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J. K. A. Musäus

Volksmärchen der Deutschen


Herausgegeben von Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen der Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, A. Schrödter, R. Jordan und G. Osterwald und den 12 Titeblättem von Ludwig Richter

Leipzig F. W. Hendel Verlag 1926



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Einleitung.



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Weimars literarische Bedeutung um die Wende des 18. Jahrhunderts erschöpft sich nicht mit Goethe, Schiller, Herder und Wieland, sondern dem Musenhofe der Herzogin Anna Amalia gehörte noch eine Reihe anderer Schriftsteller an, die heute weniger genannt werden, aber doch der deutschen Literatur manche dauernde Anregung geschenkt haben. Da ist Bode; der Geschäftsführer der Gräfin Bernstorff, durch dessen Übersetzungen Sterne, Fielding und Goldsmith in Deutschland Einfluß gewannen; da ist auch der rührige Bertuch mit seiner Übertragung des Don Quixote und sonders seiner vielgelesenen Blauen Bibliothek, die das weite Reich der französischen Feenerzählung und des orientalischen Märchens crschloß: aber vor allem ist da Johann Karl August Musäus, den eben Genannten an Originalität weit überlegen, ja überhaupt eine der eigenartigsten Erscheinnungen in der deutschen Literatur.

Die Adspekten seiner Herkunft hatten nicht auf dergleichen gedeutet. Er stammte aus einer seit langer Zeit im Thüringischen ansässigen Familie zu deren Erbstücken das Kanzelamt zu gehören schien, und seit Menschengedenken war nur sein Vater, der Fürstlich Sachsen-Eisenachische Amtscommissarius und Landrichter Johann Christoph Musäus zu Jena, aus der Art geschlagen. Als dessen einziger Sohn wurde unser Johann Karl August im Jahre 1735 geboren. Der Vater wollte die Abtrünnigkeit nicht zum Familienprinzip werden lassen, sein Sohn sollte wieder in die alten theologischen



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Traditionen einbiegen, und so stand es von vornherein fest, daß dieser einst als würdiger Kanzelherr eine andächtig lauschende Gemeine mit Gottes Evangelium erquicken oder gar einmal als hochwürdiger Herr Professor von einem wohldotierten Lehrstuhl herab Theologiam dozieren sollte. Deswegen wurde er beizeiten zu einem gestrengen Oheim, dem Superintendenten Dr. Johann Weißenborn in Allstedt ausgegeben, allwo er tüchtig mit theologischer Weisheit traktieret wurde, tagtäglich seinen vollen Napf heilsamer Katechismusmilch zu leeren hatte und dazu den Pumpernickel lateinischer Sprüchwörter oder die Kartoffelmast aus dem Vokabeltroge verkäuen mußte. Da der Vater diese Nährweise für die kindliche Seele heilsam und förderlich fand, blieb der Knabe auch indem Hause des Oheims, da dieser als Generalsuperintendent nach Eisenach übersiedelte, wohin inzwischen auch sein Vater als Herzoglicher Rat Justiz- und Oberamtmann versetzt worden war.

So war er gehörig gerüstet als er mit neunzehn Jahren die Thüringische Landesuniversität bezog, und auch dort observierte er mit löblichem Fleiß die Vorlesungen, wenngleich er demungeachtet sich schon damals gern mit der Literatur seiner Zeit beschäftigte. Als Candidadus kehrte er dann wieder nach Eisenach zurück und hatte in einigen Kanzelversuchen bereits seine theologische Wohlredenheit an den Tag gelegt, als sich ihm die Pfarrheherrnstelle in dem guten Dorfe Famroda, gleich weit von Eisenach und Ruhla entfernt, darbot. Aber da schlug ihm seine Fortune leider ein böses Schnippchen: den Farnrodaern war nämlich zu Ohren gekommen, daß ihr zukünftiger Pfarrherr einmal in gotteslästerlicher Weise das Tanzbein geschwungen habe, und sie wollten nunmehr, wie begreiflich ist, nichts mehr von ihm wissen, sondern wählten sich einen züchtigeren Seelenhirten.

