Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Kleine Ose Gänsemagd

Es war einmal ein König, der hatte so viele Gänse, daß er dazu ein Mädchen haben mußte, das nur die Gänse hütete. Sie hieß Ose, und so wurde sie Ose Gänsemagd genannt.

Nun lebte da ein Königsohn von England, der sollte freien; ihm setzte sich Ose in den Weg.

»Sitzt du hier, du kleine Ose?« sagte der Königsohn.

»Ja, ich sitze hier und setze Lappen an Lappen und Flicken an Flicken, ich erwarte den Königsohn von England heute«, sagte die kleine Ose.

»Du wartest vergeblich, ihn zu bekommen«, sagte der Prinz.

»Ja, wenn ich ihn haben soll, so werde ich ihn dennoch bekommen«, sagte die kleine Ose.

Nun wurden Maler in alle Länder und Reiche gesandt, welche die schönsten Prinzessinnen abbilden sollten. Unter denen wollte der Prinz sich eine auswählen. Eine davon mochte er so gut leiden, daß er zu ihr reiste und sich mit ihr vermählen wollte, und er war froh und entzückt, daß er sie als Liebste bekommen sollte. Aber der Prinz besaß einen Stein, der um alle Dinge wußte. Den legte er vor sein Bett. Und als die Prinzessin kam, sagte Ose Gänsemagd zu ihr, ob sie wohl einen Liebsten vorher gehabt hätte oder ob es irgend etwas gäbe, was der Prinz nicht wissen dürfe, so möge sie nicht über den Stein steigen, den der Prinz vor seinem Bett hätte, »denn der sagt ihm alles von dir«, sagte sie. Als die Prinzessin das hörte, bekam sie Kummer, kann man sich denken. Aber sie wich dem aus und bat Ose, an ihrer statt zu gehen und sich mit dem Prinzen am Abend niederzulegen, und wenn er so geschlafen hätte ,wollten sie wieder tauschen, sodaß er die rechte bei sich hätte, wenn es licht würde am Morgen. — So machten sie es.

Als Ose Gänsemagd kam und auf den Stein trat, fragte der Prinz:

»Wer ist es, der in mein Bett steigt?«

»Eine reine und keusche Jungfrau«, sagte der Stein und so schliefen sie ein. Aber als die Nacht verfloß, kam die Prinzessin und legte sich an Oses Platz.



079 Das blaue Band Norw. Märchen Flip arpa

Am Morgen, als sie aufstehen wollte, fragte der Prinz den Stein wieder:

»Wer ist es, der aus meinem Bett steigt?«

»Eine, die drei Liebsten hatte«, sagte der Stein.

Als der Prinz das hörte, wollte er sie nicht haben, das kann man sich denken, er sandte sie wieder heim und erwählte sich eine andere Liebste.

Als er sie besuchen wollte, hatte sich Ose Gänsemagd ihm wieder in den Weg gesetzt.

»Sitzt du hier, kleine Ose Gänsemagd«, sagte der Prinz.

»Ja, ich sitze hier und setze Flicken an Flicken und Lappen an Lappen, denn heute erwarte ich den Königsohn von England«, sagte Ose.

»Ach, du wartest vergeblich, ihn zu bekommen«, sagte der Königsohn.

»Ja, wenn ich ihn haben soll, so werde ich ihn dennoch bekommen«, meint Ose.

Aber dieser Prinzessin erging es genauso wie der ersten, nur, als sie am Morgen aufstand, sagte der Stein, daß sie sechs Liebsten gehabt hätte. Da wollte der Prinz sie nicht haben und jagte sie ihres Weges davon. Aber dennoch wollte er es noch einmal versuchen, ob er nicht eine finden könne, die rein und keusch sei. Er suchte wieder weit und breit in manchem Land bis er eine fand, die er leiden mochte.

Aber als er zu ihr wollte, hatte sich Ose Gänsemagd ihm wieder in den Weg gesetzt.

»Sitzt du hier, kleine Ose Gänsemagd«, sagte der Prinz.

»Ja, ich sitze hier und setze Flicken an Flicken und Lappen an Lappen, denn heute erwarte ich den Königsohn von England«, sagte Ose.

»Warte nicht darauf, ihn zu bekommen«, sagte der Prinz.

»Ach ja, wenn ich ihn haben soll, so werde ich ihn dennoch bekommen«, sagt die kleine Ose.

Als die Prinzessin kam, sagte Ose Gänsemagd zu ihr dasselbe, was sie den beiden anderen gesagt hatte, wenn sie einen Liebsten gehabt hätte oder etwas anderes wäre, was der Prinz nicht wissen sollte, so möge sie nicht auf den Stein treten, welchen der Prinz vor seinem Bett liegen habe, denn der sage ihm alles«, sagte sie. Der Prinzessin wurde schlimm zumute, als sie das hörte, aber sie war genau so listig wie die beiden anderen. Sie bat Ose darum, an ihrer statt zu gehen und sich am Abend mit dem Prinzen niederzulegen, und wenn er geschlafen hätte, wollten sie tauschen, sodaß er die rechte bei sich hätte, wenn es licht würde am Morgen. —So machten sie es.



080 Das blaue Band Norw. Märchen Flip arpa

Als die kleine Ose Gänsemagd kam und den Stein betrat, fragte der Prinz:

»Wer ist es, der in mein Bett steigt?«

»Eine reine und keusche Jungfrau«, sagte der Stein, und so legten sie sich nieder. Mitten in der Nacht streifte der Prinz einen Ring an Oses Finger, der war so eng, daß sie ihn nicht wieder abstreifen konnte, denn der Prinz merkte genau, daß da etwas nicht richtig war, und so wollte er ein Zeichen haben, daß er die wiedererkennen konnte, welche die rechte war. Als der Prinz schlief, kam die Prinzessin und jagte Ose den Gänsepfad hinab und legte sich selbst in ihr Bett.

Am Morgen, als sie aufstehen wollte, fragte der Prinz:

»Wer ist es, der aus meinem Bett steigt?«

»Eine, die neun Liebsten hatte«, sagte der Stein, und als der Prinz das hörte, wurde er so zornig und jagte sie sogleich weg. Dann fragte er den Stein, wie das zusammenhinge mit diesen Prinzessinnen, die über den Stein gestiegen waren, er könne das nicht durchschauen, sagte er.

Der Stein erzählte ihm, wie das zugegangen sei, daß sie ihn genarrt hätten und daß sie Ose Gänsemagd an ihrer statt geschickt hätten. Der Prinz wollte Gewißheit darüber haben. Er ging hinunter zu ihr, wo sie saß und ihre Gänse hütete, denn er wollte sehen, ob sie den Ring hatte. Hat sie ihn, so wäre es wohl das beste, sie zur Königin zu nehmen, dachte er. Als er hinunter kam, sah er mit einem Male, daß sie einen Lappen um ihren Finger gebunden hatte und so fragte er, warum sie das getan hätte.

»O, ich habe mich so schlimm geschnitten«, sagte die kleine Ose Gänsemagd. Er wollte den Finger sehen, aber Ose wollte den Lappen nicht wegnehmen. Da hielt der Prinz den Finger fest, aber Ose wollte ihn wieder an sich ziehen, da streifte sich der Lappen ab und er erkannte seinen Ring wieder. Da nahm er sie mit sich zum Königshof, schmückte sie reich und gab ihr prächtige Kleider, und darauf feierten sie Hochzeit. Auf diese Weise bekam also Ose Gänsemagd dennoch den Königsohn, nur weil sie ihn eben bekommen sollte.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt