als lang, über Land und Strand, über Hügel und Hügelchen, fragte der Esel: »Was siehst du nun?« — »Nun scheint es mehr eine Sonne zu sein«, sagte der Junge. »Ja, das ist das Goldschloß, dahin müssen wir«, sagte der Esel, »aber davor wird ein Lindwurm liegen, der den Weg versperrt und Wache hält.« — »Ich glaube, ich habe Angst«, sagte der Junge. »Ach, nichts da«, sagte der Esel, »wir müssen über ihn eine Fülle von Zweigen breiten und dazwischen eine Fülle von Hufnägeln und es anzünden, so werden wir ihn los sein«. Nach und nach kamen sie zu dem Schloß, was da oben hing. Aber der Lindwurm lag davor und versperrte den Weg dorthin. So gab der Junge den Drachen ein gutes Mahl mit Ochsen- und Schweinefleisch dafür, daß sie ihm helfen sollten. Und sie breiteten über den Lindwurm eine Fülle von Zweigen und eine Fülle von Nägeln und Hufnägeln, sodaß sie all die dreihundert Kästen Nägel aufbrauchten, die sie mitgenommen hatten. Als das getan war, entzündeten sie ein Feuer und verbrannten den Lindwurm bei lebendigem Leibe.

Als sie damit fertig waren, flog der eine Drache sogleich hin und öffnete das Schloß. Und die beiden anderen flogen hoch in die Wolken



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und lösten die Haken, an denen es aufgehangen war, und so setzten sie es nieder auf die Felder. Als das getan war, ging der Junge hinein, und hier war es noch prächtiger als in dem Silberschloß. Aber niemandem begegnete er. Aber als er in den innersten Raum trat, da lag die Königstochter auf einem Goldbett. Sie schlief so fest, als ob sie tot wäre, aber das war sie nicht. Er brachte es nicht fertig, sie zu wecken, denn sie war weiß und rot wie Milch und Blut. Während er noch stand und sie bewunderte, kam der Troll angebraust. Kaum hatte er das erste Haupt zur Tür hereingestreckt, so schrie er auch schon: »Huff, hier riecht es nach Christenmenschen!« —»Vielleicht«, sagte der Junge, »aber du brauchst deswegen nicht so sehr durch deine Nase zu schnauben, dich soll der Geruch nicht mehr lange stören«, und er hieb ihm alle Köpfe ab, als ob sie auf Kohlstrünken säßen.

Nun nahmen die Drachen das Goldschloß auf den Rücken und fuhren mit ihm heim - sie waren nicht sehr lange unterwegs, glaube ich - und sie setzten es zur Seite des Silberschlosses nieder, sodaß es weit und breit schimmerte.

Als die Königstochter in dem Silberschloß am Morgen zum Fenster trat und es erblickte, war sie so froh, daß sie sogleich zum Goldschloß hinüber sprang. Aber als sie die Schwester erblickte, welche da lag und schlief als ob sie tot wäre, sagte sie zu dem Knaben, daß kein Leben wieder in sie kommen könne, bevor sie nicht Lebens- und Todeswasser empfangen hätte. Und das sei zu bekommen aus zwei Brunnen, die zu beiden Seiten eines Goldschlosses liegen würden, welches in den Lüften hinge neunhundert Meilen vom Ende der Welt entfernt. Und dort würde die dritte Schwester wohnen. Ja, da wüßte er keinen anderen Rat, meinte der Junge, er müßte das auch holen. Und es dauerte nicht lange, so war er auch schon auf dem Wege dorthin. Er reiste lange und länger als lang, durch viele Reiche, durch Feld und Wald, über Berge und Wattensand, über Stein und Wellen. Zum Schluß kam er an das Ende der Welt. Und von da aus reiste er lang und länger, über Hügel und Bülken und hohe Felsen. »Siehst du etwas?«fragte der Esel eines Tages. »Ich sehe nichts anderes als Himmel und Erde«, sagte der Junge. »Siehst du nun etwas?«fragte der Esel ein paar Tage später. »Ja, nun scheint es, daß ich etwas schimmern sehe, hoch oben und sehr weit weg, gleichsam wie ein kleiner Stern«, sagte der Junge. »So klein ist das gar nicht«, sagte der Esel. Als sie immer noch eine Weile ritten, fragte der Esel: »Siehst du nun etwas?« — »Ja, nun glaube ich, daß es wie ein Mond schimmert«. »Ja so«, sagte der Esel und sie ritten noch einige Tage weiter. »Siehst du nun etwas?«fragte der Esel. »Ja, nun scheint es