Musäus hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Geschmack an der Theologie war ihm gründlich verdorben, und er befliß sich nun umsomehr des Studiums der schönen Wissenschaften. Aber wie dabei sein kritischer, von unboshafter Ironie geführter Blick über die zeitgenössische Literatur hinging, fand er neben vielem Schönen auch vieles weniger Erbauliche, wie auf der einen Seite die Empfindsamkeit, von Richardson ausgegangen und durch zahllose platte Nachahmer in Deutschland zur literarischen Seuche ausgeartet, auf der anderen, ebenso unnatürlich, die Verstiegenheit des Genietums, dessen Stammeln den deutschen Dichterwald erfüllte. Vor allem hatten es ihm die Empfindler angetan, weswegen er beschloß, mit ihnen gründlich abzurechnen und einen gehörigen Hieb gegen die falsche Sentimentalität zu führen. Das geschah mit dem Roman "Grandison der Zweite, oder Geschichte des Herrn von N.", in dem er weniger Richardson selbst, als seine deutschen Nachtreter lächerlich zu machen suchte. Ein närrischer deutscher Landedelmann ahmt darin Grandison bis ins Kleinste nach, und sein aufgeblasener geistloser Hauslehrer spielt die Rolle des Dr. Bartlos;



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sie fangen beide eine Korrespondenz mit ihren Vorbildern an, die sie für wirklich halten, in welchem Glauben sie auch noch durch spottlustige Verwandte erhalten und bestärkt werden, und woraus die seltsamsten Verwirrungen aller Art entstehen. Ging dieser satirische Roman auch, mit vielem unnützigen Beiwerk versehen, ohne rechte stoffliche Straffung allzusehr in die Breite, so fand er doch seinen gebührenden Beifall, auch sogar eine Reihe von Nachahmungen, unter deren Verfassern sogar Wieland zu finden ist.

Das war kein schlechter Anfang für einen jungen Skribenten und hatte außerdem für Musäus den nicht geringen Nutzen, daß die Herzogin-Mutter Anna Amalia in Weimar, die treffliche Fürstin, in deren Augen manches M grad galt, was die andern krumm nannten, auf ihn aufmerksam wurde und; ihn als Pagenhofmeister nach ihrer lieblichen Jlmesidenz holte, worauf sie M 1770 sogar zum Professor am dortigen Gymnasium ernannte, so daß er; nun in Amt und Würden, seine liebe Elisabeth Magdalena Juliane Krüger, eines Wolfenbütteler Stadtratskämmerers Tochter, um die er schon geraume Zeit geworben hatte, heimführen konnte.

Damit wurde ihm die Tür zu stillen, ereignisarmen Jahren aufgetan. Eine glückliche Anlage hat es bewirkt, daß er nicht nur als Schriftsteller, sondern auch durch seine berufliche Tätigkeit sich Dank erwerben konnte; bis auf den heutigen Tag hat die Tradition in manchen alten Weimarer Familien das Andenken an den Professor Musäus wachgehalten. Ein allzu strenger Präzeptor mag er wohl nicht gewesen sein, ja vielleicht ging er einigen sogar mit seinen Schülern zuweilen zu freigeistisch um, und wenn er es auch sonst einmal mit seinem Dienst nicht so ganz genau nahm, winkte ihm die Herzogin freundschaftlich zu, und war alles wieder beim alten. Aber das Amt war doch nicht lukrativ genug. Im Haushalt langte es kaum zum Nötigsten, und ehe der Herr Professor gar einmal einen neuen Rock trug, konnten Jahre vergehen, zum Verdruß der treuen Gattin, die ihren Herrn Eheliebsten gern schmuck und würdig, wie es seinem Amt entsprach, gesehen hätte. Dadurch, daß er Privatstunden gab und junge Leute, vor allem Livländer, in Pension nahm besserte er zwar seine kärglichen Einkünfte in etwas auf aber es wollte trotzdem noch nicht reichen, zumal da sich mit der Zeit noch ein kleiner Karl und ein kleiner August einstellten, die das ohnehin viel zu lebendige Haus mit ihrem Lärmen erfüllten. Da gab es sich von selber, daß Musäus wieder zur Schriftstellerei griff; nicht bloß aus Liebe zu ihr, sondern auch mit rechtschaffen materiellen Absichten —als ob das etwa eine Schande wäre.

