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DER GARTEN DER WELT

Am Himmel stand die silberne Sichel des Mondes und schaute mit den Sternen der Nacht hinab auf einen kleinen Garten. In jeden Garten, auch in den allerkleinsten, schauen die Sterne der Nacht und die silberne Sichel, und auf ihren



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lichten Strahlen verschwistern sich die Geheimnisse der Erde und des Himmels. Die ganze Welt ist ja ein Garten, und jeder Garten ist ein Garten der Welt.

In dem kleinen Garten aber wohnten friedlich beieinander eine Kröte, ein Frosch, eine Kartoffel und eine Lilie. Es lebten auch noch viele andere Leute darin, aber diese vier Bewohner standen unter sich in angenehmen, nachbarlichen Beziehungen.

»Guten Abend, liebe Tante«, sagte der Frosch und küßte der alten Kröte die Hand.

Als die Kartoffel sah, daß der Frosch der Kröte die Hand küßte, mußte sie so lachen, daß ihr die Stengel zitterten.

»Das ist kein Grund zum Lachen, gnädige Frau«, sagte die Kröte, »wenn mein Neffe gut erzogen ist und den Warzen meines Alters die schuldige Ehrfurcht bietet. Unterschätzen Sie nicht die glatten Umgangsformen eines Frosches. Die Etikette ist etwas sehr Wichtiges, meine Liebe, aber Sie denken zu wenig nach und lachen zuviel. Sie sind etwas primitiv. Nehmen Sie sich die weiße Lilie zum Beispiel - kaum daß ihr schlanker Stengel im Nachtwinde schwankt. Das ist Grazie, gnädige Frau, das ist Kultur.«

»Ich liebe diese Lilie, Tante«, sagte der Frosch, und die Augen traten ihm schwärmerisch aus dem Kopfe.

»Du bist zu romantisch, mein Kind«, sagte die Kröte, »das ist keine Liebe für einen Frosch. Suche dir eine Froschjungfrau, so braun und so schlüpfrig wie du, das ist für den Froschlaich das einzig Richtige, und darauf kommt es vor allem an im Leben. Die Liebe der weißen Lilie ist nichts für einen Frosch, mein nasser Neffe. Davon würdest du gar nichts haben. Höre auf eine alte Frau, die in Ehren ihre Warzen bekommen hat. Wenn du eitle weiße Lilie liebst, so wirst du vielleicht ein Dichter werden, aber gewiß kein richtiger Frosch.«

»Ein Dichter wäre ja entsetzlich«, sagte die Kartoffel.



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»Wenn auch nicht entsetzlich, gnädige Frau«, meinte die

Kröte, »aber jedenfalls sehr traurig für die Familie.«

»Solch eine Lilie ist auch etwas sehr Vergängliches«, sagte die Kartoffel, »sie tut mir eigentlich leid, die arme Person, obwohl sie entschieden einen zu großen Aufwand treibt. Ich kannte schon mehrere, und alle verwelkten sie in einigen Tagen. Eine Kartoffel ist dauerhafter und lebt in ihren Knollen weiter.«

Die weiße Lilie neigte sich freundlich zur Kröte, zum Frosch und zur Kartoffel und wiegte den schlanken Stengel im Wind. Unsichtbar den anderen aber stand in ihrem Kelche auf dem Goldgrund der kühlen weißen Blütenblätter der Lilienelf und breitete sehnsuchtsvoll die Arme aus ins Sternenlicht, empor zur silbernen Sichel. Leise regte er die feinen Falterflügel, als wolle er den Flug wagen in die Unendlichkeit hinaus, zu den lichten Strahlen, auf denen sich die Geheimnisse der Erde und des Himmels verschwistern. Die silberne Sichel und die Sterne der Nacht schauen ja immer hinab und warten darauf, daß sich ihnen die Arme der Sehnsucht entgegenstrecken, wenn es dunkel wird im Garten der Welt. Aber das tun nicht viele, und es leben nicht alle in weißen Lilienkelchen.

