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Das blaue Band


Norwegische Märchen Band II

Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer

J. CH. MELLINGER-VERLAG STUTTGART


Sorge und Leid

In blauer Ferne lebte einmal ein König, der hatte drei herrliche Töchter von seiner ersten Königin, aber er hatte keine Söhne. Deshalb achtete er die drei Prinzessinnen so hoch, daß er ihnen alles gab, was sie sich von ihm erbaten. Aber da geschah es doch einmal, daß der Feind ins Land kam, und der König mußte in den Krieg. Als er abreiste bat ihn die älteste Prinzessin, er möge ihr einen Ring kaufen, der die Kraft habe, daß sie nie sterbe, so lange sie ihn am Finger habe. Die mittlere Prinzessin bat um einen Kranz, der sie froh mache, sobald sie



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ihn anschaue, und sei ihr auch noch so weh ums Herz. »Kaufe mir Sorge und Leid«, sagte die Jüngste. Ja, das versprach der König.

Als er den Feind aus dem Land und auch aus dem Nachbarland verjagt hatte, und als er den Heimweg antreten wollte, fiel ihm ein, was er den drei Prinzessinen versprochen hatte. Den Ring und den Kranz fand er schnell, aber Sorge und Leid waren nirgends zu kaufen, weder hier noch da, weder an dem einen Ort noch an dem anderen, denn alle Leute waren so froh und erleichtert, weil der Feind verjagt war, daß in seinem ganzen Land und Reich weder Sorge noch Leid zu finden waren. Da es nicht zu kaufen war, so gab es das auch nicht, und er mußte ohne Sorge und Leid heimreisen, so schlimm es ihn auch dünkte.

Nicht weit von seinem Schlosse mußte er durch einen dichten Wald. Auf einem Baum am Wege saß ein Eichhorn, das rief: »Kauf mich, kauf mich, ich heiße Sorge und Leid«. Der König dachte, es sei besser ein Eichhorn zu haben, als zwei leere Hände, so nahm er es mit zu seiner jüngsten Tochter. Sie freute sich ebensosehr über ihr Geschenk, wie ihre beiden Schwestern über Ring und Kranz. Das Eichhorn sprang in ihrer Kammer umher, bald wiegte es sich auf dem Bettpfosten, bald saß es oben auf dem Schrank, und immer hatte es eine Menge zu erzählen. Am abend, wenn der Tag schwand, fiel das Eichhornfell von ihm, und er ward ein junger, liebender Prinz. In dem vergoldeten Wald, so erzählte er, wohne eine schlimme, häßliche Trollhexe, die habe ihn in ein Eichhorn verbannt, weil er sie nicht heiraten wollte. Nachts habe sie keine Macht über ihn, doch jeden Morgen, wenn der Tag anbreche, müsse er wieder das Eichhornfell überziehen.

Nach einiger Zeit war es so weit, daß die Königstochter und Sorge und Leid heiraten wollten. Als sie sich Treue gelobt hatten, bat er sie flehentlich, nachts niemals Licht zu entzünden, um ihn zu sehen, »sonst werden wir beide unglücklich«! sagte er. »Nein, das will ich gewiß nicht tun« sagte sie, »das ist sicher«.

Nun kam jeden Abend, wenn die Königstochter sich gelegt und das Licht gelöscht hatte, ein Mensch und legte sich neben sie. Doch am Morgen, wenn sie erwachte, lag sie allein, und das Eichhorn saß auf dem Bettpfosten, begrüßte sie, plauderte und schwatzte mit ihr von allem, was möglich war.

Aber einmal geschah es doch, da dachte sie, er schläft ganz fest, da konnte sie sich nicht länger zurückhalten, sie erhob sich, zündete ein Licht an und schlich sich wieder leise zum Bett, und im Lichtschimmer sah sie, daß er viel, viel herrlicher war, als der allerherrlichste Königssohn. Er war so über alle Maßen schön, daß es gar nicht zu beschreiben



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war, sie neigte sich über ihn, um ihn noch besser zu sehen, und schließlich konnte sie nicht anders, sie mußte ihn auf den Mund küssen. Doch da fielen drei Talgtropfen vom Licht auf seine Brust und er erwachte.

