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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM REBHUHN UND DEN SCHILDKRÖTEN

Man berichtet, daß einmal Schildkröten auf einer Insel lebten; das war eine Insel, auf der Bäume mit Früchten sprossen und Bäche flossen. Nun begab es sich eines Tages, daß ein Rebhuhn dort vorüberflog und von der Hitze und der Ermattung übermannt wurde; und weil es sehr darunter litt, so hielt es im Fluge inne und ließ sich auf jener Insel nieder, auf der jene Schildkröten waren. Als es die Tiere erblickte, suchte es Zuflucht bei ihnen und kehrte bei ihnen ein. Aber die Schildkröten waren gerade auf der Suche nach Futter in die verschiedenen Gegenden der Insel gegangen und kehrten nun zu ihrer Stätte zurück. Als sie von ihren Weideplätzen zu ihrer Wohnstatt heimgekommen waren, fanden sie das Rebhuhn dort. Und wie sie es anschauten, gefiel es ihnen, und Allah machte es lieblich vor ihren Augen, so daß sie ihren Schöpfer priesen und dies Rebhuhn sehr lieb gewannen und ihre Freude an ihm hatten. Darauf sprachen sie zueinander: ,Ganz gewiß ist dieser einer der schönsten Vögel.' Und eine jede von ihnen war ihm freundlich zugetan. Dieweil das Rebhuhn sah, daß sie es mit dem Auge der Liebe anschauten, ward es ihnen geneigt und mit ihnen vertraut; und wenn es des Morgens ausflog, wohin es wollte, so kehrte es doch am Abend zurück, um bei ihnen zu übernachten; am anderen Tage flog es dann wieder, wohin es wünschte. Das ward seine Gewohnheit, und es lebte in dieser Weise eine ganze Weile dahin. Die Schildkröten aber fühlten, daß sein Fernsein sie betrübte, und sie wußten nun, daß sie es nur zur Nachtzeit sehen konnten, daß es aber am Morgen immer eilends davonflog, ehe sie es bemerkten, trotz ihrer großen Liebe zu ihm. So sprachen sie denn eine zur anderen:



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,Seht, wir haben dies Rebhuhn lieb gewonnen, es ist uns ein Freund geworden, und wir können die Trennung von ihm nicht mehr ertragen. Welche List gäbe es nun, die bewirken könnte, daß es immer bei uns bleibt? Ach, wenn es auffliegt, so bleibt es uns den ganzen Tag fern, und wir sehen es nur bei Nacht!' Eine von ihnen aber gab ihnen einen Rat und schloß mit den Worten: ,Seid ruhig, meine Schwestern, ich will so dafür sorgen, daß es sich keinen Augenblick mehr von uns trennt.' Da sagten alle anderen zu ihr: ,Wenn du das tust, so wollen wir alle deine Mägde sein.' Als nun das Rebhuhn von seinem Futterplatz heimkehrte und sich unter ihnen niedersetzte, nahte ihm jene listige Schildkröte, rief Segen auf sein Haupt herab und wünschte ihm Glück zur sicheren Heimkehr; dann sprach sie zu ihm: ,Lieber Herr, wisse, Allah hat dir unsere Liebe geschenkt und ebenso dein Herz mit der Liebe zu uns erfüllt; und du bist uns in dieser Einöde ein trauter Freund geworden. Nun ist die schönste Zeit für die Liebenden, wenn sie vereint sind; und schweres Leid kommt durch Fernsein und Trennung. Aber du verlässest uns, wenn der Morgen dämmert, und du kommst erst bei Sonnenuntergang zu uns zurück; und das betrübt uns gar sehr. Ja, es bekümmert uns tief, und wir leben deshalb in bitterer Qual.' Das Rebhuhn erwiderte ihr: ,Ja, auch ich liebe euch, und ich sehne mich nach euch noch mehr als ihr nach mir, und die Trennung von euch fällt mir wahrlich nicht leicht. Aber ich habe kein Mittel in der Hand. um dem abzuhelfen; denn ich bin ein Vogel mit Flügeln, und es ist mir unmöglich, immer bei euch zu bleiben, da es wider meine Natur ist. Seht, ein Vogel, der Flügel hat, kann nicht still sitzen außer allein bei Nacht, um zu schlafen: wenn es Morgen wird, so fliegt er fort und sucht sich sein Futter, wo es ihm beliebt.' ,Du hast recht,' fuhr die Schildkröte fort. . aber



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ein geflügeltes Geschöpf hat zu den meisten Zeiten keine Ruhe, und es gewinnt so an Gutem nicht ein Viertel von dem, was ihm an Mühsal zuteil wird; doch das höchste Ziel für jeden sind Behaglichkeit und Ruhe. Zwischen uns und dir hat Allah die Liebe und die Freundschaft entstehen lassen; und nun sind wir besorgt um dich, daß einer deiner Feinde dich erjagen könnte und du umkämst und wir des Anblickes deines Gesichtes beraubt würden.' Das Rebhuhn antwortete ihr und sprach: ,Du sagst die Wahrheit; aber was für einen Rat, was für einen Ausweg weißt du für mich?' Da hub jene wieder an: ,Mein Rat geht dahin, daß du deine Schwungfedern, mit denen du im Fluge dahineilst, ausreißest und bei uns in Ruhe weilest, von unserer Speise issest und von unserem Tranke trinkest, hier an dieser Futterstätte, wo der reifen Früchte Pracht uns aus vielen Bäumen entgegenlacht. Dann wollen wir mit dir an dieser fruchtbaren Stätte verweilen, und ein jeder von uns kann sich seines Gefährten erfreuen.' Das Rebhuhn gab ihren Worten nach, da es sich auch nach der Ruhe sehnte; dann rupfte es sich eine Feder nach der anderen aus, soviel es, von der Schildkröte beraten, für gut befand. Und nun blieb es bei ihnen und lebte mit ihnen, indem es an der armseligen Lust und der vergänglichen Freude Gefallen hatte. Während sie so dahinlebten, kam einmal ein Wiesel dort vorbei und schaute das Rebhuhn an und betrachtete es genau; da sah es, daß ihm die Flügel gestutzt waren, so daß es sich nicht erheben konnte. Als es solches an ihm bemerkte, freute es sich gar sehr und sprach bei sich: ,Sieh an, dies Rebhuhn dort ist fett an Fleisch und arm an Federn.' Darauf schlich das Wiesel an das Rebhuhn heran und packte es. Das Rebhuhn aber begann zu schreien und rief die Schildkröten zu Hilfe; allein die halfen ihm nicht, sondern sie eilten fort von ihm und krochen dicht



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zusammen, wie sic es in den Krallen des Wiesels erblickten. Und als sie sehen mußten, daß es vom Wiesel gequält wurde, erstickten sie vor Tränen. Da rief das Rebhuhn: ,Habt ihr nichts anderes als Tränen?' Doch sie erwiderten ihm: ,Lieber Bruder, wir haben keine Kraft und keine Macht und kein Mittel wider ein Wiesel.' Darüber war das Rebhuhn betrübt, und indem es alle Hoffnung auf sein Leben fahren ließ, sprach es zu ihnen: ,Euch trifft keine Schuld; es ist nur meine eigene Schuld, daß ich euch gehorcht und meine Schwungfedern ausgerissen habe, mit denen ich fliegen konnte. Ich verdiene den Tod dafür, daß ich auf euch gehört habe, und ich tadle euch in nichts.' *

,Ebenso tadle ich euch jetzt nicht, ihr Frauen, sondern ich tadle und schelte nur mich selbst, dieweil ich nicht dessen eingedenk war, daß ihr der Grund für die Sünde waret, die unser Vater Adam beging und derentwegen er das Paradies verlassen mußte. Ich hatte vergessen, daß ihr die Wurzel alles Übels seid, ich habe auf euch gehört in meiner Torheit, meinem Mangel an Einsicht und meiner Unvorsichtigkeit und habe meine Wesire und die Verweser meines Reiches töten lassen, die meine treuen Ratgeber waren in allen Dingen, meine Stärke und meine Kraft in allem, was mir Sorge machte. Jetzt finde ich keinen Ersatz für sie, keinen sehe ich, der an ihre Stelle treten könnte, und so bin ich in großes Unheil geraten.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 925. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß jener König sich selber tadelte und sprach: ,Ich habe ja in meiner Torheit auf euch gehört und habe meine Wesire töten lassen; und nun



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finde ich keinen Ersatz für sie, keinen, der an ihre Stelle treten könnte. Wenn Allah mir nicht einen Ausweg zeigt durch jemanden, dessen rechter Rat mich dorthin führt, wo Rettung meiner wartet, so bin ich in großes Unheil geraten.' Dann ging er fort und begab sich in sein Schlafgemach; doch vorher klagte er noch um seine Wesire und Weisen, indem er rief: ,Ach, daß diese Löwen jetzt bei mir wären, wenn auch nur auf eine einzige Stunde, auf daß ich mich vor ihnen entschuldigen und auf sie schauen könnte; dann könnte ich ihnen auch meine Not klagen und alles, was mir nach ihrem Tode widerfahren ist!' Den ganzen Tag über blieb er versunken im Meere der Sorgen, und er aß nicht und trank nicht. Als es aber dunkle Nacht ward, erhob er sich, tat seine Gewänder ab und legte alte Kleider an, so daß er unkenntlich ward; dann ging er fort, um durch die Stadt zuwandern und vielleicht von jemandem ein Wort zu hören, durch das er Ruhe fände. Und während er durch die Hauptstraßen dahinzog, traf er plötzlich zwei Knaben, die ganz allein neben einer Mauer saßen; sie waren gleichen Alters, ein jeder von ihnen mochte zwölf Jahre alt sein. Und als er hörte, daß sie miteinander redeten, trat er näher an sie heran, bis er ihre Worte genauer hören und verstehen konnte. Da vernahm er, wie der eine von beiden zum anderen sagte: ,Höre, Bruder, was mir gestern abend mein Vater erzählt hat über das Unglück, das ihn befallen hat, dieweil seine Saaten vor der Zeit verwelkt sind, weil der Regen mangelt und eine so schwere Heimsuchung über diese Stadt gekommen ist.' Der andere fragte: ,Kennst du die Ursache dieser Heimsuchung?' ,Nein, sagte der erste, ,aber wenn du sie kennst, so sage sie mir!' Der andere antwortete ihm und sprach: ,Ja, ich kenne sie und will sie dir kundtun. Wisse, einer von den Freunden meines Vaters erzählte mir, daß der König seine



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Wesire und die Großen seines Reiches hat töten lassen, ohne daß sie eine Schuld begangen hätten, sondern nur weil er die Frauen liebte und zu ihnen neigte; die Wesire suchten ihn davon abzubringen, aber er wollte nicht davon lassen, sondern befahl, sie zu ermorden, indem er auf seine Frauen hörte; ja, er hat sogar meinen Vater Schimâs hinrichten lassen, seinen Wesir, der schon vor ihm der Wesir seines Vaters und sein Ratgeber gewesen war. Aber du wirst bald sehen, was Allah mit ihm tun wird um der Sünden willen, die er an ihnen beging, und wie er sie an ihm rächen wird.' Da fragte der erste Knabe wieder: ,Was kann denn Allah ihm wohl antun, nachdem sie umgekommen sind?' Der andere erwiderte ihm: ,Wisse, der König vom äußersten Indien mißachtet unseren König und hat ihm einen Brief geschickt, in dem er ihn schmäht und ihm sagt: ,Erbaue mir ein Schloß mitten im Meere; wenn du das nicht tust, so werde ich zwölf Reitergeschwader wider dich entsenden, von denen ein jedes aus zwölftausend Streitern besteht! Zum Anführer dieser Scharen mache ich meinen Wesir Badî'a; der soll dir dein Reich nehmen. deine Mannen töten und dich samt deinen Frauen in die Gefangenschaft schleppen.' Als der Bote des Königs vom äußersten Indien mit diesem Briefe zu ihm kam, gab er ihm eine Frist von drei Tagen. Wisse aber auch, mein Bruder, jener König ist ein trutziger Degen, ein Mann von Kraft und an Mut verwegen. In seinem Reiche wohnt viel Volks; und wenn unser König kein Mittel findet, ihn von sich abzuwehren, so wird er ins Verderben geraten. Und nach dem Untergang unseres Königs wird jener König unser Hab und Gut rauben, unsere Männer töten und die Frauen in Gefangenschaft schleppen.' Als der König diese Worte von ihnen vernahm, wuchs seine Erregung noch mehr, und er war den beiden geneigt und



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sprach bei sich: ,Dieser Knabe ist sicher ein Weiser; denn er hat über etwas Auskunft gegeben, das ihm nicht von mir berichtet ist. Den Brief, der von dem König des äußersten Indien gekommen ist, habe ich bei mir, und das Geheimnis hüte ich; niemand außer mir hat Kenntnis von diesen Dingen. Wie hat denn dieser Knabe davon erfahren? Ich will doch Hilfe bei ihm suchen und mit ihm sprechen, und ich will Allah bitten, daß unsere Rettung durch ihn geschehe.' Darauf trat der König freundlich an den Knaben heran und sprach zu ihm: ,Du lieber Knabe, was hast du da von unserem König erzählt, daß er so schweres Unrecht getan habe durch die Ermordung seiner Wesire und der Großen seines Reiches? Ja, er hat in Wahrheit übel gehandelt an sich selbst und an seinen Untertanen; und du hast recht in dem, was du gesagt hast. Doch laß mich wissen, Knabe, woher hast du erfahren, daß der König des äußersten Indien einen Brief an unseren König geschrieben hat, in dem er ihn schmäht und ihm die harten Worte sagt, die du genannt hast?' Der Knabe erwiderte ihm: ,Ich habe dies erfahren nach dem Worte der Alten, daß vor Allah kein Ding verborgen ist, und daß im Geschlechte der Söhne Adams eine geistige Kraft wohnt, die ihnen die verborgensten Geheimnisse offenbart.' ,Du hast recht, mein Sohn,' fuhr der König fort, ,aber sage mir, bleibt unserem König noch irgendein Ausweg oder ein Mittel, durch das er dies große Unheil von sich und von seinem Reiche abwenden kann?' Da antwortete der Knabe und sprach: ,Jawohl; wenn der König zu mir schickt und mich fragt, was er tun soll, um seinen Feind abzuwehren und seiner List zu entfliehen, so werde ich ihm kundtun, wie er gerettet werden kann durch die Kraft Allahs des Erhabenen.' Der König fragte darauf: ,Wer soll denn dem König davon Nachricht geben, so daß er nach dir sende, um dich zu rufen?' Und der



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Knabe gab ihm zur Antwort: ,Ich habe gehört, daß er nach Männern von Erfahrung und rechter Einsicht sucht. Wenn er nun zu mir schickt, so werde ich mit ihnen zu ihm gehen und ihm zu wissen tun, worin sein Heil liegt, und wodurch er das Unheil von sich abwehren kann. Wenn er aber diese schwere Sache vernachlässigt und sich wieder seinem Getändel mit den Frauen hingibt, und wenn ich ihm dann sagen wollte, worin seine Rettung liegt, und aus eigenem Antriebe zu ihm ginge, so würde er mich töten lassen wie jene Wesire, und meine Freundlichkeit gegen ihn würde die Ursache meines Todes sein. Dann würden die Menschen mich verachten und meinen Verstand gering einschätzen, und von mir gälte dann auch das Wort dessen, der da sprach: ,Wenn einer mehr Wissen als Verstand hat, — ein solcher Weiser kommt durch seine Torheit um.' Als der König die Worte des Knaben vernommen hatte, ward er von seiner Weisheit überzeugt und erkannte seine Vortrefflichkeit und war gewiß, daß ihm und seinen Untertanen die Rettung durch den Knaben kommen würde. So richtete er denn wieder seine Worte an ihn, indem er sprach: ,Woher bist du, und wo ist dein Haus?' Der Knabe erwiderte: ,Diese Mauer grenzt an unser Haus.' Nachdem der König sich jene Stelle gemerkt hatte, nahm er von dem Knaben Abschied und kehrte erfreut in seinen Palast zurück. Und als er sich in seinem Gemache befand, legte er seine rechten Gewänder wieder an und ließ Speise und Trank bringen, aber die Frauen hielt er von sich fern. Er aß und trank und pries Allah den Erhabenen und bat ihn um Rettung und Hilfe, doch auch um Vergebung und Verzeihung für das, was er an den Gelehrten und Vornehmen seines Reiches getan hatte. Ja, er bereute vor Allah mit lauterem Herzen und erlegte sich durch ein Gelübde langes Fasten und viele Gebete auf. Dann rief er einen seiner



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vertrauten Diener, beschrieb ihm die Wohnung des Knaben und befahl ihm, zu ihm zu gehen und ihn in freundlicher Weise vor ihn zu führen. Jener Sklave begab sich also zudem Knaben und sprach zu ihm: ,Siehe, der König beruft dich, auf daß dir Gutes von ihm widerfahre, und daß er eine Frage an dich richte; dann sollst du wohlbehalten nach Hause zurückkehren.' Der Knabe antwortete und sprach: ,Was ist des Königs Anliegen, wegen dessen er mich zu sich beruft?' Der Diener sprach: ,Das Anliegen meines Herrn, wegen dessen er dich zu sich beruft, ist Frage und Antwort.' Da sagte der Knabe: ,Ich höre tausendmal und gehorche tausendmal dem Befehle des Königs.' Dann ging er mit ihm, bis er zum König kam. Und wie er nun vor ihm stand, warf er sich vor Allah nieder und betete für den König, nachdem er den Gruß vor ihm gesprochen hatte; der König erwiderte seinen Gruß und hieß ihn sich setzen. Der Knabe setzte sich. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 926. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Knabe, als er zum König gekommen war und den Gruß vor ihm gesprochen hatte, dieser ihn sich setzen hieß, und daß er sich dann setzte. Da fragte der König ihn: ,Weißt du, wer gestern mit dir gesprochen hat?' ,Jawohl!' erwiderte der Knabe. Und als der König weiter fragte: ,Wo ist er?' antwortete er ihm und sprach: ,Der ist es, der jetzt mit mir redet.' ,Du hast recht, mein Lieber', erwiderte der König und gab alsbald Befehl, einen Stuhl neben seinen Thron zu stellen; darauf ließ er den Knaben sich setzen, und dann befahl er, Speise und Trank zu bringen. Nachdem sie eine Weile miteinander geplaudert hatten, sagte der König zu dem Knaben: ,Du, o Wesir, du



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hast gestern ein Gespräch mit mir gehabt und darin gesagt, du habest ein Mittel, um die Tücke des Königs von Indien von uns abzuwehren. Was ist das für ein Mittel? Wie sollen wir es beginnen, sein Unheil von uns abzuwenden? Tu es mir kund, auf daß ich dich zum Ersten derer mache, die da im Reiche mit mir reden, und dich zum Wesir für mich auserwähle, deinen Rat in allem befolge, was du mir zu tun rätst, und dir einen hohen Ehrensold bestimme.' Doch der Knabe entgegnete ihm: ,Deinen Ehrensold magst du behalten, o König, und Rat und Plan magst du bei deinen Frauen suchen, die dich angestiftet haben, meinen Vater Schimâs zu töten mit all den anderen Wesiren.' Wie der König das von ihm hörte, schämte er sich und seufzte auf; dann fuhr er fort: ,Lieber Knabe. war Schimâs wirklich dein Vater, wie du es sagst?' Der Knabe antwortete ihm und sprach: ,Schimâs war wirklich mein Vater, und ich bin in Wahrheit sein Sohn!' Da neigte sich der König in Demut, Tränen strömten aus seinen Augen, und er bat Gott um Verzeihung. Dann hub er an: ,O Knabe, siehe, ich tat das in meiner Unwissenheit, und weil die Frauen mich schlecht berieten; denn ihre List ist groß!' Doch ich bitte dich, verzeih mir, und ich will dich an deines Vaters Stelle setzen, ja, ich will deinen Rang noch höher machen als seinen Rang. Ferner will ich dich, wenn diese Heimsuchung, die auf uns herabkam, abgewandt ist, mit einer goldenen Halskette schmücken und dich auf das stolzeste Roß setzen; und ich will dem Herold befehlen, vor dir auszurufen: ,Dies ist der ruhmreiche Knabe, der Herr des zweiten Thrones nach dem König!' Und was das angeht, was du von den Frauen sagst, so gedenke ich meine Rache an ihnen zu nehmen; das werde ich dann tun, wenn Allah der Erhabene es will. Nun aber tu mir kund, was du für



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einen Plan hast, auf daß mein Herz sich beruhige!' Darauf erwiderte ihm der Knabe mit den Worten: ,Schwöre mir einen Eid, daß du in dem, was ich dir sage, meinem Rate nicht zuwiderhandeln willst, und daß ich vor dem, was ich befürchte, sicher sein soll!' Da sprach der König zu ihm: ,Dies sei der Bund Allahs zwischen mir und dir, daß ich von deinem Worte nicht abweichen will, daß du mein Ratgeber sein sollst, und daß ich alles tun will, was du mich heißest; und Zeuge zwischen uns für das, was ich sage, sei Allah der Erhabene!' Da ward des Knaben Brust von Sorgen befreit, und das Feld der Rede öffnete sich ihm weit; und er hub an: ,O König, mein Plan und mein Ausweg ist der, daß du die Zeit abwartest, in der jener Bote wieder zu dir kommt, um Antwort zu heischen, nachdem die Frist verstrichen ist, die du von ihm erhalten hast: und wenn er dann vor dich tritt und die Antwort verlangt, so halt ihn hin und verweise ihn auf einen anderen Tag. Dann wird er dich um Entschuldigung bitten, weil sein König ihm eine bestimmte Anzahl von Tagen festgesetzt habe, und er wird auf eine Antwort von dir dringen. Du aber jage ihn fort und verweise ihn nur auf einen anderen Tag, ohne ihm jenen Tag festzusetzen. Dann wird er dich zornig verlassen und mitten in die Stadt gehen und offen vor den Leuten reden, indem er sagt: ,Ihr Leute der Stadt, ich bin ein Eilbote des Königs vom äußersten Indien; der ist ein Herr an Mut unerreicht und von einer Entschlossenheit, die das Eisen erweicht. Er hat mich mit einem Briefe an den König dieser Stadt geschickt und mir eine bestimmte Frist von Tagen festgesetzt und mir gesagt: ,Wenn du nicht nach Ablauf der Tage, die ich dir festgesetzt habe, zurückkehrst, so wird meine Rache über dich kommen. Seht, ich bin zum König dieser Stadt gekommen und habe ihm den Brief gegeben; und als er ihn gelesen hatte, bat er mich um eine



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Frist von drei Tagen, dann würde er mir Antwort auf jenes Schreiben geben. Ich willigte darin ein aus Höflichkeit gegen ihn und Achtung vor ihm. Nachdem aber die drei Tage verstrichen waren, ging ich hin, um die Antwort von ihm zu verlangen; doch er verwies mich auf einen anderen Tag. Jetzt kann ich nicht mehr warten; jetzt will ich zu meinem Herrn gehen, dem König des äußersten Indien, und ihm kundtun, wie es mir ergangen ist. Und ihr, ihr Leute, seid Zeugen zwischen mir und ihm!' Seine Worte werden dir bald hinterbracht werden; dann sende du nach ihm, laß ihn vor dich kommen und sprich milde mit ihm, indem du sagst: ,O Eilbote, der du in dein eigenes Verderben eilst, was hat dich bewogen, uns vor unseren Untertanen zu tadeln? Du hast wahrlich eiliges Verderben von uns verdient. Aber die Alten haben gesagt: Die Vergebung ist eine von den Eigenschaften der Edlen. Wisse, die Verzögerung der Antwort geschah nicht aus unserem Unvermögen, sondern durch die Häufung unserer Geschäfte und aus Mangel an Muße, eurem König eine Antwort zu schreiben.' Darauf laß den Brief bringen und lies ihn noch einmal; und wenn du ihn zu Ende gelesen hast, so lache laut auf und sprich zu ihm: ,Hast du noch einen anderen Brief als diesen Brief, damit wir auch den beantworten?' Er wird dir sagen: ,Ich habe keinen anderen Brief als diesen'; du aber wiederhole ihm die Frage ein zweites und ein drittes Mal, und er wird immer sagen: ,Ich habe überhaupt nichts anderes.' Dann sprich zu ihm: ,Fürwahr, dieser dein König ist des Verstandes bar, da er in diesem Briefe Worte an uns richtet, durch die er uns reizen will, daß wir mit unserem Heere wider ihn ziehen und sein Land plündern und ihm seine Herrschaft entreißen. Doch wir wollen ihn diesmal noch nicht strafen für sein unziemliches Verhalten in diesem Briefe, da er ja kurz von Verstand und schwach an