In seiner nächsten größeren Schrift nahm er eine andere literarische Modetorheit seiner Zeit aufs Kom. In seinen "Physiognomischen Reisen, voran ein physiognomisch Tagebuch" wollte er den physiognomischen Dunst, der sich dank Lavaters Zeichendeuterei in den Köpfen angesammelt hatte,



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dem Lufthauch herzhafter Satire wieder daraus vertreiben. Wenn er in dem Werke freilich bisweilen auch in offene Polemik verfiel, so war es doch im ganzen ergötzlich genug, um den Verfasser, der sich nicht genannt hatte, aber bald ruchbar wurde, weithin rühmlich bekannt zu machen. Nebenher war er auch Mitarbeiter an Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek, für die er immer sachliche und meist treffende Rezensionen schrieb, die manchem faden Romanschreiber zum allgemeinen Wohl die Feder aus der Hand nahmen, und wenn es sein mußte, verfaßte er wohl auch einmal ein Neujahrs- oder Hochzeitscarmen für einen wohlehrbaren Bürger der Stadt Weimar, wofür er ein Honorar von einem Taler, wie es für gute Arbeit recht und billig war, kassierte.

Gleich nach der Veröffentlichung der Physiognomischen Reisen ging er zudem an eine Neubearbeitung seines Grandison, die er 1781/82 in zwei Teilen herausgab. Aber diesmal blieb der Erfolg, jedenfalls, weil der Roman Richardsons schon längst nicht mehr auf dem Tapet stand, aus, wodurch sich Musäus indes nicht entmutigen ließ, sondern sich sogleich ein Neues vorsetzte, worüber wir ihn einmal selbst berichten lassen wollen: "Was meine schriftstellerischen Verhandlungen betrifft, so hab ich vorigen Herbst die Verheutigung meines alten Grandisons vollendet, und ob ich gleich nichts unterlassen, das Buch so relevant zu machen, als mir möglich gewesen, weil es meine literarische Erstlingsfrucht vor zwanzig Jahren war, so erlebe ich doch das Herzeleid, daß es unter dem Romanenpöbel versteckt bleibt, denn noch zur Zeit hat keine gelehrte Zeitung dem ersten Teil, der schon ein Jahr heraus ist, die Ehre angetan, seiner zu erahnen. Da sehe ich, daß zum Laufen nicht schnell sein hilft, denn bei den Physiognomischen Reisen stieß die Fama ganz anders in die Trompete. Nachdem ich nun seit der Zeit meinen Grimm an den Konsorten aus der Romanisten-Gilde ausgelassen und dreißig solcher Philister in der Allgemeinen Bibliothek mit dem kritischen Eselskinnbacken in die Pfanne gehauen, so bin ich nun auf eine neue Idee gekommen. Die Feereien scheinen wieder recht in Schwung zu kommen; Rektor Voß und Amtmann Bürger vermodemisieren die Tausend und Eine Nacht um die Wette, selbst die Feenmärchen sind in Jena das Jahr wieder im Nürnbergischen Verlag von neuem gedruckt worden. Ich will mich an die Rotte anhängen und lasse von meiner Drehscheibe jetzt ein Machwerk dieser Art ablaufen, das den Titel führen wird: Volksmärchen, ein Lesebuch für große und kleine Kinder. Ich sammle dazu die trivialsten Ammenmärchen, die ich aufstutze und noch zehnmal wunderbarer mache, als sie ursprünglich sind, davon hofft nun meine liebe Frau, daß es ein ganz lukrativer Artikel werden soll."