»O, warum hast du das getan?«, rief er ganz unglücklich, »hättest du noch drei Tage ausgehalten, so wäre ich erlöst gewesen, aber nun muß ich zurück zu der bösen Trollhexe und sie heiraten, in den vergoldeten Wald, und zwischen dir und mir ist alles aus«. — »Darf ich dir nicht dorthin folgen?« fragte die Königstochter. »Nein, das vermagst du nie im Leben, denn wenn du dich ausruhst, oder auch nur die Beine zum Sitzen beugst, so kommst du in der Nacht so weit zurück, als du am Tage vorwärts gekommen bist«, sagte er, sprang zur Tür und war verschwunden.

Die Königstochter weinte und jammerte und wartete darauf, daß er wiederkäme, aber sie hörte und sah nichts mehr von ihm. Nach ein paar Tagen wurde sie ganz traurig und unruhig, sie konnte nicht mehr daheimbleiben. Sie bat ihre Magd inbrünstig, mit ihr zu gehen, sie wolle den vergoldeten Wald suchen. Schließlich gab die Magd nach, aber sie wollte nicht eher fort gehen, bis sie eine Eile Drillich, eine Eile Zwillig und eine Eile feines Leinen hatten. Das bekamen sie auch bald, denn auf dem Schloß war kein Mangel an solchen Dingen, glaube ich.

So machten sie sich auf den Weg und wanderten lang und länger, bis ihnen die Füße wund wurden und der Mut sank. Abends kamen sie mitten in einen dichten, dunklen Wald und kletterten auf einen hohen Baum. Die Königstochter war so müde, daß die Magd sie in den Armen halten mußte, während sie ein wenig schlief. Aber in der Nacht wurde es unten, um den Baum herum, unheimlich unruhig. Wölfe heulten und bellten, sodaß sich die Königstochter nicht mehr getraute, auch nur einen Augenblick zu schlafen. Aber so wie der Tag sich am Himmel zeigte, waren die Wölfe allesamt mit einem Male wie weggeblasen.

Am anderen Tage wanderten sie weiter und immer weiter bis die Füße noch wunder wurden und der Mut noch tiefer sank. Als der Abend sich neigte, kamen sie wieder in einen dichten, dunklen Wald. Sie kletterten wieder auf einen hohen Baum und die Königstochter war wieder so müde, daß die Magd sie in ihren Armen halten mußte, während sie ein wenig schlief. Als es dunkelte, trafen sich unter dem Baum eine Menge unheimlicher Bären, die fingen an zu tanzen und sich ganz unheimlich schnell im Kreise zu drehen. Auf einmal versuchten sie, auf den Baum hinaufzuklettern. Die ganze Nacht mußten die Königstochter



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und ihre Magd im höchsten Wipfel stehen, sie konnten kein Auge schließen. Aber als der Tag nahte, waren die Bären in einem einzigen Augenblick wie in die Erde versunken.

Am dritten Tage wanderten sie weiter und immer weiter und noch ein Stück dazu. Als der Abend sich neigte, kamen sie wieder in einen dunklen, dichten Wald und kletterten wieder auf einen hohen, hohen Baum. Kaum waren sie oben, so wimmelte es unter dem Baum und überall im Wald von lauter Löwen, die brüllten und heulten alle so schauerlich, daß es von Fels und Wald widertönte. Nun begannen sie zu tanzen und in einer unheimlichen Schnelle herumzuwirbeln, daß die Erde erzitterte und bebte. Und zwischendurch klammerten sie sich wieder an den Baum und versuchten ihn zu schütteln und zu lockern und wollten ihn mit Stumpf und Stiel ausreißen. Im höchsten Wipfel mußten die Königstochter und ihre Magd stehen, und obgleich sie so müde und schlaftrunken waren, daß sie manchmal fast heruntergefallen wären, wagten sie nicht, an Schlaf zu denken. Aber im selben Augenblick, als der Tag am Horizont auftauchte, waren die Löwen alle auf einmal in den Erdboden verschwunden, wo sie gingen und standen. Den ganzen Tag wankten sie nun hierhin und dorthin, die Füße wurden wunder als wund und der Mut sank tiefer als tief. Sie verloren Weg und Steg, und obgleich sie im Norden und Süden, im Osten und im Westen suchten, konnten sie sich doch nicht aus dem großen, dunklen Wald herausfinden.

