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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DES BARBIERS ERZÄHLUNG VON SEINEM DRITTEN BRUDER

Was nun meinen dritten Bruder betrifft, so heißt er al-Fakîk, und er ist der Blinde. Eines Tages trieben ihn Schicksal und Verhängnis vor ein großes Haus, und er klopfte an die Tür, da er den Eigentümer sprechen wollte, um etwas von ihm zu erbetteln. Der Herr des Hauses rief: ,Wer steht an der Türe' Aber mein Bruder sprach kein Wort, und alsbald hörte er ihn mit lauter Stimme wiederholen: ,Wer ist da?' Doch er gab wiederum keine Antwort, und jetzt hörte er, wie der Hausherr an die Tür kam, sie öffnete und fragte: ,Was willst du?' Und mein



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Bruder versetzte: ,Etwas um Allahs des Erhabenen willen.' ,Bist du blind?' fragte ihn jener; und mein Bruder erwiderte: ,Ja.' Der Hausherr sprach: ,Reiche mir deine Hand!' Und mein Bruder reichte ihm die Hand hin, denn er glaubte, jener werde ihm etwas geben; der aber ergriff die Hand, führte ihn ins Haus und brachte ihn hinauf von Treppe zu Treppe, bis sie oben auf die Terrasse kamen; und mein Bruder glaubte derweilen, er werde ihm sicherlich Geld oder etwas zu essen geben. Als er nun oben war, fragte er: ,Was begehrst du, o Blinder?', und mein Bruder erwiderte: ,Etwas um Allahs des Erhabenen willen.' ,Allah öffne dir eine andere Tür!' ,Mann, weshalb sagtest du das nicht, als ich unten war?' ,Du Lump, weshalb gabst du mir keine Antwort, als ich dich zum ersten Male fragte?' ,Und was willst du jetzt mit mir tun?' ,Ich habe nichts für dich.' ,So führe mich die Treppen hinunter!' ,Der Weg liegt vor dir.' Und mein Bruder machte sich auf und tastete sich die Treppen hinunter, bis er der Tür auf zwanzig Stufen nahe war; da aber glitt sein Fuß aus, und er fiel hinab der Tür zu und schlug sich den Kopf auf.

Er ging hinaus und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte; da traf er auf zwei andere Blinde, Gefährten von ihm, und die fragten ihn: ,Was hast du heute verdient? 'Nun erzählte er ihnen, was ihm widerfahren war, und fügte hinzu: ,O meine Brüder, ich möchte etwas von dem Gelde nehmen, das ich zu Hause habe, und es für mich verwenden.' Der Herr des Hauses aber war ihm gefolgt und hörte, was er sagte; doch weder mein Bruder noch auch seine Gefährten bemerkten den Kerl. So ging mein Bruder in seine Wohnung, und der Hauseigentümer folgte ihm unbemerkt; dann setzte mein Bruder sich nieder, um seine Gefährten zu erwarten. Als die eingetreten waren, sagte er zu ihnen: ,Verriegelt die Tür und durchsucht das Haus,



