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Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Jungfrau Maria als Patin

Weit, weit draußen an einem großen Walde wohnten einmal ganz arme Leute. Die Frau kam ins Kindbett und gebar ein Kind, eine schöne Tochter. Sie waren aber so arm, daß sie nicht wußten, wie sie das Kind zur Taufe bringen sollten. Eines Tages mußte der Mann hinausgehen und sehen, ob er nicht einen Gevatter bekommen könnte, der sich dem Kinde widmen würde. Er ging den ganzen Tag, bald zu dem einen, bald zu dem anderen, und alle sagten sie dasselbe, daß sie wohl bei der Taufe Gevatter stehen wollten aber sich dem Kind nicht widmen könnten. Als er am Abend heim kam, begegnete ihm eine schöne Frau, die war so prächtig gekleidet und sah so wundersam lieb und gut aus. Sie bot sich an, das Kind zur Taufe zu schaffen, aber von da ab wolle sie es auch haben. Der Mann antwortete, daß er erst seine Frau fragen müsse, ob sie einverstanden sei. Aber als er heimkam und es erzählte, sagte sie grad heraus nein.

Am anderen Tage ging der Mann wieder hinaus, aber niemand wollte Gevatter stehen, wenn er sich dann dem Kind widmen solle, und so viel er auch bat, es half alles nichts. Da er am Abend wieder heim ging, begegnete er erneut dieser schönen Frau, welche so freundlich ausschaute und ihm dasselbe Angebot machte. Er erzählte seiner Frau davon und sie sagte, wenn er am folgenden Tage niemanden finden würde als Gevatter für das Kind, so wolle sie es der Frau schon lassen, weil sie so gut und lieb aussähe.

Als der Mann am dritten Tage wieder hinausging, fand er wieder keinen Gevatter, und als er der Frau am Abend wieder begegnete, versprach er, ihr das Kind zu überlassen, wenn sie die Taufe besorgen würde nach Christenbrauch.

Am Morgen kam sie dorthin, wo der Mann wohnte, in Begleitung von zwei Männern, nahm das Kind und ging mit ihm zur Kirche, dort wurde es getauft. Dann nahm sie es mit sich nach Hause und dort lebte das kleine Mädchen mehrere Jahre bei ihr, und die Pflegemutter war immer lieb und gut zu ihr.

Als das Mädchen so groß geworden war, daß sie verständig wurde, rüstete sich die Pflegemutter zu einer Reise. »Du hast Erlaubnis, hinzugehen wohin du willst«, sagte sie zu dem Mädchen ,»nur in die drei Kammern nicht, die ich dir noch bezeichnen werde«. Und so reiste sie fort.



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Das Mädchen konnte es dennoch nicht lassen, ein klein wenig bei der einen Kammertür hineinzugucken, und hui! —da flog ein Stern heraus. Als die Pflegemutter zurückkam, wurde sie betrübt über den Ungehorsam und drohte der Pflegetochter, sie fortzujagen; aber das Mädchen weinte und bat um Verzeihung und so wurde ihr schließlich zu bleiben erlaubt.

Nach einiger Zeit mußte die Pflegemutter wieder verreisen, und so verbot sie dem Mädchen, in die zwei Kammern zu sehen, die sie noch nicht betreten hatte. Sie versprach, sich zu beherrschen. Aber als sie eine Zeit lang allein war und dachte und grübelte, was wohl in den beiden Kammern drin sein könne, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten, die Tür einen kleinen Spalt zu öffnen und hineinzugucken und hui! —flog der Mond heraus.

Als die Pflegemutter wieder kam und sah, daß der Mond herausgeflogen war, wurde sie traurig und sagte, nun könne sie nicht mehr bei ihr bleiben, nun müsse sie fort. Aber das Mädchen weinte so von Herzen und bat so innig um Verzeihung, und so wurde ihr auch diesmal erlaubt zu bleiben.

Nach einiger Zeit mußte die Pflegemutter wieder fort auf eine Reise -das Mädchen war diesmal halberwachsen - und da legte sie ihr besonders ans Herz, daß sie nicht versuchen sollte, in die dritte Kammer hineinzugehen oder hineinzusehen. Aber als die Pflegemutter eine Weile fort war und das Mädchen allein blieb und sich langweilte die lange Zeit über, da dachte sie: »Wie ergötzlich müßte es doch sein, in die dritte Kammer ein wenig hineinzuschauen!« Erst dachte sie, daß sie nicht den gleichen Fehler machen wollte um der Pflegemutter willen; aber als sie am nächsten Tag wieder vorbeikam, konnte sie sich nicht mehr beherrschen, sie sollte und mußte hineinschauen in die Kammer. Sie guckte ein wenig zur Tür hinein und hui! —flog die Sonne hinaus. Als die Pflegemutter nun zurück kam und sah, daß die Sonne hinausgeflogen war, wurde sie sehr böse darüber und sagte, nun dürfe sie nicht länger bei ihr bleiben. Die Pflegetochter weinte und bat noch mehr als vorher, aber das half diesmal alles nichts.

