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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM KAUFMANN UND DEN DIEBEN

Es ist mir berichtet worden, daß einmal ein Kaufmann lebte, der viel Geld besaß; der zog mit Waren aus, um sie in einer anderen Stadt zu verkaufen. Und als er in einer Stadt ankam, mietete er sich dort ein Haus und ließ sich in ihm nieder. Es sahen ihn aber einige Diebe, die den Kaufleuten aufzulauern pflegten, um ihre Waren zu stehlen; und die machten sich auf zu dem Hause jenes Kaufmannes und suchten dort einzudringen, allein sie fanden keine Gelegenheit dazu. Da sprach ihr Hauptmann zu ihnen: ,Ich werde die Sache für euch besorgen.' Dann ging er fort, legte die Kleider der Ärzte an, warf über seine Schulter einen Sack, der einige Heilmittel enthielt, und zog dahin, indem er rief: ,Wer bedarf eines Arztes?' bis er zu der Wohnung jenes Kaufmannes kam und sah, wie der beim Mittagsmahle saß. Er sprach zu ihm: ,Brauchst du einen Arzt?' ,Nein,' erwiderte jener, ,ich brauche keinen Arzt; doch setz dich und iß mit mir!' Da setzte der Dieb sich ihm gegenüber und begann mit ihm zu essen. Nun war jener Kaufmann ein starker Esser; und da sprach der Dieb bei sich selber: ,Jetzt habe ich meine Gelegenheit gefunden.' Darauf blickte er den Kaufmann an und sprach zu ihm: ,Es ist meine Pflicht, dir einen guten Rat zu geben, nachdem du so gütig gegen mich gewesen bist; ja,



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es ist mir nicht möglich, ihn dir vorzuenthalten. Die Sache liegt nämlich so: ich sehe, du bist ein Mann, der viel ißt, und der Grund davon ist eine Krankheit in deinem Magen; wenn du dich nun nicht eilst, auf deine Heilung Sorge zu verwenden, so wird deine Sache mit Schrecken enden.' Doch der Kaufmann entgegnete: ,Mein Leib ist gesund, und mein Magen verdaut rasch; und wenn ich auch ein starker Esser hin, so ist doch keine Krankheit in meinem Leibe -Gott sei Lob und Dank!' Der Dieb fuhr fort: ,Das ist so nur dem Scheine nach, der dich trügt; nein, ich habe erkannt, daß in deinem Inneren eine verborgene Krankheit ist; und wenn du auf mich hören willst, so laß dich heilen.' Da fragte der Kaufmann: ,Wo soll ich denn jemanden finden, der mein Heilmittel kennt?' ,Der wahre Heiler ist nur Allah,' erwiderte der Dieb, ,doch ein Arzt wie ich heut den Kranken nach seinem besten Können.' Darauf sagte der Kaufmann: ,Zeige mir sogleich mein Heilmittel und gib mir etwas davon!' Nun gab jener ihm ein Pulver, in dem sich viel Aloe befand, und sprach zu ihm: ,Nimm dies heute nacht ein!' Der Kaufmann nahm es von ihm hin. und als es Nacht geworden war, gebrauchte er etwas davon; aber wiewohl er fand, daß es Aloe von widerlichem Geschmack war, hielt er das nicht für befremdlich; ja, nachdem er es gebraucht hatte, fand er sogar dadurch in jener Nacht Erleichterung. Am folgenden Abend brachte der Dieb ihm wieder ein Pulver, das noch mehr Abc enthielt als das erste, und gab ihm etwas davon. Nachdem der Kaufmann es eingenommen hatte, verursachte es ihm in der Nacht eine starke Abführung; dennoch ließ er das geduldig über sich ergehen, ohne Verdacht zu schöpfen. Wie der Dieb nun sah, daß der Kaufmann auf sein Wort achtete und ihm vertraute, und nachdem er dessen gewiß geworden war, daß jener ihm nicht widersprach,



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ging er fort und holte ihm eine tödliche Arznei; er gab sie ihm, der Kaufmann nahm sie und schluckte sie hinunter. Aber kaum hatte er jenes Gift getrunken, da zerfiel alles, was in seinem Leibe war, seine Eingeweide zerrissen, und er sank tot nieder. Nun kamen die Diebe und nahmen alles, was dem Kaufmann gehörte.' *