Schließlich wurde die Königstochter über alle Maßen traurig und so müde. Alle Augenblicke wollte sich sich niedersetzen um sich ein wenig auszuruhen und zu schlafen. Aber die Magd hielt sie und zog sie vorwärts, damit sie sich nicht auf gebeugten Beinen niederlassen sollte, denn sonst wären sie ebenso weit zurückgekommen, als sie am Tag vorwärts gekommen waren, die Trollhexe im goldenen Wald hatte es so bestimmt.

Am Abend kamen sie an einen großen, häßlichen Felsen. »Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd und pochte und klopfte. »Ach bitte nein, klopfe hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich hier alles ist«, sagte die Königstochter. »Wer schlägt an meine Tür«, rief das Trollweib im Felsen laut und rauh. Sie öffnete die Tür und streckte ihre ellenlange Nase durch den Spalt. — »Die jüngste Königstochter und ihre Magd wollen zu einem Prinzen im goldenen Wald, der Sorge und Leid heißt«, antwortete die Magd.

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort!« sagte das



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Trollweib, »aber was wollt ihr von Sorge und Leid? Ist das vielleicht die Königstochter, die er heiraten wollte?« fragte das Trollweib. Ja, das sei die Königstochter. — »Nie im Leben wird sie ihn bekommen«, sagte das Trollweib, »denn nun muß er im goldenen Wald die große Trollhexe selbst heiraten. Ihr könnt ebenso gut jetzt wie später heimkehren«, sagte sie. Nein, umkehren wollten sie auf keinen Fall, und die Magd fragte, ob es nicht möglich wäre, ein Nachtlager zu bekommen. »Hereinkommen könnt ihr wohl«, antwortete das Trollweib, »aber wenn mein Mann heimkommt, so dreht er euch den Kopf ab und frißt euch auf«. Da war nichts zu machen, sie konnten mitten in der Nacht nicht weiterwandern. So zog die Magd die Eile Drillich hervor und schenkte sie dem Trollweib für einen Leinenhut. »Ach nein, ach nein«, rief sie aus, »nun bin ich schon hundert Jahre verheiratet und habe noch nie einen Hut aus Drillich getragen«. Sie freute sich so sehr, daß sie die beiden wohl aufnahm und gut umsorgte. Nach einer Weile, als sie sich durch Essen und Trinken gestärkt hatten, sagte das Trollweib zu ihnen: »Ja, mein Mann ist ein grimmiger Kerl, ich will versuchen, euch in der Vorkammer zu verstecken, vielleicht findet er euch dort nicht«. Sie richtete ihnen ein Bett her, so weich und gut wie nur ein Bett sein kann, aber sie trauten sich nicht, darauf zu liegen oder zu sitzen, nicht einmal einen Augenblick lang, weil sie acht geben mußten nicht die Beine zu beugen. So standen sie die ganze Nacht und hielten abwechselnd eines das andere unter den Armen, denn nun war auch die Magd so müde und erschöpft, daß sie fast nicht mehr konnte.

Um Mitternacht begann es ganz gräßlich zu donnern und zu poltern. Das war der Troll, der heimkam. Kaum hatte er seinen Kopf zur Tür hereingestreckt, so schrie er auch schon grob und häßlich: »Pfui, pfui, ich rieche Christenfleisch.« Ganz wild und wütend fuhr er umher, daß die Funken knisterten. — »Ja«, sagte das Trollweib, »es ist ein Vogel vorbei geflogen mit dem Knochen eines Christenmenschen. Den hat er durch den Kamin herunterfallen lassen, ich habe ihn schnell wieder hinausgeworfen, aber es kann doch sein, daß es immer noch danach riecht«, sagte das Trollweib. Er gab sich auch damit zufrieden. Aber am nächsten Morgen erzählte ihm das Trollweib, die jüngste Prinzessin und ihre Magd seien gekommen, sie suchen nach einem Prinzen mit Namen Sorge und Leid, im goldenen Wald.

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort!« schrie der

Troll. »Das ist die Königstochter, die ihn heiraten sollte, ich weiß, aber sie bekommt ihn nie im Leben, denn in drei Tagen muß er die große



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Trollhexe selbst heiraten. —Doch die Mädchen kommen mir nicht von hier fort, wo sind sie?« schrie er und schnüffelte und schnupperte in allen Winkeln und Ecken. »Ach nein«, sagte das Trollweib, »ihnen darfst du nichts tun, sie haben mir eine Eile Drillich geschenkt, und nun bin ich schon hundert Jahre verheiratet und habe noch nie einen Hut aus Drillich besessen. Du solltest ihnen dein Siebenmeilenwams leihen bis zum nächsten Nachbarn«, sagte das Trollweib, und sie bat für die beiden. Der Troll war einverstanden, als er hörte, wie freundlich sie zu seiner Frau gewesen waren.