Damit sollte die Frau Professorin recht behalten. Ja, noch mehr: dieses Werk sollte den Namen ihres Ehegemahls für alle Zeiten unvergessen machen;



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denn ein Machwerk in dem handwerklichen Sinne, wie es der Verfasser selbst meint sollten die Volksmärchen der Deutschen nun wahrhaftig doch nicht werden.

Schon einmal war er gegen die leidige Sentimentalität losgezogen: jetzt bot er noch einmal alle Kräfte gegen sie auf und suchte sie mit den Fußtruppen der Herzhaftigkeit, der leichten Reiterei der Phantasie, dem Kleingeschütz der Ironie und dem groben Stückzeug des Spottes überfallsweise, ganz im unbekümmerten Plaudern, aus dem Felde zu schlagen. Emsig sammelte er alte deutsche Volksmärchen und Sagen. Bei seinen Wanderungen durch das romantische Thüringer Land paßte er beutegierig auf Kunde von allerhand wunderlichen und sagenhaften Begebenheiten, die er für sein Buch verwenden konnte. Gern blieb er im Wirtshaus bei den Bauern sitzen, stand bei dem Pflüger oder Schäfer auf Feld und Weide still oder gesellte sich zu einem wandernden Handwerksgesellen, der nur von ohngefähr aussah, als könnte er mehr als Fechten und Trinken. Manchmal versammelte er sogar zum Leidwesen seiner Hausfrau eine Menge alter Weiber mit ihren Spinnrädern um sich her, setzte sich in ihre Mitte und ließ sich von ihnen mit Breuer Geschwätzigkeit vorplaudern, was er hernach so reizend nachplauderte. Auch Kinder rief er von der Straße herauf, ließ sich Märchen erzählen und bezahlte jedes Märchen mit einem Dreier. Und eines Abends gar, als seine Frau von einem Besuche zurückkam, fand sie die Tür seines Zimmers weit geöffnet, eine Wolke von schlechtem Tabak dampfte entgegen, und sie erblickte durch diesen Nebel ihren Mann am Ofen sitzend neben einem alten ausgedienten Soldaten, dem in Weimar ortsbekannten Tambour Rippler; der sein kurzes Pfeifchen zwischen den Zähnen hielt; tapfer darauf losschmauchte und ihm Märchen erzählte.

Manche von den Sagen, die sich um die Burgen des Thüringer Waldes und um die Berge des benachbarten Erzgebirges wanden, mag er zum Teil wohl auch schon in Chroniken schriftlich niedergelegt gefunden haben; manches alte Volksbuch, wie die von den drei Rolandoknappen und dem schlesischen Rübezahl, kam ihm gleicherweise zu passe, für einige seiner Geschichten gibt er selbst die Quelle an, wobei wir ihm aber nicht zu sehr auf die Finger sehen wollen, und in den alten Schwankbüchern, aus denen er manches Motiv entlehnte, wußte er sowieso besser Bescheid als mancher titelgescheite Zunftphilologe.

Aus diesem Rohstoff von allerhand Material und in allerhand ungefüger Form bildete er nun seine Geschichten. Diese sind nun beileibe keine Märchen im Grimmschen oder Bechsteinschen Sinne, schon nicht ihrer Herkunft, noch viel weniger aber ihrer Darstellung nach. Musäus ergriff die Stoffe mit der ganzen eigenwilligen Betriebsamkeit seines Geistes. Niemals folgt er der Vorlage ganz genau. Manchmal ist nur ein winziger Kern von der alten



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Geschichte zu erkennen, um den eine doppelt so dicke Schale neuer Erfindung herumgelegt ist; andere Stoffe werden nach irgendeiner sich aufdrängenden Erinnerung umgestaltet, wie etwa die Erzählung von dem geraubten Schleier, deren motivische Ausgestaltung auf ein Märchen in Tausend und Einer Nacht zurückgeht, uno herzerquickend sorglos fügt der Verfasser zuweilen auch ganz verschiedene Stoffpartien zu neuen Gebilden zusammen.