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Einsicht ist. Es geziemt sich für unsere Würde, daß wir ihn zuvor ermahnen und warnen, solche törichten Worte zu wiederholen. Wenn er jedoch sein Leben aufs Spiel setzen will und dergleichen noch einmal tut, so verdient er schnelle Heimsuchung. Mich deucht, dieser König, der dich gesandt hat, ist unwissend, töricht und denkt nicht an den Ausgang der Dinge und hat keinen verständigen Wesir von rechtem Urteil, den er um Rat fragen kann; denn wenn er verständig wäre, so hätte er sich mit einem Wesir beraten, ehe er solche lächerlichen Worte wie diese an uns geschrieben hätte. Doch er soll eine Antwort von mir haben, die seinem Briefe entspricht, ja, ihn noch übertrifft; ich will sein Schreiben einem der Schulknaben reichen, daß er es beantworte.' Dann schicke nach mir und laß mich kommen; und wenn ich vor dir stehe, so befiehl mir, den Brief zu lesen und zu beantworten.' Da weitete sich des Königs Brust, er hieß den Rat des Knaben gut und hatte Gefallen an seinem Plan; er beschenkte ihn und setzte ihn in das Amt seines Vaters ein und entließ ihn hocherfreut. Nachdem nun die drei Tage verstrichen waren, die er dem Boten als Frist gesetzt hatte, kam dieser, trat zum König ein und verlangte Antwort; der aber verwies ihn auf einen anderen Tag. Da ging der Bote zum anderen Ende des Teppichs und sprach unziemliche Worte, wie es der Knabe vorausgesagt hatte; danach begab er sich in den Basar und rief: ,Ihr Leute dieser Stadt, ich bin ein Abgesandter des Königs vom äußersten Indien an euren König, ich habe ihm eine Botschaft überbracht, aber er hält mich hin mit seiner Antwort darauf. Die Frist, die mir unser König festgesetzt hat, ist verstrichen, jetzt hat euer König keine Entschuldigung mehr, und ihr seid Zeugen dafür!' Als diese Worte dem König berichtet wurden, sandte er nach jenem Boten, ließ ihn vor sich kommen und sprach zu ihm: ,O Eilbote,



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der du in dein eigenes Verderben eilst, bist du nicht der Überbringer eines Briefes von einem König an einen König, zwischen denen Geheimnisse bestehen? Wie kannst du da unter das Volk treten und die Geheimnisse der Könige vor der Menge kundtun? Du hast wahrlich Strafe von uns verdient. Doch wir wollen dies ertragen, damit du diesem törichten König deine Antwort heimbringen kannst. Es gebührt sich nun am ehesten, daß niemand anders als der kleinste Schulbube ihm eine Antwort für uns gibt.' Dann befahl er, jenen Knaben zu bringen, und der kam. Als er vor den König trat, während der Eilbote zugegen war, warf er sich vor Allah nieder und betete um dauernden Ruhm und langes Leben für den König. Der aber warf dem Knaben den Brief zu, indem er sprach: .Lies diesen Brief und schreib schnell eine Antwort darauf!' Da nahm der Knabe den Brief, las ihn, lächelte, lachte und sprach zum König: ,Hast du wegen der Antwort auf diesen Brief nach mir gesandt?' ,Ja', erwiderte der König; und der Knabe gab darauf zur Antwort: ,Ich höre und gehorche bereitwilligst.' Dann holte er Tintenkapsel und Papier hervor und begann zu schreiben. —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 927. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Knabe, nachdem er den Brief genommen und gelesen hatte, Tintenkapsel und Papier hervorholte und zu schreiben begann: ,Im Namen Allahs, des allbarmherzigen Erbarmers! Friede sei mit denen, die Schutz erlangen und des Erbarmers Mitleid empfangen! Des ferneren: Ich tu dir zu wissen, o du, der du beanspruchst ein großer König zu sein, nicht in Wahrheit, sondern nur durch des Namens Schein, dein Brief ist bei uns eingetroffen, wir T



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haben ihn gelesen, und wir haben verstanden, was darin steht an Schwätzereien und sonderbaren Faseleien. Und wir haben uns davon überzeugt, daß du töricht bist und uns Unrecht zufügen möchtest ;j a, du hast deine Hände ausgestreckt nachdem, was du nimmer vermagst. Und wäre nicht das Mitleid mit den Geschöpfen Allahs und den Untertanen über uns gekommen, so hätten wir nicht mit dir gezaudert. Was deinen Gesandten betrifft, so ist er in den Basar hinausgegangen und hat die Kunde von deinem Briefe bei vornehm und gering verbreitet; und dafür verdient er Strafe von uns. Dennoch haben wir ihn verschont aus Mitleid mit ihm, und weil er im Hinblick auf dich zu entschuldigen ist; nicht aus Achtung vor dir haben wir ihn straflos ausgehen lassen. Wenn du in deinem Briefe davon sprichst, daß ich meine Wesire und Gelehrten und die Großen meines Reiches habe hinrichten lassen, so ist das Wahrheit: es ist jedoch aus einem bestimmten Grunde geschehen. Ich habe auch keinen von den Gelehrten töten lassen, ohne daß ich von seiner Art tausend hätte, die gelehrter, verständiger und weiser sind als er. Ja, bei mir lebt kein Kind, das nicht von Kenntnissen erfüllt wäre, und an Stelle eines jeden von den Hingerichteten habe ich so viele Vortreffliche seiner Art, daß ich sie nicht zählen kann. Ein jeder von meinen Kriegern nimmt es mit einem Geschwader von deinen Truppen auf. Und was das Geld angeht, so habe ich Werkstätten für Silber und Gold; und die Edelsteine sind bei mir wie die Kiesel. Endlich, was die Leute meines Reiches betrifft, so kann ich dir ihre Schönheit und Anmut und ihren Reichtum gar nicht beschreiben. Wie kannst du dich also wider uns erdreisten und uns sagen: Bau mir ein Schloß mitten im Meeree Das ist doch ein wunderbar Ding! Das kann nur aus dem Schwachsinn deines Verstandes entstanden sein; denn wenn du wirklichen Verstand hättest,



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so hättest du zuerst forschen müssen nach dem Branden der Wogen und dem Wehen der Winde dort, wo ich dir ein Schloß bauen sollte. Wenn du ferner gar behauptest, du würdest mich besiegen, so möge Allah das verhüten! Wie könnte deinesgleichen uns vergewaltigen und über unser Land herrschen? Nein, Allah der Erhabene hat mir den Sieg über dich verliehen, da du dich ohne Grund wider mich zu Bösem erhoben hast. Wisse, du hast vor Gott und vor mir Strafe verdient; doch meine Gottesfurcht hält mich von dir und deinen Untertanen zurück, und ich will erst nach dieser Warnung wider dich zu Rosse steigen. Wenn du also Allah fürchtest, so eile und schicke mir Tribut für dies Jahr; sonst werde ich unweigerlich wider dich ausreiten mit tausendmaltausend und hunderttausend Streitern, lauter Recken auf Elefanten, und ich werde sie aufreihen rings um unseren Wesir und ihm befehlen, dich drei Jahre zu belagern, wie du deinem Boten drei Tage Frist gegeben hast. Ich werde mich deines Reiches bemächtigen, indem ich niemanden dort töte als dich allein und niemanden gefangen nehme als deine Frauen.' Dann zeichnete der Knabe sein Bildnis auf das Schriftstück und schrieb daneben: ,Diese Antwort schrieb der kleinste der Schulknaben.' Schließlich versiegelte er den Brief und reichte ihn dem König; der gab ihn dem Boten. Und der Bote nahm ihn hin, küßte dem König die Hände und verließ ihn, indem er Allah dem Erhabenen und dem König dankte für seine Milde gegen ihn; und als er fortging, wunderte er sich immer noch über die Klugheit, die er an dem Knaben beobachtet hatte. Als er wieder bei seinem König ankam, ergab es sich, daß sich sein Eintreffen bei ihm um drei Tage verzögert hatte hinter der ihm festgesetzten Frist mit dem Aufenthalt von drei Tagen; und der König hatte schon gerade den Staatsrat zusammenberufen, weil der Bote