,Sieh, o König, ich erzähle dir dies nur, damit du kein Wort von diesem Betrüger annimmst und damit dich nichts ereilt, wodurch dein Leben zugrunde geht.' ,Du hast recht,' sagte der König, ,ich werde nicht zu ihnen hinausgehen.' Als es Morgen ward, versammelten die Leute sich und begaben sich zum Tor des Königs; dort blieben sie den größten Teil des Tages, bis sie die Hoffnung, daß er herauskommen würde, aufgeben mußten. Darauf wandten sie sich wieder an Schimâs und sprachen zu ihm: ,O du weiser Philosoph und erfahrener Meister, sieh doch, wie dieser törichte Knabe uns immer noch mehr belügt! Es wäre nur recht, wenn man ihm die Königsmacht aus der Hand nähme und sie einem anderen als ihm übertrüge, auf daß durch den unsere Geschäfte geordnet würden und unsere ganze Verwaltung in richtige Bahnen käme. Doch geh noch ein drittes Mal zu ihm und laß ihn wissen, daß nichts uns zurückhält, uns wider ihn zu erheben und ihm die Herrschaft zu entreißen, als allein die Güte seines Vaters gegen uns und die Schwüre und Eide, die er uns abgenommen hat! Morgen aber werden wir uns alle bis zum letzten Mann mit unseren Waffen versammeln und das Tor dieser Festung niederreißen. Wenn er dann zu uns herauskommt und tut, was wir wünschen, so ist es gut; sonst jedoch werden wir zu ihm eindringen und ihn töten und die Königswürde in eine andere Hand legen als die seine.' Da ging der Wesir Schimâs hin, trat zum König



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ein und sprach zu ihm: ,O König, der du dich ganz deinen Begierden und deinem Vergnügen hingibst, was machst du da mit dir selber? Wüßte ich nur, wer dich hierzu antreibt! Wenn du wider dich selber sündigst, so ist es zu Ende mit der Rechtschaffenheit und Weisheit und Reinheit, die wir früher an dir gewahrten. Könnte ich nur erfahren, wer dich so verwandelt hat und dich von der Weisheit zur Torheit, von der Treue zur Untreue, von der Milde zur Härte, von der Freundlichkeit gegen mich zur Abneigung wider mich verführt hat! Wie kommt es, daß ich dich dreimal ermahnen muß, ohne daß du meinen Rat annimmst, und daß ich dir guten Rat gebe, ohne daß du meine Worte befolgst? Sage mir, was ist das für ein Leichtsinn? Was ist das für ein frevles Spiel? Wer hat dich dazu verführt? Wisse, das Volk deines Reiches hat sich schon verschworen, zu dir einzudringen und dich zu töten und dein Reich einem anderen zu geben. Hast du etwa Macht über sie alle, und kannst du dich aus ihren Händen retten? Oder vermagst du dich wieder zum Leben zu erwecken, nachdem man dich getötet hat? Freilich, wenn all dies in deiner Macht steht, so bist du sicher davor und hast meinen Rat nicht nötig. Wenn dir aber das Leben in der Welt und die Königswürde noch am Herzen liegen, so komm zu dir selber, halt dein Reich in fester Hand, zeige den Leuten die Kraft deines Mutes und tu ihnen deine Entschuldigungen kund; denn sie wollen dir entreißen, was in deiner Hand ist, und es einem anderen übergeben, sie sind entschlossen zu Aufstand und Empörung! Dazu sind sie veranlaßt, weil sie wissen, wie jung an Jahren du bist, und daß du dich ganz dem Vergnügen und den Lüsten ergeben hast. Mögen Steine auch noch so lange im Wasser liegen, wenn sie herausgenommen und aufeinander geschlagen werden, so sprüht doch Feuer aus ihnen. Nun sind deine Untertanen ein



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zahlreich Volk; sie verschwören sich wider dich und wollen die Königswürde von dir auf einen anderen übertragen, sie werden ihren Willen an dir durchsetzen und dich ins Verderben stürzen. Dann wird es dir ergehen wie dem Wolf bei den Schakalen.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 921. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Wesir Schimâs zum König sprach: ,Sie werden ihren Willen an dir durchsetzen und dich ins Verderben stürzen. Dann wird es dir ergehen wie dem Wolf bei den Schakalen.' ,Wie war denn das?' fragte der König; und der Wesir erzählte


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