Gott sei Dank hat er also auch den rührigen literarischen Quellensuchern und Motivjägern etwas an dem Werke zu tun gegeben, freilich ganz und gar wider seinen Willen. Wahrscheinlich würde er über ihre Bemühungen lächeln, denn er hatte es ja auf nichts anderes abgesehen, als auf eine recht angenehme Plauderei, bei der er unversehens auch seine Meinungen an den Mann bringen konnte. Deswegen durften die Geschichten so wunderbar sein, als sie nur immer mochten, und er weiß wahrhaftig die Geisteremeinungen, die grauseligen Beschwörungen, die seltsamen Verwandlungen und alle anderen möglichen wunderlichen Zufälle mit rechter Anschaulichkeit zu erzählen. Aber dabei fällt es ihm nicht ein, seine Leser für dumm versleißen zu wollen: gleich kommt wieder seine liebenswürdig-behagliche Zweifelsucht zum Vorschein und lehrt uns, das alles um Gottes willen nicht zu ernst zu nehmen. Am wohlsten scheint er sich in der Rolle eines naiven Tropfs zu gefallen, und wir sehen ihn richtig in sich hineinlächeln, wenn er uns erzählt, daß der eine Verjüngungsbrunnen der Schwanenjungfrauen nahe der Stadt Zwickau liegt, die damals freilich noch nicht von so vielen Fördertürmen umgeben war wie heute, aber auch schon ihren Schwanenteich hatte. Herrlich ist auch, wie er seine Geschichten in Sitten und Gebräuchen alle in sein liebes Thüringisch überträgt, als wäre die ganze Welt bloß eine Provinz von Sachsen-Weimar-Eisenach, und wie er es in ihnen überall so bürgerlich familiär mit "Herr Papa" und "Frau Mama" zugehen läßt wie bei sich selbst zuhause.

Ganz prächtig ist es aber, wie sich die Personen seiner Geschichten in allen Situationen, den natürlichsten wie den wunderlichsten, benehmen. War er auch ein Feind jeder systematischen Physiognomik, so zeigt er sich doch hier in Wirklichkeit als besserer Menschenkenner als mancher Mitgänger Lavaters, wie auch seine Personen selbst gern ihren "physiognomischen Scharfblick" beweisen. Ergötzliche Szenen, in denen es oft bei aller Wunderlichkeit der Handlung ganz und gar menschlich zugeht, stellt der Erzähler da vor uno hin, so daß es einem wohl manchmal passieren kann, laut: Prächtig! Prächtig! auszurufen und mitten überm fleißigen Lesen das Buch eine Weile wegzulegen, um die Köstlichkeit mancher Szene recht auszugenießen.

Zuweilen geschieht das wohl auch über eine Meinung, die der geschätzte Herr Verfasser selbst zu dem äußert, was seine Personen reden oder tun; denn er will überall dabei sein, ja manchmal, das darf getrost laut gesagt



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werden, stellt er sich sogar ein wenig weit in den Vordergrund: aber gerade dann kommt die Liebenswürdigkeit und Ehrlichkeit dieses merkwürdigen Mannes so recht zur Geltung. Er hat seinen rechtschaffenen Spaß daran, die Requisiten und Kulissen der sentimentalen Theaterunternehmer zu zeigen, wie sie sich darstellen, wenn sie bei hellem Tageslicht auf dem Pferdewagen durch die Stadt gefahren werden. Er weiß das Echte vom Gemachten wohl zu unterscheiden und nimmt allen verkappten Selbstsüchten die Larven vom Gesicht, aber nicht wie ein Richter den Delinquenten vorm Tribunal, sondern wie ein Tanzmeister den Besuchern eines Faschingsballes bei der Demaskierung. Auf einzelne Stände wie den Klerus hat er es besonders abgesehen, aber nie wird er verletzend und abstoßend. Im allgemeinen findet er daß die vergangenen Zeiten doch besser sind als seine eigene verzärtelte; verbildete und aufgeplusterte Gegenwart. Dabei ist er aber ebenso weit von jeder Starkgeisterei entfernt, die alles, was nicht Fleisch und Bein ist, aus der Welt wegeskamotieren möchte, und gleicherweise mag er auch nichts oon dem Genietum wissen, das alles Stille und Liebe geräuschvoll beiseite braust; wie sich auch in dem Buche selber viele Stellen voll tiefempfundener; einfacher Schönheit finden, die ganze Bände der damaligen Jungen und Jüngsten aufzuwiegen vermögen.