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über die Zeit hinaus fortgeblieben war, die ihm bestimmt war. Wie dieser nun vor den König trat, warf er sich vor ihm nieder und überreichte ihm dann den Brief. Der König nahm ihn und fragte den Boten nach dem Grunde seines Ausbleibens und danach, wie es mit dem König Wird Chân stehe. Doch als jener ihm Bericht erstattet und ihm alles erzählt hatte, was er mit seinen Augen gesehen und mit seinen Ohren gehört hatte, verwirrte sich dem König der Verstand, und er sprach zu dem Boten: ,Weh dir, was sind das für Nachrichten, die du mir von einem solchen König bringst!' Der Bote antwortete ihm und sprach: ,Großmächtiger König, hier stehe ich vor dir, öffne den Brief und lies ihn, so wird dir Wahrheit und Lüge offenbar werden.' Da öffnete der König den Brief und las ihn; auch sah er darin das Bild des Knaben, der ihn geschrieben hatte. Und nun sah er schon das Ende seiner Herrschaft vor Augen und war ratlos, was er tun sollte. Dann wandte er sich zu seinen Wesiren und den Großen seines Reiches, tat ihnen kund, was geschehen war, und las ihnen den Brief vor. Da erschraken sie gewaltig und suchten die Angst des Königs zu beschwichtigen mit Worten, die nur von der Zunge rollten, während ihre Herzen vor Pochen in Stücke zerreißen wollten. Darauf hub Badî'a, der Großwesir, an: ,Wisse, o König, in dem, was meine Brüder unter den Wesiren sagten, liegt kein Nutzen. Mein Rat geht dahin, daß du diesem König einen Brief schreibst und dich darin vor ihm entschuldigst, indem du zu ihm sprichst: ,Ich bin dir ein Freund, und ich war es deinem Vater vor dir; und ich sandte dir den Boten mit diesem Briefe nur, um dich zu erproben und um zu schauen, ob du entschlossen seiest, und welche Tapferkeit du besitzest, wie du in Dingen des Wissens und des Handelns dich verhältst und bei verborgenen Anspielungen, und endlich, welche allgemeinen Vollkommenheiten



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dir verliehen sind. Nun flehen wir zu Allah dein Erhabenen, daß er dich segne in deinem Königreich, die Burgen deiner Hauptstadt festige und deine Herrschaft mehre, zumal du auf dich selber achtest und die Angelegenheiten deiner Untertanen zum guten Ende zu führen suchst.' Und diesen Brief sende ihm durch einen anderen Boten.' Da rief der König: ,Bei Allah dem Allmächtigen, dies ist doch ein mächtiges Wunder! Wie kann dieser noch ein mächtiger König sein, bereit zum Kriege, nachdem er die Gelehrten seines Reiches und seine Ratgeber und die Hauptleute seines Heeres hat töten lassen? Wie kann sein Reich danach noch gedeihen, so daß von ihm diese mächtige Kraft ausgehen sollte? Doch noch wunderbarer ist es, daß die Kleinen der Schulen dort eine solche Antwort für ihren König geben können. Ja, ich habe in meiner bösen Gier dies Feuer über mir und über dem Volke meines Reiches entzündet, und ich weiß nicht, wer es löschen kann, es sei denn der Plan dieses meines Wesirs.' Darauf rüstete er ein kostbares Geschenk sowie vielerlei Diener und Sklaven und schrieb einen Brief des Inhalts: ,Im Namen Allahs, des allbarmherzigen Erbarmers! Des ferneren: O großmächtiger König Wird Chân, Sohn meines teuren Bruders Dschali'âd -Allah habe ihn selig und schenke dir ein langes Leben! —, deine Antwort auf unseren Brief ist bei uns eingetroffen, und wir haben sie gelesen und verstanden, was darinnen steht. Wir haben aus ihr erfahren, was uns erfreut, und das ist das Höchste, was wir von Allah für dich erbitten. Denn wir flehen zu ihm, daß er deine Macht erhöhe, die Pfeiler deines Reiches festige und dir über deine Feinde, die dir übelwollen, Sieg verleihe. Wisse, o König, daß dein Vater mir ein Bruder war, und daß zwischen mir und ihm zeit seines Lebens Bünde und Verträge bestanden; er hat von mir nur Gutes erfahren, und auch wir erfuhren desgleichen



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nur Gutes von ihm. Als er entschiafen war und du den Thron seines Reiches bestiegst, widerfuhr uns größte Freude und Fröhlichkeit; doch als uns berichtet wurde, was du an deinen Wesiren und an den Großen deines Reiches getan hattest, befürchteten wir, die Kunde davon könnte einen anderen König außer uns erreichen, und der könnte sich wider dich erfrechen. Denn wir vermeinten, du wärest nachlässig in deinen Geschäften und in der Bewachung deiner Burgen, indem du dich um die Angelegenheiten deines Reiches nicht kümmertest; deshalb schrieben wir dir, um dich dadurch aufzurütteln. Nachdem wir aber gesehen haben, daß du uns eine solche Antwort gabst, ward unser Herz um dich beruhigt. Allah möge dir Freude geben an deinem Königreiche und dich festigen in deiner Würde! Und damit Gott befohlen!' Dann sandte er den Brief und die Geschenke, die er gerüstet hatte, mit hundert Reitern zu König Wird Chân. — -«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 928. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der König vom äußersten Indien, nachdem er die Geschenke für den König Wird Chân gerüstet hatte, sie mit hundert Reitern zu ihm sandte. Die ritten dahin, bis sie zum König Wird Chân kamen; und nachdem sie vor ihm den Gruß gesprochen hatten, übergaben sie ihm den Brief. Der König las ihn und verstand seinen Inhalt; dann bestimmte er für den Hauptmann der hundert Reiter eine Stätte, wie sie ihm gebührte, nachdem er ihm Ehren erwiesen und die Geschenke von ihm angenommen hatte. Alsbald verbreitete sich die Kunde davon unter dem Volke, und der König freute sich darüber gar sehr. Dann schickte er nach dem Knaben, dem Sohn des Wesirs Schimâs,



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ließ ihn vor sich kommen und erwies ihm Ehren; zugleich aber sandte er auch nach dem Hauptmann der hundert Reiter. Darauf ließ er sich den Brief geben, den jener von seinem König mitgebracht hatte, und reichte ihn dem Knaben; der öffnete ihn und las ihn vor. Darüber freute sich der König von neuem gar sehr, während er vor dem Hauptmann der hundert Reiter tadelnde Worte sprach, so daß dieser ihm die Hände küßte und sich vor ihm entschuldigte und für ihn um langes Leben und ewiges Glück betete. Dafür dankte ihm der König und erwies ihm noch höhere Ehren; auch gab er ihm und allen, die bei ihm waren, was ihnen gebührte, und rüstete Geschenke, die sie mitnehmen sollten. Dem Knaben aber befahl er, eine Antwort auf den Brief zu schreiben; da schrieb der Knabe die Antwort, darin er nach einer schön gewählten Anrede kurz von der Versöhnung sprach und dann das trefffiche Benehmen des Gesandten und seiner Reitersleute hervorhob. Und als er den Brief beendet hatte, reichte er ihn dem König; der sprach zu ihm: ,Lies ihn, teurer Knabe, damit wir alle erfahren, was in ihm geschrieben steht!' Da las der Knabe ihn vor in Gegenwart der hundert Reiter; und der König und alle, die zugegen waren, fanden Gefallen an den schönen Worten und ihrem Inhalt. Dann setzte der König sein Siegel darunter und übergab den Brief dem Hauptmann der hundert Reiter, entließ ihn und sandte mit ihm eine Schar von seinen eigenen Truppen, die ihn bis zur Grenze ihres Landes geleiten sollten.