Als sie gegessen hatten und reisefertig waren, schnürte er ihnen sein Siebenmeilenwams an. Nun müßt ihr sagen:

»Ober Tannenwipfel und Weidenbusch,
durch Tal und Berg zum Nachbarn, husch!«

Und wenn ihr dort seid, müßt ihr sagen: »wo du heut morgen geschnürt worden bist, sollst du heut abend aufgehängt werden«, sagte der Troll. Die Mädchen taten wie ihnen geraten wurde und fuhren über Berg und tiefes Tal, vom Blauen ins Blaue.

Am Abend, in der Dämmerung, kamen sie wieder an einen großen, gräßlichen Felsen. Da zogen sie das Siebenmeilenwams aus und sagten: »Wo du heute morgen geschnürt worden bist, sollst du heut abend aufgehängt werden«. Da flog das Wams von selbst wieder heim.

»Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd und klopfte und schlug.

»Ach, nein, meine Liebe, klopfe hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich hier alles ist«, sagte die Königstochter.

»Wer poltert da an meine Tür«, schrie das Trollweib im Felsen, noch gröber und häßlicher als die erste. Sie machte die Tür ein wenig auf und streckte ihre zwei Ellenlange Nase durch den Spalt.

»Hier ist die jüngste Königstochter und ihre Magd. Wir suchen einen Königssohn, der heißt Sorge und Leid und wohnt im goldenen Wald«, antwortete die Magd. Da sagte das Trollweib ebenfalls:

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort!«

und riet ihnen, umzukehren.

»Ihr könnt ebenso gut jetzt wie später umkehren«, sagte sie. Aber das wollten die beiden ganz und gar nicht, und die Magd fragte, ob sie hier ein Nachtlager haben könnten, und wenn es auch über die dunkelste Nachtzeit wäre.

»Ja, hereinkommen könnt ihr wohl«, sagte das Trollweib, »aber wenn mein Mann heut nacht heimkommt, dreht er euch den Kopf ab und frißt euch auf«.



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Da zog die Magd die Eile Zwillich hervor und gab sie dem Trollweib zu einem Leinenhut.

»Ach nein, ach nein, nun bin ich schon zweihundert Jahre verheiratet und habe noch nie einen Leinenhut aus Zwillich besessen«, rief das Trollweib und freute sich so sehr, daß sie die beiden mit freundlichen Worten aufnahm und es an nichts fehlen ließ.

Nach einer Weile, als sie sich mit Essen und Trinken gestärkt hatten, sagte das Trollweib:

»Ja, mein Mann ist ein grimmiger Kerl, der zerfetzt kreuz und quer jede Christenseele, die hierher kommt. Ich muß euch draußen in der Vorkammer versuchen zu verstecken, vielleicht findet er euch da nicht«. Und sie richtete das Bett für die beiden, aber sie wagten sich weder zu setzen noch zu legen, nicht einmal einen Augenblick lang, denn sie mußten ja acht geben, daß sie die Beine nicht beugten. Sie standen die ganze Nacht und die eine hielt die andere abwechselnd unter den Armen, während sie ein wenig schlummerte.

Um Mitternacht begann es gräßlich zu donnern und zu poltern, daß sie fühlten, wie die Erde unter ihnen zitterte. Dann kam der Troll hereingestürmt:

»Pfui, pfui, ich rieche Christenfleisch«, rief er grob und scheußlich, er fuhr umher, so außer sich, daß Funken stoben wie bei einem Feuerbrand.

»Ja, es ist ein Vogel vorbeigeflogen«, sagte das Trollweib, »der hat einen Christenknochen durch den Schornstein fallen lassen, ich habe ihn schnell wieder hinausgeworfen, aber es kann wohl sein, daß es immer noch danach riecht«. Der Troll glaubte es, aber als sie morgens aufstehen wollten, erzählte sie ihm daß die jüngste Königstochter mit ihrer Magd gekommen sei. Sie suche nach einem Königssohn mit Namen Sorge und Leid, in dem goldenen Wald. Als der Troll das hörte, sagte er auch:

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort

Das ist die Königstochter, die ihn hat heiraten wollen, ich weiß, aber sie bekommt ihn niemals im Leben, denn in zwei Tagen muß er die große Trollhexe selbst heiraten. Wo sind die beiden, sie sollen nicht lebend von hier fortkommen«, schrie er und schnupperte und schnüffelte überall umher.