So ergibt sich aus den Volksmärchen ein getreues Bild des Musäus. Das Rezept zu dieser merkwürdigen Mixtura ist nicht einfach: man nehme je ein Quentlein Nicolai, Tieck, Grimm, Lessing, Wieland, Cervantes und anderer Ingredienzien, und dann hat man — den Musäus noch lange nicht. Am wenigsten wird man dem Manne gerecht, wenn man ihn als puren Nationalisten umherlaufen läßt; ebensowenig geht es an, ihn schlechthin als Romantiker zu bezeichnen, obgleich er alle Eigenheiten eines solchen an den Tag legt: die Lust an Sage und Märchen, die Freude am deutschen Wesen, die Unbekümmertheit der Konzeption, das Vagabundieren der Form und vor allem die über dem Ganzen schwebende Ironie, die sich auch über den Verfasser selbst hermacht. Eigentlich ist erbeides in einem, weswegen wir ihn einmal getrost einen rationalistischen Romantiker nennen wollen, wenn er denn schon eine literarische Etikette erhalten soll.

Das war nun wahrhaftig seiner Zeit eine neuartige und delikate Mischung. So war es auch kein Wunder; daß schon der erste Band der Volksmärchen, der 1782 erschien, einen guten Erfolg hatte und was nicht zu verachten war; auch ein kleines Sümmchen einbrachte, das mit zum Kauf eines Grundstückes auf der Altenburg verwendet wurde. Dahinein baute sich Musäus ein neues schmuckes Gartenhäuschen, für dessen Möblierung die Herzogin sorgte, und nahebei ein kleines Tempelchen, das ja damals nicht fehlen durfte. In stillem Behagen schrieb er in dem Häuschen die letzten Bände der Volksmärchen, während der Kaffeedampf aus der Tasse vor ihm



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emporstieg und der Rauch aus seiner Pfeife in Schwaden dem Fenster zuzog, durch das der Blick auf bunte Blumen und grüne Gesträuche hinausging; und zuweilen empfing er hier auch liebe Gäste, wie sein Gartenjournal getreulich ausweist, sogar Lavatern, der ihm die Physiognomischen Reisen durchaus nicht übel genommen hatte. Auch mit dem Herrn Rat Goethe kam er bisweilen zusammen. Ja der Herr Geheimde Rat zeigte sich ihm bisweilen sogar recht herzlich gewogen. Als Musäus im Jahre 178s die Kupfer J. R. Schellenbergs "Freund Heins Erscheinungen in Holbeins Manier" ein wenig hölzern und moralisierend betertet und um dieselbe Zeit in einer kleinen, ergötzlichen Erzählung ein kurieuses Erlebnis anden Toren der Stadt Coburg berichtet hatte, ließ Goethe heimlich ein Gemälde in dem Gartenhäuschen auf der Altenburg aufhängen, das, beide Schriften verquickend, Freund Hein zeigte, wie er, um Einlaß bemüht, mit der Coburger Schildwache heftig herumdisputiert, welchen Vorgang übrigens auch in einem launigen Gedicht zu behandeln er sich bemüßigt gesehen hat.