Wenden wir uns nun von dem König und dem Knaben zu dem Hauptmann der Hundert! Der war in seinem Sinne ganz verwirrt über das, was er an dem Knaben gesehen hatte, zumal über seine Kenntnisse; und er dankte Allah dem Erhabenen, daß sein Auftrag so rasch erledigt, und daß der Friede angenommen war. Dann zog er seines Weges dahin, bis er zum



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König vom äußersten Indien kam; dem brachte er die Geschenke und Kostbarkeiten, führte ihm auch all die anderen Gaben vor, überreichte ihm den Brief und berichtete ihm, was er geschaut hatte. Darüber war der König hoch erfreut, er pries Allah den Erhabenen und erwies dem Hauptmann der Hundert Ehren, dankte ihm für den Eifer bei seinem Tun und erhöhte seinen Rang. Von jener Zeit an lebte er in Sicherheit und Frieden, Ruhe und wachsender Freude. Soviel über den König des äußersten Indien!

Sehen wir weiter, wie es dem König Wird Chân dann erging! Er kehrte nunmehr zu Allah zurück und wandte sich ab von seinem schlimmen Wege und bereute vor Gott mit aufrichtigem Herzen alles, was er getan hatte. Die Frauen verließ er ganz und gar und widmete sich nur allein der Wohlfahrt seines Reiches und der Sorge für seine Untertanen in der Furcht des Herrn. Den Sohn des Schimâs machte er zum Wesir an seines Vaters Statt und zu seinem ersten Ratgeber im Reiche und zum Hüter seiner Geheimnisse. Und er befahl, die Hauptstadt sieben Tage lang zu schmücken, ebenso auch alle anderen Städte. Des freuten sich die Untertanen, und Furcht und Angst wichen von ihnen; ja, sie erfreuten sich der Gerechtigkeit und der Pflege des Rechts und waren inständig im Gebet für den König und den Wesir, der diese Sorge von ihm und von ihnen genommen hatte. Danach sprach der König zum Wesir: ,Welches ist dein Rat, damit wir das Reich und die Wohlfahrt der Untertanen sichern, und daß es wieder dahin gebracht werde, wo es früher war, hinsichtlich der Hauptleute und der Ratgeber?' Der Wesir antwortete ihm und sprach: ,O König von hohem Ruhm, mein Rat geht dahin, daß du vor allen Dingen damit beginnst, die Wurzel der Sünden aus deinem Herzen zu reißen und von deinem früheren Treiben abzulassen, von dem



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Vergnügen und der Ungerechtigkeit und der Hingabe an die Frauen; denn wenn du zur Wurzel der Sünden zurückkehrst. so wird der Rückfall in die Verirrung stärker sein, als sie es zuvor war.' Da fragte der König: ,Welches ist denn die Wurzel der Sünden, die ich ausreißen muße' Darauf antwortete ihm jener Wesir, der so jung an Jahren, doch so alt an Einsicht war, indem er sprach: ,O großer König, wisse, die Wurzel der Sünde ist die Hingabe an die Liebe zu den Frauen und die Neigung zu ihnen, und das Annehmen ihrer Ratschläge und Weisungen; denn die Liebe zu ihnen verwandelt den klaren Verstand und verdirbt das gesunde Wesen. Zeuge für das, was ich sage, sind klare Beweise; und wenn du über sie nachdenkst und ihren Lehren mit festem Blicke folgst, so wirst du einen treuen Berater wider die eigene niedere Seele finden und meines Rates gar nicht mehr bedürfen. Drum erfülle dein Herz nicht mit Gedanken an sie, tilge ihre Spur aus deinem Sinn, zumal da Allah der Erhabene durch den Propheten Moses befohlen hat, sich ihres übermäßigen Gebrauches zu enthalten; hat doch auch sogar einer von den weisen Königen zu seinem Sohn gesagt: ,Mein Sohn, wenn du nach meinem Tode die Herrschaft angetreten hast, so gib dich nicht zu viel mit den Frauen ab, auf daß dein Herz nicht irre und dein Urteil sich nicht verwirre! Kurz gesagt, der häufige Umgang mit ihnen führt zur Liebe zu ihnen, und die Liebe zu ihnen führt zur Verwirrung des Urteils.' Der Beweis dafür ist das, was unserem Herrn Salomo, dem Sohne Davids -über beiden sei Heil! — widerfahren ist, ihm, den Allah insbesondere begnadet hatte mit Wissen und Weisheit und großer Herrschermacht, ihm, dem Er verliehen hatte, was noch keinem einzigen der Könige vor ihm zuteil geworden war: die Frauen waren die Ursache der Versündigung seines Vaters. Solcher Beispiele gibt es viele,



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o König; und ich habe dir nur deshalb Salomo genannt, damit du daran denkst, daß es niemandem beschieden war, solche Macht zu besitzen, wie er sie besaß, sodaß ihm alle Könige der Erde gehorchten. Wisse also, o König, die Liebe zu den Frauen ist die Wurzel alles Übels, und keine einzige von ihnen hat ein richtiges Urteil. Daher geziemt es dem Manne, daß er sich hinsichtlich ihrer auf das notwendige Maß beschränke und sich ihnen nicht ganz und gar hingebe; denn das stürzt ihn in Verderben und Unheil. Wenn du also auf meine Worte hörst, o König, so werden dir alle Dinge gedeihen; doch wenn du sie beiseite lässest, so wirst du bereuen, wo die Reue dir nichts mehr nützt.' Der König antwortete ihm und sprach: ,Jetzt habe ich die übermäßige Neigung zu ihnen, die ich früher hatte, von mir abgetan.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 929. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß König Wird Clin zu seinem Wesir sprach: ,Jetzt habe ich die Neigung zu ihnen, die ich früher hatte, von mir abgetan, und ich habe mich gänzlich davon bekehrt, mit den Frauen mich abzugeben. Doch was soll ich ihnen antun, um sie für das zu strafen, was sie getan haben? Denn die Ermordung deines Vaters Schimâs war ein Werk ihrer Tücke; das geschah nicht aus meinem freien Willen, und ich weiß garnicht, was mit meinem Verstande vorgegangen sein muß, daß ich ihnen nachgab und ihn töten ließ.' Dann begann er zu wehklagen, und er schrie auf und rief: ,O Jammer um den Verlust meines Wesirs und seines trefflichen Rates und seiner schönen Leitung! Und weh um den Verlust von seinesgleichen unter den Wesiren und den Häuptern des Staates mit all der Schönheit ihrer trefflichen und