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wie eine Sonne«, antwortete der Junge. »Dorthin sollen wir«, sagte der Esel, »das ist das Goldschloß, das in den Lüften hängt. Dort wohnt eine Königstochter, die von einem Troll geraubt wurde, der neun Köpfe hat. Aber alle wilden Tiere, die es in der Welt gibt, liegen dort auf der Wacht und versperren den Eingang«, sagte der Esel. »Uff, ich glaube, nun fürchte ich mich doch«, sagte der Junge. »Ach, nichts da«, sagte der Esel und dann meinte er, daß nur Gefahr drohe, wenn er dort bliebe. Aber wenn er sofort wieder gehe, sobald er die Krüge gefüllt hätte, würde es gelingen. Denn er könne es nur ausführen in einer Stunde des Tages, und das sei die Mittagsstunde. Würde er es nicht in dieser Zeit vollbringen und dann aus dem Wege sein, so würde er in tausend Stücke zerrissen werden. Ja, das müsse er tun, sagte der Junge, er wolle nicht zu lange damit warten.

Glock zwölf kamen sie hin. Da lagen all die wilden Tiere, die es gab, draußen vor dem Tor und an der Seite des Weges. Aber sie schliefen wie Stock und Stein, da war nicht eins, das die Tatzen ein wenig bewegte. Der Junge ging durch sie alle hindurch, und er achtete gut darauf, daß er ihnen weder auf die Zehen trat noch auf das Hinterteil, er füllte seine Krüge mit Lebens- und Todeswasser. Und während er das tat, schaute er nach dem Schloß, welches aus blankem Gold gegossen war. Das war das prächtigste, was er je gesehen hatte, und er meinte, innen müsse es noch prächtiger sein. »Pytt, ich habe noch Zeit vor mir«, dachte Askeladd, »eine halbe Stunde lang kann ich mich noch darin umsehen«. Und so öffnete er die Pforte und ging hinein. Aber dort war es goldener als Gold. Er ging von einem prachtvollen Raum zum anderen, alles strotzte nur so von Gold und Perlen und allem Kostbarsten, was es gab. Er traf niemanden, aber schließlich kam er in ein Kämmerlein, da lag eine Köngstochter und schlief auf einem Goldbett, als wenn sie tot wäre. Sie war so schön wie die schönste Königin, rot und weiß wie Blut und Schnee, ja, sie war so schön, wie er noch keine gesehen hatte, außer auf seinem Bild. Sie war es, die da gemalt war. Der Junge vergaß alles, das Wasser, das er holen sollte, die Tiere und das ganze Schloß. Er schaute nur die Königstochter an, ihn dünkte, er könne sich nicht satt an ihr schauen. Aber sie schlief wie tot und er vermochte sie nicht zu wecken.

Als es Abend wurde, kam der Troll angebraust und schlug gegen die Türen und Pforten, sodaß es im ganzen Schloß krachte. »Huff, hier riecht es nach Christenmenschen!« sagte er und streckte das erste Haupt zur Tür herein. »Das kann schon sein«, sagte der Junge, »aber du brauchst dich deswegen nicht so aufzublasen, daß dir der Bauch platzt.



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Du sollst nicht mehr unter dem Geruch zu leiden haben«, und dann hieb er ihm alle neun Köpfe ab. Aber als er damit fertig war, wurde er so müde, daß er die Augen nicht mehr aufhalten konnte. Da legte er sich zur Seite der Königstochter auf das Bett. Sie schlief aber, Nacht und Tag, als ob sie nie erwachen könne.

Aber in der Mitternacht wurde sie einen Augenblick wach, und da sah sie ihn, der sie erlöst hatte; aber sie müßte noch drei Jahre hier bleiben. Käme sie nach dieser Zeit nicht heim zu ihm, so müsse er sie holen, sagte sie.

Er erwachte erst am anderen Tage, als die Uhr auf eins zu ging. Und da hörte er, daß der Esel schrie und sich wie wild gebärdete. Er schrie so schlimm, daß der Junge dachte, es sei wohl das beste, sich auf den Heimweg zu machen. Aber zuvor schnitt er ein Zipfelchen vom Gewand der Königstochter ab und nahm es mit sich. Wie es nun auch sein mochte oder nicht, er hatte so lange gezögert, daß die Tiere vor dem Schloße zu erwachen begannen und aufstanden. Als er hinaus zum Esel kam, umringten sie beide, sodaß es ihm ganz gespenstisch erschien. Aber der Esel sagte, er solle einige Tropfen Todeswasser über sie spritzen. Das tat er, und so stürzten die wilden Tiere zu Boden und rührten kein Glied mehr.