»Ach nein, du darfst ihnen nichts tun«, sagte das Trollweib und erzählte, sie hätten ihr eine Eile Zwillich für einen Leinenhut geschenkt. »Dafür sollst du ihnen dein Siebenmeilenwams zum nächsten Nachbarn



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leihen«, sagte sie. Er war auch gleich dazu bereit, als er hörte, wie freundlich sie zu seinem Weibe gewesen waren. Als sie am Morgen gegessen hatten, schnürte er ihnen sein Siebenmeilenwams an. »Wenn ihr am Ziel seid, so braucht ihr nur zu sagen: »Wo du heut morgen geschnürt worden bist, da sollst du heut nacht wieder hängen! Dann fliegt das Siebenmeilenwams von selbst wieder heim«, sagte der Troll. Dann fuhren sie über Berge und tiefe Täler, vom Blauen ins Blaue. In der Dämmerung kamen sie wieder an einen großen, gräulichen Felsen.

»Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd und klopfte und schlug an die Bergwand.

»Ach nein, klopf doch bitte hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich hier alles ist«, sagte die Königstochter. —

»Wer poltert da an meine Tür«, schrie das Trollweib drin im Felsen, noch gröber und barscher als die anderen Trollweiber. Sie machte die Tür gerade so weit auf, daß ihre drei Ellen lange Nase durch den Spalt herausschaute.

»Hier steht die jüngste Königstochter mit ihrer Magd. Wir suchen nach einem Königsohn, der Sorge und Leid heißt und im goldenen Wald wohnt«, antwortete die Magd.

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort«, rief das

Trollweib. »Aber was wollt ihr von Sorge und Leid? — Ist das vielleicht die Königstochter, die ihn heiraten sollte?«fragte das Trollweib. Ja, das sei sie, sagte die Magd. Auch dieses Trollweib sagte wieder: »Er muß die große Trollhexe selbst heiraten im goldenen Wald. Da könnt ihr ebenso gut jetzt heimkehren wie später«. — Aber umkehren wollten die beiden ganz und gar nicht, und die Magd fragte, ob sie hier ein Nachtquartier haben könnten, wenn es auch nur während der stockfinstersten Nacht wäre.

»Ja, hereinkommen könnt ihr wohl«, sagte das Trollweib, »aber wenn mein Mann heut nacht heimkommt, dreht er euch den Kopf ab und frißt euch auf«. Da war nichts zu machen, sie konnten nicht in kohlschwarzer Nacht durch Wald und Einöde weiterziehen. Da holte die Magd die Eile Leinwand hervor und schenkte sie dem Trollweib.

»Ach nein, ach nein!« rief sie aus, »nun bin ich schon dreihundert Jahre verheiratet und habe noch nie einen Hut aus Leinwand besessen«. Sie freute sich so sehr, daß sie die beiden freundlich hereinbat und es an nichts fehlen ließ. »Mein Mann ist ein recht grimmiger Kerl, er bringt jedes Christenmenschen Seele um, die sich hierher verirrt«,



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sagte sie, als die Gäste gespeist hatten, »aber ich will versuchen, euch in der Vorkammer zu verbergen, vielleicht findet er euch da nicht«. Dann richtete sie ihnen das Bett weich.

Aber nun war die Königstochter über alle Maßen müde, schwach und schläfrig, sie konnte sich gar nicht mehr länger aufrecht halten und mußte sich legen und ein wenig schlafen, und wenn es auch nur eine winzige Weile war. Die Magd war ebenso müde und elend, daß sie im Stehen einschlief und von Zeit zu Zeit fast umfiel, aber sie blieb doch so weit bei Besinnung, daß sie die Prinzessin unter den Armen ergriff und stützte und nicht die Beine beugen ließ. — Um Mitternacht fing es an zu poltern und zu donnern, sodaß das ganze Haus wankte, als ob Dach und Wände zusammenfallen würden. Das war der Großtroll, der heimkam. Als er die Nase zur Tür hereinstreckte, schrie er wild und gräßlich, wie sie noch nie jemanden hatten schreien hören, all ihr Lebtag nicht. »Verflucht! Es riecht nach Christenmenschen hier!« Er war in solch heller Wut, daß es um ihn funkte und sprühte.