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rechten Ratschläge! 'Da antwortete ihm der Wesir und sprach: ,Wisse, o König, die Schuld liegt nicht bei den Frauen allein; denn sie sind gleich einer schönen Ware, nach der die Begierden der Beschauer sich regen. Wer da Lust hat und kaufen will, dem wird sie verkauft; wer aber nicht kaufen will, den kann keiner zwingen, sie zu kaufen. Deshalb liegt die Schuld bei dem Käufer, zumal wenn er weiß, wie schädlich jene Ware ist. Nun warne ich dich, wie dich vor mir mein Vater zu warnen pflegte, ohne daß du guten Rat von ihm annahmst.' Der König erwiderte ihm: ,Ich habe mir selber die Schuld aufgeladen, wie du gesagt hast, o Wesir, und ich habe keine Entschuldigung als allein das göttliche Verhängnis.' ,Wisse, o König,' fuhr dann der Wesir fort, ,Allah der Erhabene hat uns erschaffen, und Er hat zugleich Fähigkeiten für uns geschaffen, indem er uns Willen und freie Wahl verlieh; wenn wir also wollen, so tun wir, und desgleichen, wenn wir wollen, so tun wir nicht. Gott hat uns nicht befohlen, Schädliches zu tun, damit sich die Sünde nicht an uns hängt. Deshalb geziemt es uns, daß wir uns darüber Rechenschaft ablegen, was zu tun richtig ist; denn der Erhabene befiehlt uns in allen Fällen nur das Gute und verbietet uns das Böse. Was wir aber tun, das tun wir aus eigenem Willen, sei es gut oder böse.' Da sagte der König: ,Du hast recht; meine Sünde kam nur aus mir selber, weil ich mich den Begierden hingab. Freilich habe ich mich selbst oft genug davor gewarnt, wie auch dein Vater Schimâs mich warnte; dennoch siegte meine Lust über meinen Verstand. Weißt du nun etwas, das mich davor behüten kann, diese Sünde noch einmal zu begehen, also daß nunmehr mein Verstand über die Begierden meiner Lust den Sieg davontrage m' ,Ja,' erwiderte der Wesir, ,ich weiß etwas, das dich davor bewahren kann, wieder in diesen Fehler zu verfallen: es ist aber



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dies, daß du das Gewand der Torheit ablegst und dich in das Gewand der rechten Sinnesart kleidest, deiner Lust widerstrebst und deinem Herrn gehorsam lebst; daß du zu dem Wandel des gerechten Königs, deines Vaters, zurückkehrst und alles tust, was dir obliegt an Pflichten gegen Allah den Erhabenen und an Pflichten gegen deine Untertanen, daß du deinen Glauben und deine Untertanen beschützest, dich selber recht verhältst und deine Untertanen nicht mehr töten lässest; daß du den Ausgang der Dinge bedenkst und dich abwendest von Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Gewalttat und Schlechtigkeit; daß du Recht und Gerechtigkeit und Demut übst, den Befehlen Allahs des Erhabenen gehorchst und dich der Sorge für Seine Geschöpfe eifrig widmest, über die er dich zu Seinem Stellvertreter gemacht hat, und daß du immer nur an das denkst, was dir ihren Segen einträgt. Wenn du darin beharrlich bist, so wird deine Lebenszeit heiter sein, und Allah wird dir in Seiner Barmherzigkeit vergeben und allen, die dich schauen, Ehrfurcht vor dir einflößen; deine Feinde werden zuschanden werden, denn Allah der Erhabene wird ihre Heerscharen in die Flucht schlagen, du wirst vor Gott Wohlgefallen finden, und Seine Geschöpfe werden dich in Ehrfurcht lieben.' Da sprach der König zu ihm: ,Du hast mein Herz zu neuem Leben erweckt und mein Inneres erleuchtet durch deine liebliche Rede, und du hast mein Auge entschleiert, nachdem es blind gewesen ist. Ich bin entschlossen, alles zu tun, was du mir gesagt hast, durch die Hilfe Allahs des Erhabenen; ich will dahinfahren lassen, was früher an Ungerechtigkeit und an Lüsten in mir war, und ich will meine Seele aus der Enge in die Weite, aus der Furcht in die Sicherheit führen. Darüber sollst du froh und fröhlich werden; denn ich bin trotz meinem höheren Alter dir ein Sohn geworden, und du bist mir ein lieber Vater



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geworden, wiewohl du noch jung an Jahren bist. So ist es mir auch zur Pflicht geworden, allen Eifer auf das zu verwenden, was du mir gebietest. Und ich preise die Güte Allahs des Erhabenen und deine Güte; denn Er hat mir durch dich Glück und rechte Leitung und trefflichen Rat verliehen, die allen Kummer und Gram von mir abwehren; auch die Sicherheit meiner Untertanen ist durch dich erwirkt worden, durch deine herrlichen Kenntnisse und dein treffliches Planen. Von jetzt an sollst du der Lenker meines Reiches sein, und ich will nur dadurch höher geehrt sein, daß ich auf dem Throne sitze; alles, was du tust, soll mir Gesetz sein, und ich will deinem Worte nicht widersprechen, auch wenn du noch jung an Jahren bist; denn du bist alt an Verstand und reich an Wissen. So preise ich denn Allah, der dich mir geschenkt hat, so daß du mich auf den geraden Pfad des Heils leiten konntest, nachdem ich den krummen Weg des Verderbens betreten hatte.' ,O glücklicher König,' erwiderte der Wesir, ,wisse, ich habe keinen Anspruch auf dein Lob, weil ich dir mit Eifer guten Rat gegeben habe; denn all mein Reden und Tun ist nur ein Teil von dem, was mir obliegt, da ich ein Pflänzling deiner Güte bin; und nicht nur ich allein, sondern auch mein Vater vor mir ward überhäuft mit deiner reichen Huld. Wir alle bekennen deine Huld und Güte; und wie sollten wir das nicht anerkennen? Denn du, o König, bist unser Hirte und Herrscher, du kämpfst für uns wider unsere Feinde, du bist mit unserem Schutz betraut, du behütest uns und sorgst voll Eifer um unsere Wohlfahrt. Wenn wir unser Leben dahingeben in deinem Dienste, so erfüllen wir noch nicht, was wir dir an Dank schuldig sind. Doch wir flehen demütig zu Allah dem Erhabenen, der dich über uns gesetzt und zum Herrscher über uns gemacht hat, und wir bitten Ihn, daß Er dir ein langes Leben gebe und dir Erfolg verIeihe



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in all deinem Tun; daß Er dich in der Zeit deines Lebens nicht durch Prüfungen heimsuche, sondern dich an dein Ziel geleite und bis zur Zeit deines Todes Ehrfurcht vor dir verbreite; daß Er in Großmut deinen Arm ausrecke, damit du jeden Weisen führen und jeden Widersacher bezwingen kannst, daß bei dir in deinem Reiche nur weise und tapfere Männer gefunden werden und alle Toren und Feiglinge dort ausgerottet werden mögen; daß Er teure Zeit und Fährlichkeit von deinen Untertanen fernhalte und Freundschaft und Liebe unter sie säe; so werde dir in dieser Welt Glück zuteil und in jener Welt das ewige Heil, durch Seine Güte und Seine Huld und Seine verborgene Gnade. Amen! Denn auf allen Dingen ruht Seiner Allmacht Kleid, kein Ding bereitet Ihm Schwierigkeit, und zu Ihm führt die Rückkehr und das Ziel aller Zeit!' Als der König dies Gebet von ihm vernommen hatte, freute er sich über die Maßen, und er ward ihm von ganzem Herzen geneigt und sprach zu ihm: ,Wisse, o Wesir, du bist mir wie ein Bruder, ein Sohn und ein Vater geworden, und nichts als der Tod soll mich von dir trennen. Alles, was meine Hand besitzt, soll dir zur freien Verfügung stehen; und wenn ich keinen Nachkommen habe, sollst du an meiner Statt auf meinem Throne sitzen; denn du bist der Würdigste von allem Volk meines Reiches, und ich will dich mit meiner Königsherrschaft vor allen Großen meines Reiches betrauen, indem ich dich zu meinem Thronfolger nach mir ernenne, so Allah der Erhabene will.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 930. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß König Wird Chân zu dem Sohne des Wesirs Schimâs sprach: ,Ich will dich an