Während sie auf dem Heimwege waren, sagte der Esel zum Jungen: »Wenn du jetzt zu Ehren und Herrlichkeit kommst, wirst du mich vergessen und all das, was ich für dich getan habe. Du wirst es sehen, ich werde auf die Knie kommen vor Hunger.« —Nein, das solle nie geschehen, meinte der Junge.

Als er heim kam zur Königstochter mit dem Krug voll Lebenswasser besprengte sie ihre Schwester mit einigen Tropfen, sodaß sie erwachte. Da war Freude und Jubel überall, das kann man sich denken.

Nun reisten sie heim zum König und er war ebenso froh und glücklich, daß er die beiden Töchter wieder hatte. Aber er wartete voll Ungeduld, daß die drei Jahr zu Ende gehen sollten, bis daß seine jüngste Tochter auch heimkommen sollte.

Askeladden, der sie befreit hatte, machte er zu einem mächtigen Mann, sodaß er der Mächtigste im Lande war nächst dem Könige. Aber da gab es manchen, der ihn beneidete, daß er so mächtig war. So war auch einer, der hieß Ritter Rot -, er wollte die älteste Königstochter heiraten. So sagte er ihr, sie solle auf Askeladden einige Tropfen Todeswasser spritzen, wenn er schliefe. Und das tat sie.

Als die drei Jahre vergangen waren, kam ein fremdes Kriegsschiff angesegelt. Auf dem war die dritte Schwester, und sie hatte ein drei



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Jahre altes Kind bei sich. Sie schickte Boten nach dem Königshof und ließ sagen, sie wolle keinen Fuß an Land setzen, bevor sie ihr nicht den senden würden, der auf dem Goldschloß war und sie befreit hätte. So sandten sie ihr den höchsten vom Königshof hinab. Und als er auf das Schiff zur Königstochter kam, nahm er den Hut ab und bückte und verbeugte sich vor ihr.

»Kann das dein Vater sein, mein Sohn?« fragte die Königstochter das Kind, welches mit einem Goldapfel spielte. »Nein, mein Vater kriecht nicht wie eine Käsemade«, sagte das Kind. Dann schickten sie einen ab von derselben Sorte, das war Ritter Rot. Aber ihm erging es nicht anders als dem ersten. Nun sandte die Königstochter Botschaft, daß es ihnen schlimm ergehen würde, wenn sie ihr nicht den rechten senden würden. Als sie das hörten, mußten sie Askeladden mit dem Lebenswasser wecken. Und so ging er hinab zum Schiff der Königstochter. Aber er verbeugte sich nicht. Er nickte nur mit dem Kopf und zog den Zipfel hervor, den er aus dem Kleid der Königstochter geschnitten hatte, als er bei ihr auf dem Goldschloß gewesen war. »Das ist mein Vater«, sagte der kleine Junge und gab ihm den Goldapfel, mit dem er gespielt hatte.

Da war große Freude im ganzen Lande. Und der alte König war der glücklichste von allen, denn er hatte alle seine liebsten Kinder zurück bekommen. Als es an den Tag kam, was Ritter Rot und die älteste Königstochter mit Askeladden gemacht hatten, wollte der König, daß jeder in eine Nageltonne gesperrt und den Berg hinabgerollt würde. Aber Askeladd und die jüngste Königstochter baten für die beiden, und so blieben sie am Leben.

Als nun am Königshof die Hochzeit gefeiert werden sollte, da stand eines Tages Askeladd am Fenster, — es war Frühling -, da sollten die Pferde und alle Herden aus dem Stalle auf die Weide getrieben werden. Und das letzte Tier, das aus dem Stall kam, war der Esel. Aber er war so verhungert und schwach, daß er nur noch auf den Knien aus der Stalltür herauskam. Da erschrak Askeladd zutiefst, daß er ihn vergessen hatte.

Er ging hinab zu ihm und wußte nicht, wie er das wieder gut machen sollte. Aber der Esel sagte, das beste, was er machen könne, sei, ihm den Kopf abzuschlagen. Das wollte er nicht. Aber der Esel bat so innig, daß er es schließlich doch tun mußte. Aber im selben Augenblick als der Kopf niederfiel, war die Verzauberung, die über den Esel geworfen war, zu Ende, und es stand der schönste Prinz da, den man je gesehen hatte. Den bekam die mittlere Königstochter als Gemahl. Und so feierten



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sie dreifache Hochzeit, daß man in sieben Königreichen davon sprach.

Sie bauten in Ruh,
sie flickten die Schuh,
sie bekamen auch viele kleine Prinzen dazu.


Copyright: arpa, 2015.

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