»Ja, es ist ein Vogel vorbeigeflogen und hat einen Christenknochen durch den Schornstein fallen lassen. Ich habe ihn eilig wieder hinausgeworfen, aber es kann schon sein, daß es immer noch danach riecht«, sagte das Trollweib. Der Troll gab sich auch damit zufrieden. Aber als sie am Morgen aufwachten, erzählte sie ihm, daß die jüngste Königstochter mit ihrer Magd gekommen sei. »Sie suchen nach einem Königsohn, der Sorge und Leid heißt und im goldenen Wald wohnt.

»O weh, das ist weit, weit oben nach Nord,
kein Segel, kein Ruder erreicht je den Ort!« schrie der

Großtroll ebenso wie die kleinen Trolle es getan hatten. »Aber sie bekommt ihn nie im Leben, denn morgen muß er die große Trollhexe selbst heiraten. —Wo sind denn die beiden? MMM! das gibt einen fetten Leckerbissen«, schrie er und sprang im Kreis auf dem Fußboden umher und schnupperte und schnüffelte mit allen seinen neun Nasen auf einmal.

»Ach nein, du darft ihnen nichts tun«, sagte das Trollweib, »sie haben mir eine Eile Leinwand für einen Hut geschenkt. Nun bin ich schon dreihundert Jahr verheiratet und habe noch nie einen Hut aus Leinen besessen. Du solltest ihnen dein Siebenmeilenwams bis zum nächsten Nachbarn leihen!« Als der Großtroll das hörte, wie freundlich die beiden gewesen waren, erklärte er sich auch einverstanden. Als sie sich am Morgen durch Speisen gestärkt hatten, schnürte er ihnen sein Siebenmeilenwams an. »Nun müßt ihr sagen:

»Ober Tannenwipfel und Weidenbusch,
durch Tal und Berg zum Nachbarn, husch!«



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Und wenn ihr am Ziel seid, so braucht ihr nur zu sagen: »Dort, wo man dich heut morgen geschnürt hat, sollst du heut nacht wieder hängen«, dann fliegt es allein zurück.« —Sie taten wie er geraten hatte und fuhren weiter und immer weiter, über Berg und tiefes Tal, vom Blauen ins Blaue.

In der Dämmerung kamen sie an einen großen Wald, wo alle Bäume kohlschwarz waren, wenn man sie auch nur ein wenig anrührte, wurde man schwarz wie eine Kaminwand. Aber mitten im Wald war eine Lichtung, auf der stand eine elende, armselige Hütte. Sie hielt nur noch an drei Balken zusammen und war jämmerlich anzuschauen als die elendste Sennhütte. Vor der Tür lag ein Kehrrichthaufen mit alten Schuhen, schmutzigen Lumpen und anderem häßlichen Zeug. Hier legte die Magd das Siebenmeilenwams ab und sagte: »Dort, wo du heut morgen geschnürt wurdest, sollst du heut abend wieder hängen«, und das Wams reiste von selbst wieder zurück.

»Hier will ich anklopfen«, sagte die Magd.

»Ach nein, ach nein«, klagte die Königstochter, »bitte klopf hier nicht an, du siehst ja, wie häßlich es hier ist«!

»Wenn du jetzt nicht tust ,was ich tue, so geht es uns beiden schlecht«, sagte die Magd, stapfte durch den Kehrichthaufen und klopfte an. Ein uraltes Trollweib mit einer drei Ellen langen Nase guckte zum Türspalt heraus.

»Wenn die Mädchen hereinwollen, so wollen sie, wenn sie aber nicht wollen, so können sie es bleiben lassen«, sagte sie und wollte die Tür ihnen vor der Nase schließen.

»Ja, wir wollen herein«, antwortete die Magd und zog die Königstochter hinter sich her.

»Wenn die Mädchen zur Tür herein wollen, so wollen sie, wollen sie aber nicht, so können sie es bleiben lassen«, sagte das Trollweib wieder.

»Ja, danke, wir wollen zur Tür herein«, sagte die Magd und stieg über die Schwelle durch Schmutz und Lumpen.

»O weh, o weh!« seufzte die Königstochter und stieg hinterdrein. Überall war es häßlich und schwarz und rußig drinnen und scheußlich schmutzig. Nach einer Weile ging die Trollhexe hinaus und holte ihnen Milch zum Trinken.