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meiner Statt zum Herrscher machen und dich zu meinem Thronfolger nach mir ernennen und die Großen meines Reiches zu Zeugen dafür nehmen, durch die Hilfe Allahs des Erhabenen.' Danach berief er seinen Schreiber, und als der vor ihm stand, befahl er ihm, an alle Großen seines Reiches zu schreiben, sie sollten vor ihm erscheinen; auch ließ er es durch Ausruf in der Stadt allen, die zugegen waren, Vornehmen und Geringen, bekanntgeben. So befahl er, daß die Emire und Heerführer, Kammerherren und andere Würdenträger sich in Gegenwart des Königs versammeln sollten, desgleichen auch die Gelehrten und Weisen. Und der König hielt eine große Staatsversammlung ab und ließ ein Gastmahl feiern, wie es noch niemals gefeiert worden war. Dazu lud er alle Leute ein, vornehm und gering, und so waren alle bei ihm fröhlich vereint zu Speise und Trank einen ganzen Monat lang. Dann verteilte er Gewänder an alle seine Diener und an die Armen seines Landes, und den Gelehrten verlieh er reichliche Gaben. Ferner wählte er eine Schar von Gelehrten und Weisen aus, die dem Sohne des Schimâs bekannt waren, und ließ sie zu sich hereinkommen; dort befahl er ihm, er solle aus ihrer Zahl sechs' erwählen, um sie zu Wesiren zu machen, die unter seinem Befehle ständen, und er solle ihr Oberhaupt sein. Da wählte der Knabe, der Sohn des Schimâs, solche von ihnen aus, die an Jahren die ältesten, an Verstand die vollkommensten, an Wissen die reichsten und an Beobachtung die schnellsten waren, indem er genau prüfte, welche sechs Männer diese Eigenschaften besaßen. Darauf stellte er sie dem König vor, und der kleidete sie in die Gewänder der Wesire und redete sie an, indem er sprach: ,Ihr seid jetzt meine Wesire unter dem Befehle des Sohnes des Schimâs. Alles, was dieser mein Wesir, der



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Sohn des Schimâs, euch sagt oder befiehlt, dürft ihr nie und nimmer unterlassen; denn wenn er auch an Jahren der jüngste von euch ist, so ist er doch an Verstand der älteste von euch.' Alsdann ließ der König sie sich auf Stühle setzen, die nach der Sitte der Wesire mit Gold verziert waren, und setzte ihnen Einkünfte und Unterhalt fest. Ferner befahl er, aus den Großen des Reiches, die sich bei ihm zum Gastmahl versammelt hatten, die auszuwählen, die für den Staatsdienst im Heere am geeignetsten wären, auf daß er sie zu Hauptleuten mache über Tausendschaften, Hundertschaften und Zehnschaften; zugleich setzte er für sie die Ämter fest und bestimmte ihnen die Einkünfte nach der Art der Großen. Und das ward in kürzester Zeit getan. Weiter befahl er, allen anderen, die zugegen waren, reiche Geschenke zu geben und sie mit Ehren und Auszeichnung zu entlassen, einen jeden in sein Land. Seinen Statthaltern gab er die Weisung, gegen die Untertanen gerecht zu sein, und ermahnte sie, für Reiche und Arme in gleicher Weise zu sorgen, und befahl, allen je nach ihrem Range aus dem Schatz Unterstützungen zu gewähren. Nachdem die Wesire ihm dauernden Ruhm und langes Leben gewünscht hatten, gab er noch den Befehl, die Hauptstadt drei Tage lang zu schmücken zum Dank gegen Allah den Erhabenen für die Gnade, die Er ihm hatte zuteil werden lassen. Soviel von dem König und seinem Wesir, dem Sohne des Schimâs, und davon, wie das Reich geordnet ward und die Emire und Statthalter dort eingesetzt wurden!

Sehen wir nun, wie es den Frauen erging, den Vertrauten unter den Odalisken und den anderen, die durch ihre List und Tücke die Ermordung der Wesire und das Verderben des Reiches veranlaßt hatten! Nachdem alle, die aus der Stadt und den Dörfern an der Staatsversammlung teilgenommen hatten, wieder



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heimgekehrt und ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht waren, befahl der König dem Wesir, der so jung an Jahren, doch alt an Verstand war, jenem Sohne des Schimâs, er solle die anderen Wesire herbeirufen. Als sie alle vor den König getreten waren, schloß er sich mit ihnen ein und sprach zu ihnen: ,Wisset, ihr Wesire, ich war von dem rechten Wege abgewichen, und versunken in Torheit, widersetzte ich mich gutem Rate, brach Versprechen und Gelübde und horchte nicht auf die Ratgeber. Der Grund von all dem war, daß ich mit diesen Frauen tändelte und daß sie mich betrogen und durch ihre gleisnerischen Worte und Falschheit betörten; ich nahm das alles an, da ich vermeinte, ihre Rede sei aufrichtig, wegen ihrer Süße und Lieblichkeit; aber siehe da, sie war ein tödliches Gift. Und jetzt bin ich überzeugt, daß sie nur mein Verderben und meinen Untergang erstrebten, und darum haben sie Strafe und Vergeltung von mir verdient um der Gerechtigkeit willen, auf daß ich sie zu einer Warnung mache für alle, die sich warnen lassen. Was ist nun der rechte Rat betreffs ihrer Hinrichtung?' Da antwortete ihm der Wesir Ihn Schimâs und sprach: ,Großmächtiger König, ich habe dir schon früher gesagt, daß die Schuld nicht allein an den Frauen liegt, sondern verteilt ist zwischen ihnen und den Männern, die ihnen gehorchen. Dennoch verdienen die Frauen eine Strafe auf alle Fälle aus zwei Gründen: erstlich, auf daß dein Wort erfüllet werde. da du der Großkönig bist, und zweitens, weil sie sich wider dich erfrechten und dich betrogen und sich in Dinge mischten, die sie nichts angehen und von denen zu reden ihnen nicht gebührt. Deswegen haben sie gar wohl den Tod verdient; es möge ihnen aber genügen, was ihnen bereits widerfahren ist! Erniedrige sie von jetzt ab zum Range von Sklavinnen! Doch der Befehl steht bei dir, hierin und in allen anderen Dingen.'



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Einer der Wesire riet dem König das gleiche, was der Sohn des Schimâs ihm gesagt hatte. Ein anderer aber trat vor den König, warf sich vor ihm nieder und sprach: ,Allah lasse die Tage des Königs lange währen! Wenn du nicht umhin kannst, an ihnen etwas zu tun, das ihnen Verderben bringt, so tu, was ich dir sage.' ,Und was hast du mir zu sagen?' fragte der König: da fuhr jener fort: ,Das beste wäre, wenn du einer deiner vertrauten Sklavinnen befiehlst, sie solle die Frauen, die dich betrogen haben, mit sich nehmen und in das Zimmer führen, in dem die Wesire und Weisen ermordet wurden, und sie dort einschließen; und wenn du ferner befiehlst, man solle ihnen nur wenig Speise und Trank reichen, gerade so viel, daß ihr Leben gefristet wird. Dann soll es ihnen nie erlaubt sein, jenes Gemach zu verlassen; und jede, die stirbt, soll unter ihnen liegenbleiben, wie sie ist, bis daß sie alle, auch die letzte, gestorben sind. Dies ist das geringste, was sie verdienen; denn sie waren die Ursache dieses großen Unheils, ja, die Wurzel aller Heimsuchungen und Prüfungen, die in dieser Zeit hereingebrochen sind; und an ihnen ist zur Wahrheit geworden das Wort dessen, der da gesagt hat: Wer eine Grube gräbt dem Bruder sein, fällt selbst hinein, mag es ihm auch noch lange wohl ergehen.' Der König nahm seinen Rat an und tat, wie er ihm gesagt hatte. Er sandte nach vier kräftigen Sklavinnen und übergab ihnen die Frauen, indem er ihnen befahl, sie sollten sie in das Zimmer der Ermordeten schleppen und dort gefangen setzen, und er bestimmte für sie nur ein wenig grobe Speise und nur ein wenig trübes Wasser. So geschah es, daß sie tiefbetrübt wurden und bereuten, was sie verbrochen hatten, und bitterlich klagten. Und so gab Allah ihnen als ihren Lohn in dieser Welt die Schande und bereitete ihnen die Strafe im Jenseits vor; sie blieben immer in jenem finsteren Gemach mit dem



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eiden Geruch, und jeden Tag starb eine von ihnen, bis sie alle umgekommen waren, auch die letzte von ihnen. Und die Kunde von diesem Ereignisse verbreitete sich in alle Länder und Gegenden.

Dies ist das Ende der Geschichte von dem König und seinen Wesiren und seinen Untertanen. Und Preis sei Allah, der da macht, daß die Völker vergehen und die modernden Gebeine wieder auferstehen, Ihm, dem da gebühren Preis und Herrlichkeit und Heiligung in Ewigkeit!

Ferner wird erzählt


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
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