An dem künstlerischen Leben der kleinen Landstadt nahm er reichen Anteil. Er schrieb für das Weimarer Theater einen Prolog, den Hiller komponierte, und eine dreiaktige Operette " Das Gärtnermädchen" in Christian Felix Weißes Manier, die von Wolf vertont wurde. In dem Liebhabertheater auf der Ettersburg, das die Herzogin nach dem Theaterbrande ino Leben rief, saß er nicht immer als geladener Zuschauer da, sondern spielte sogar einige Male mit, so den Wirt in Goethes Mitschuldigen und den Ahasverus im Jahrmarktsfest zu Plundersweiler. Auch sonst zeigte er sich als ein brauchbarer Gesellschafter und darüber hinaus als ein liebenswürdiger Mensch, und als ihn 1787, in demselben Jahre, in dem der letzte, fünfte, Band der Volksmärchen erschien, der Tod wegnahm, war die Trauer allgemein . Herder hielt ihm, " der an Einfalt des Charakters und Güte des Herzens ein Kind, an unverdrossenem Fleiß und an Liebe zum gemeinen Besten ein Mann, ein redlicher Mann gewesen", einen verständnisvollen Nachruf: Er war "hart gegen sich und desto nachgiebiger; gütiger gegen andere, er meinte es redlich mit Gott und mit seinem Amt, mit seinen Mitlehrern, Schülern und Freunden. Er war gefällig und gesellig, ohne daß er je seiner Pflicht abbrach, vielmehr trug er die schwere Bürde seines mühsamen Lebens mit Heiterkeit; Gleichmut, Fröhlichkeit; Scherz und guter Laune. Er seufzte nicht, er murrte nicht; zufrieden mit der Gegenwart, wenn sie ihm auch drückend war, hoffte er eine leichtere Zukunft und arbeitete ihr froh entgegen, ob er sie gleich hier auf Erden nicht erlebt hat." Sein Grab mit einem Denkmal, das ein Freund ihm, dem "guten Musäus", wie er noch lange nachher genannt wurde, errichtet hat, befindet sich auf dem Friedhof zu Weimar.



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Von Musäus Werken — einzelnes wurde nach seinem Tode noch von Bertuch und Kotzebue herausgegeben — lebt heute nichts mehr als die Volksmärchen der Deutschen, die seit ihrem Erscheinen immer neue Generationen ergötzt haben.

Auch jetzt sind sie zeitgemäß wie je. Nicht bloß, daß wir uns heute, in einer charakterlosen, verwaschenen Gegenwart, lieber als jemals in die alten unverwüstlichen geistigen Güter unseres Volkes, die seine Märchen und Sagen darstellen versenken: auch viele Meinungen des Herrn Verfassers über seine eigene Zeit haben heute noch ihre Geltung. Obwohl es sich von allen Seiten regt, alte Vorurteile, Kleinlichkeiten und Beschränktheiten beiseite zu räumen, ist doch noch genug Schranzentum, Kleingeisterei, Naseweisheit, Scheinheiligkeit und neben diesen Untugenden Narreteidung aller Art ringsum zu erkennen, und manches bei Musäus scheint sogar recht auf unsere Zeit gemünzt zu sein, wie etwa die Klage über die Kinder, die keine mehr sind, oder der Spott über die sentimentalen Dichter, deren gerade Deszendenz unsere heutigen literarischen Kaffeehausbleichgesichter bilden; und auch genial sich gebärdender Rauhbeine, die mit den rüpelhaftesten Ansprüchen auftreten, gibt es heute genug, gegen die die Stürmer und Dränger zu Musäus' Zeiten blasse Schatten sind. Die, denen alles das nicht so schlimm erscheint, mögen das Buch als ein ergötzliches ansehen; die, die über alles leicht hinwegkommen, mögen es in Ansehung dessen, daß die Welt schon vor hundert Jahren von diesen Dingen voll gewesen und dennoch nicht aus den Angeln gegangen ist, ein tröstliches nennen, und die, die hinter allem Humor des Musäus den Ernst eines trefflichen Mannes spüren, mögen es als heilsam und segenbringend bezeichnen: jedem für sein Geld, wozu er Kaufens Lust hat.