Wenn das Weibervolk trinken will, so will es, will es aber nicht, so können sie es bleiben lassen«, sagte die Trollhexe und wollte es wieder wegsetzen.

»Ja, danke, wir wollen trinken«, sagte die Magd und trank.

»O weh, o weh«, klagte die Königstochter, als sie trinken sollte, denn



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die Milch war in einem Sautrog und Schmutz und Haarknäuel schwammen obenauf. Dann setzte die Trollhexe ihnen Essen vor.

»Wenn das Weibervolk essen will, so will es, will es aber nicht, so können sie es bleiben lassen«, sagte die Trollhexe.

»Ja, wir wollen essen«, sagte die Magd, ehe das häßliche Nasenungetüm die Speisen wieder wegschaffen konnte. Das Brot war schimmelig, am Käse hatten die Mäuse genagt, das Fleisch war verdorben, daß es von weitem stank, zwei dreckige Kalbsschwänze waren um die ranzige Butter gelegt.

»O weh, o weh!« klagte die Königstochter und wollte zu weinen anfangen und war doch trotzdem genötigt, das zu tun, was die Magd tat, und die gräulichen Gast-Gerichte zu kosten. —Nun war das Danken an der Reihe. In ein paar alten Lumpen und Pelzfetzen auf dem Bett lag ein alter Mann, den sie bisher noch nicht gesehen hatten. Als sie zu ihm gingen, ihm zu danken, stand er auf. Und als die Königstochter ihm die Hand gab, küßte er sie. Aber im selben Augenblick verwandelte er sich in einen Königssohn, der war so schön, daß es kaum zu glauben war, wie schön er war. Und die Königstochter erkannte in ihm Sorge und Leid wieder, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte.

»Nun hast du mich erlöst!« sagte er.

»Weh dem, der dir geholfen hat!« schrie das Trollweib und rannte zur Tür hinaus. Aber auf der Treppe blieb sie stehen und wurde zu Stein, denn der Wald war nicht mehr kohlschwarz. Alle Bäume sahen aus, als seien sie von der Wurzel bis zum Wipfel golden, und sie blinkten und glänzten heller als die Sonne zur Mittagszeit. Die elende, schmutzige Hütte hatte sich in ein Königsschloß verwandelt, ganz unermeßlich prächtig und kostbar. Man hätte meinen können, Dach und Wände seien aus purem Gold und Silber, und das waren sie auch.

»Nun kannst du deine Beine wieder beugen«, sagte der Königssohn, »und hast du bis jetzt Sorge und Leid getragen, so sollst du von nun an umso mehr Freude haben.«

Die alte Trollhexe hatte gebraut und gebacken und das ganze Hochzeitsmal für sich schon fertig gemacht. Und als der nächste Morgen kam, feierten der Königssohn und die Königstochter Hochzeit, und alle Leute im Schloß und im ganzen Land feierten mit. Das dauerte vier mal vierzehn Tage, sodaß man in sieben Königsreichen davon hörte, und auch beim Vater und den beiden Schwestern der Braut. Die hätten auch mitgefeiert, wenn sie nicht gar so weit weg gewohnt hätten. — Ich wurde auch zu dem Fest geladen, und der Bräutigam machte mich



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zum Küchenmeister, ich mußte die Rede auf Bräutigam und Braut halten. Aber am letzten Tag des Festes mußte ich Bier zapfen aus einem großen Faß, das ganz zu hinterst im Keller lag. Ehe ich den vollen Krug wegschickte, trank ich zuerst selbst wie es der Brauch war. Aber das Bier war so stark, daß es mir sogleich in den Kopf stieg und ich in die Luft flog wie ein Vogel. Nun habe ich neun volle Jahre zwischen Himmel und Erde geschwebt, dann fiel ich herunter ins Dorf vor das Haus hier oben auf dem Hügel. Und heraus kam Berit Liebmädchen mit einem Brief an mich von dem Königssohn, der inzwischen König geworden war. Darin stand, daß er und die junge Königin gut und zufrieden lebten und dich grüßen lassen. Du und deine Schwestern sollen am Sonntag nach Michaeli zur Einladung aufs Schloß kommen, und da könntest du ein paar liebliche kleine Prinzen, den goldenen Wald und die alte steinerne Trollhexe sehen, die vor der Tür steht und ihre drei Ellen lange Nase in den Wind streckt.


Copyright: arpa, 2015.

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