»Nein, nun muß ich dich strafen«, sagte die Mutter, »aber du hast die Wahl: entweder du bleibst die allerschönste von allen, kannst aber nicht sprechen, oder du wirst die allerhäßlichste und kannst sprechen. Aber fort von mir mußt du«. »So will ich lieber schön bleiben«, sagte das Mädchen und das blieb sie auch, aber von der Zeit an war sie stumm.

Als sie von der Pflegemutter fortgeschickt wurde, ging sie dahin und



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wanderte durch einen großen Wald, doch so lang sie auch wanderte, er nahm niemals ein Ende. Als es auf den Abend zu ging, kletterte sie auf einen hohen Baum, welcher sich über eine Quelle neigte, und setzte sich, um darin zu schlafen die Nacht über. Dicht dabei lag ein Schloß, und zeitig am morgen kam eine Magd, die Wasser holen sollte für den Tee des Prinzen. Die Magd sah das schöne Antlitz in dem Quellwasser und glaubte, das sei sie selbst, warf die Wassereimer weg, lief heim und sagte: »Bin ich so schön, so bin ich zu gut, um Wasser zu tragen«. So mußte eine andere Magd sich auf den Weg machen, um Wasser zu holen, aber mit ihr ging es ebenso, sie kam auch zurück und sagte, daß sie zu schön sei und zu gut, um Wasser für den Prinzen zu tragen. Da ging der Prinz selbst, denn er hatte Lust, zu sehen, wie das zusammenhing. Als er zur Quelle kam, sah er auch das Bild im Wasser, aber sogleich sah er nach oben. Dort erblickte er die schöne Jungfrau, welche oben im Baume saß. Er lockte sie herab und nahm sie mit sich nach Hause und schließlich machte er sie zu seiner Königin, weil sie so schön war. Aber seine Mutter, die noch lebte, mochte sie nicht leiden. »Sie kann ja nicht sprechen«, sagte sie, das kann gut eine Trollhexe sein«. Aber der Prinz gab nicht nach, bis sie seine Königin wurde.

Als sie eine Zeit lang zusammen gelebt hatten, trug sie ein Kind, und da sie es gebären sollte, ließ der Prinz um sie herum Wachen setzen, aber zur Geburtsstunde schliefen sie alle. Und als sie das Kind zur Welt gebracht hate, kam ihre Pflegemutter, schnitt das Kind in den kleinen Finger und bestrich der jungen Königin Mund und Finger mit dem Blut und sagte zu ihr: »Nun sollst du so traurig werden wie ich es war, als du den Stern hinaus schlüpfen ließest«. Und so verschwand sie mit dem Kind. Als diejenigen munter wurden, die zur Wache um sie herum gesetzt waren, glaubten sie, die Königin hätte ihr eigenes Kind aufgegessen und die alte Königin wollte sie verbrennen lassen. Aber der Prinz glaubte es nicht und schließlich bat er sie frei von Strafe, aber nur mit Mühe und Not.

Als die junge Königin zum anderen Male ins Kindbett kam, wurde eine doppelt so starke Wacht um sie gesetzt als das vorige Mal; aber es ging genau so, nur daß die Pflegemutter diesmal sagte: »Nun sollst du so traurig werden wie ich es war, als du den Mond hinausschlüpfen ließest«. Die junge Königin bat und weinte -denn so lange die Pflegemutter bei ihr war, konnte sie sprechen -aber es half nichts. Nun wollte die alte Königin, daß sie endlich verbrannt werden sollte, doch der Prinz bat sie auch diesmal frei.

Da die junge Königin zum dritten Mal ins Kindbett kam, wurde



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eine dreifache Wache um sie gesetzt. Aber es ging gleichermaßen. Die Pflegemuter kam während die Wachen schliefen, nahm das Kind, schnitt es in den Finger und strich Blut um den Mund der jungen Königin. Und dann sagte sie, daß die junge Königin nun ebenso traurig werden sollte, wie sie es selbst gewesen, als die Sonne entschlüpft war.

Nun konnte der Prinz sie auf keine Weise mehr frei sprechen; sie mußte und sollte brennen. — Aber als sie auf den Holzstoß gelegt wurde, sahen sie die Pflegemutter kommen mit allen drei Kindern, zwei führte sie an der Hand und das dritte trug sie auf den Armen. Sie ging zu der jungen Königin und sagte: »Hier sind deine Kinder, nun sollst du sie wieder haben. Ich bin Jungfrau Maria, und so traurig wie du gewesen bist, genauso betrübt war ich, als du Sonne, Mond und Sterne hast entschlüpfen lassen. Du littest die Strafe für das, was du angerichtet hattest. Und von nun an sollst du wieder sprechen können«. Wie froh die junge Königin und der Prinz waren, kann sich jeder denken, doch sagen läßt es sich nicht. Seitdem lebten sie allezeit glücklich, und des Prinzen Mutter schätzte die junge Königin von der Zeit ab auch sehr.


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