Musäus selbst erlebte noch eine zweite Ausgabe der Volksmärchen; 1806 gab sie dann Wieland wieder heraus, allerdings textlich arg entstellt, 182s und 1839 Friedrich Jakobs und, in zwei textlich übereinstimmenden Ausgaben, 1842 unb 1845 Julius Ludwig Klee. Diese letzteren liegen unserer Ausgabe zugrunde. Klee hat wieder auf das Original zurückgeführt, und wir haben erst recht geglaubt, diesem nichts von seiner Eigentümlichkeit nehmen zu dürfen, um Musäus in seiner ganzen einzigartigen, halb volkstümlichen, halb salonmäßigen Plauderhaftigkeit zeigen zu können. Deswegen haben wir auch sowohl alle uns fremd und manchmal sogar falsch erscheinenden Bildungen als auch die vielen Fremdwörter in ihrer Ursprünglichkeit beibehalten: aber nicht nur aus philologischer Pietät; sondern weil auch sie den Reiz der Geschichten erhöhen, wenn man nur erst herausgefunden hat daß auch hinter diesen Seltsamkeiten ein zielbewußter sprachlicher Wille waltet. Die Rechtschreibung ist die unsre; soweit sie nicht lautlich vom originalen Tert abgewichen wäre, ebenso die Zeichensetzung.



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Graf nicht mehr waghalsen wollte, und sein liebes Federspiel verloren gab. Plötzlich stieg ein rüstiger Adler über dem Walde auf und verfolgte den Falken, welcher den überlegenen Feind nicht sobald ansichtig wurde, als er pfeilgeschwind zu seinem Herrn zurückkehrte, um bei ihm Schutz zu suchern Der Adler aber schoß aus den Lüften herab, schlug einen seiner mächtigen Fänge in des Grafen Schulter und zerdrückte mit dem andern den getreuen Falken. Der bestürzte Graf versuchte mit dem Speer von dem gefiederten Ungeheuer sich zu befreien, schlug und stach nach seinem Feinde. Der Adler ergriff den Jagdspieß, zerbrach ihn wie ein leichtes Schilfrohr und Mischte ihm mit lauter Stimme diese Worte in die Ohren: Verwegener, warum beunruhigest du mein Lustrevier mit deinem Federspiel? Den Frevel sollst du mit deinem Leben büßen. Aus dieser Vogelsprache merkte der Graf bald, was für ein Abenteuer er zu bestehen habe. Er faßte Mut und sprach: Gemach, Herr Adler, gemach! Was hab ich Euch getan? Mein Falk hat seine Schuld



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Sentimentalität erkennen läßt. Seine Strichführung ist subtiler als die der anderen Künstler.

Georg Osterwald, damals in Hannover, kam von der Architektur her, vor allem der Gotik. Auch in unserem Werke sind die besten Bilder vom gotischen Stilempfinden aus gestaltet; man braucht nur einmal das Titelbild zu Dämon Amor zu betrachten, um das zu erkennen; in anderen weniger gelungenen tritt oft ein konstruktives Moment zutage, das die freie zeichnerische Entfaltung gehemmt hat.

So stellen sich die Bilder weder als gleichartig noch als gleichwertig dar. Trotzdem durfte keines fehlen, wenn das Werk als Ganzes neu geschaffen werden sollte.

Daß dies trotz aller Nücken und Tücken der Vorlagen wohl gelungen ist, ist der außerordentlichen Rührigkeit und Sorgfalt des Verlages und seiner Mitarbeiter zu danken, die alles daran gesetzt haben, die Reproduktionen so originalgetreu wie möglich zu gestalten. Um das zu erreichen, wurde sogar die Papierfarbe dem alten Werke entsprechend gewählt. Kein Fernerstehender kann sich einen Begriff von dem aufopferungsvollen Fleiß machen, der zu all diesem nötig ist. Der Herausgeber sieht es als seine Pflicht an, dem Verlage für seine liebevolle Hingabe an die Ausgestaltung dieses Buches zu danken; und kann nur hoffen, daß dies auch von den Lesern anerkannt werde.

Diese eine kommt noch zu den mancherlei anderen Hoffnungen hinzu, die als Reisegäste an der Fahrt unseres Buches ins deutsche Land teilnehmen: möchten sie überall ein gastliches Dach und freundwillige Wirte finden l



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