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ob uns auch kein Fremder gefolgt ist. 'Als jedoch der Fremde die Worte hörte, kletterte er an einem Strick hinauf, der von der Decke herabhing, während sie im ganzen Hause umhergingen und suchten, aber niemanden fanden. Dann kamen sie zurück, setzten sich neben meinen Bruder, zogen ihr Geld hervor und zählten es, und siehe, es waren zwölftausend Dirhems. Die legten sie in einen Winkel des Zimmers; ein jeder nahm, was er brauchte, und den Rest vergruben sie in der Erde. Dann trugen sie etwas zu essen auf und setzten sich nieder, um zu essen. Und plötzlich hörte mein Bruder neben sich ein fremdes Kauen und sagte zu seinen Freunden: ,Es ist ein Fremder unter uns'; und er streckte die Hand aus und stieß auf die des Hauseigentümers. Da fielen sie alle über ihn her und schlugen ihn; und als sie müde wurden, riefen sie: ,O ihr Muslime, ein Dieb ist unter uns gekommen, um uns unser Geld zu stehlen!' Und eine große Menge sammelte sich um sie; der Eindringling aber hielt sich dicht an sie und klagte mit ihnen, wie sie klagten; und er schloß seine Augen, sodaß es aussah, als gehöre er zweifellos zu ihnen, und rief: ,O Muslime, ich rufe Allah und den Sultan an, ich rufe Allah und den Präfekten an, ich habe ihm einen wichtigen Rat zu geben!' Da kam auch schon die Wache, verhaftete die ganze Gesellschaft, darunter meinen Bruder, und trieb sie zum Hause des Präfekten, der sie vor sich kommen ließ und fragte: ,Was ist mit euch?' Der Eindringling rief: ,Sieh selbst zu! Aber du wirst es nur durch die Folter herausbekommen. Fang nur zuerst mit mir an und laß mich foltern; dann aber den da, meinen Anführer!' Und dabei zeigte er mit der Hand auf meinen Bruder. Nun warfen sie den Fremden hin und versetzten ihm vierhundert Streiche auf sein Hinterteil. Und wie die Schläge ihn schmerzten, öffnete er das eine Auge, und als sie ihn noch kräftiger schlugen, öffnete er auch das zweite. Da schrie der



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Präfekt ihn an: ,Was machst du da, du Verfluchter?', und der bat: ,Begnadige mich! Wir vier stellen uns blind, und wir spielen den Leuten Streiche, indem wir in die Häuser eindringen und die Frauen zu sehen bekommen und durch Verführung Geld von ihnen erpressen; auf diese Weise haben wir bereits eine große Summe zusammengebracht, die beläuft sich auf zwölftausend Dirhems. Ich sprach zu meinen Gefährten: ,Gebt mir meinen Anteil, dreitausend'; aber sie fielen mit Schlägen über mich her und nahmen mein Geld weg, und nun rufe ich Allahs und deinen Schutz an; lieber sollst du meinen Anteil haben als sie. Wenn du wissen willst, ob meine Worte wahr sind, so schlag einen jeden von den anderen, mehr noch, als du mich geschlagen hast, so wird er die Augen auftun.' Da gab der Präfekt Befehl, die Folter mit meinem Bruder zu beginnen; und sie banden ihn an ein Marterbrett, und der Präfekt sprach zu ihnen: ,Ihr Schurken, verleugnet ihr die gütigen Gaben Allahs und tut, als wäret ihr blind?' ,Allah! Allah!' rief mein Bruder, ,bei Allah, unter uns ist niemand, der sehend ist.' Und sie schlugen ihn, bis er in Ohnmacht fiel; da rief der Präfekt: ,Laßt ihn, bis er zur Besinnung kommt, und dann schlagt ihn von neuem!' Und er ließ jedem der Gefährten mehr als dreihundert Streiche verabfolgen, während der Sehende ihnen unaufhörlich sagte: ,Tut die Augen auf, sonst werdet ihr von neuem geschlagen!' Und schließlich sagte der Fremde zu dem Präfekten: ,Schicke einen mit mir, daß er das Geld herbringe; denn diese Leute wollen die Augen nicht auftun aus Furcht vor der Schande unter den Leuten.' Da schickte der Präfekt aus, um das Geld zu holen; und er gab davon dein Fremden seinen angeblichen Anteil, dreitausend Dirhems, behielt den Rest für sich und verbannte die drei Blinden aus der Stadt. Ich aber, o Beherrscher der Gläubigen, zog hinaus, holte meinen Bruder ein und fragte



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ihn nach seinem Erlebnis; und er berichtete mir, was ich dir erzählt habe; und ich brachte ihn heimlich zurück in die Stadt und gab ihm ein Taggeld, daß er in aller Heimlichkeit essen und trinken kann.'

Der Kalif lachte über meine Geschichte und sprach: ,Gebt ihm ein Geschenk und laßt ihn gehen!'. Ich aber rief: ,Bei Allah, ich will nichts nehmen, bis ich dem Beherrscher der Gläubigen erklärt habe, was meinen anderen Brüdern widerfahren ist; denn wahrlich, ich bin ein Mann von wenig Worten.'

Und dann redete er weiter.


Copyright: arpa, 2015.

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