Der Frosch hatte sich an den Fuß der Lilie gesetzt und seufzte quakend.

Auf dem breiten Mittelweg des Gartens aber kam ein sehr seltsames und lächerliches Geschöpf herangekrochen, ein kleines Menschlein, von der Größe und der Dürre einer Spinne, mit einer überaus dicken Brille auf der Nase und mit einem schweren Buch, das die schwachen Ärmchen kaum schleppen konnten. Das war ein Brillenmännchen, wie es so viele gibt auf den breiten Mittelwegen im Garten der Welt.

Als die Kartoffel das Brillenmännchen sah, mußte sie so lachen, daß die Knollen unter ihr wackelten.



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»Sie sind ein wenig primitiv, gnädige Frau«, sagte die Kröte, »wie ich Ihnen schon einmal erklärte, aber diesmal lachen Sie wenigstens nicht ohne jede Ursache, wie neulich, als mein Neffe mir die Hand küßte. Wenn man weise wird und seine Warzen in Ehren bekommen hat, lacht man überhaupt nicht mehr, man lächelt nur.«

Und die Kröte lächelte.

»Im übrigen«, fuhr sie fort, »sind diese Brillenmännchen wohl ungeheuer lächerlich, aber leider auch sehr schädlich. Sie verstauben den ganzen schönen Garten der Welt, denn sie kriechen überall umher und suchen nach Sandkörnchen, die sie in ihrem albernen Buch einfangen wollen. Man sollte sie auffressen, und ich sprach schon mit verschiedenen Interessenten darüber, auch mit dem Maulwurf, der wahrhaftig nicht wählerisch ist. Aber auch ihm sind die Brillenmännchen zu eklig, und so leben sie weiter.«

»Sie tun so, als hätte ich noch nie ein Brillenmännchen gesehen«, sagte die Kartoffel, »Ihr Alter und Ihre Warzen in Ehren, aber Sie müssen nicht immer so belehrend sein. Eine Kartoffel hat auch ihre soliden Kenntnisse, und außerdem lebt sie in ihren Knollen weiter.«

»Dann verstehe ich nicht, warum Sie so unbeherrscht gelacht haben, gnädige Frau«, sagte die Kröte beleidigt, »ich sage Ihnen das alles doch nur aus nachbarlicher Gefälligkeit. Schon im Interesse Ihrer Knollen sollten Sie das Bedürfnis haben, sich'weiterzubilden.«

»Zurück von dieser Lilie!« quakte der Frosch und richtete sich hoch vor dem Brillenmännchen auf, ein Held vom Kopf bis zu den nassen Füßen.

»Ich weiß nichts von einer Lilie«, sagte das Brillenmännchen, »von Lilien steht auch nichts in meinem Buche. Ich suche ein Sandkorn, verstehen Sie, ein ganz bestimmtes Sandkorn, wie es meine Kollegen noch nicht gefunden haben. Stören Sie mich nicht.«



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Und das Brillenmännchen schnüffelte unangenehm und streckte den kleinen Kopf mit der großen Brille bedrohlich nach allen Seiten.

»Ich liebe diese Lilie! Ich stelle mich mit meiner ganzen Feuchtigkeit vor die Dame meines Herzens!« quakte der Frosch und tat den Mund unbeschreiblich weit auf.

»Hindern Sie meine wissenschaftlichen Beobachtungen nicht, und machen Sie kalte Umschläge«, sagte das Brillenmännchen.

»Ist es nicht eine Taktlosigkeit, einem Frosch zu sagen, daß er kalte Umschläge machen soll?« fragte die Kröte, »ein Frosch ist froschkalt, und was sollen da die kalten Umschläge? Ist ein Frosch aber einmal warm geworden und liebt er eine weiße Lilie, dann ist er kein Frosch mehr, sondern ein Dichter, und das ist sehr traurig für die Familie. Oh, mein armer, nasser Neffe! Doch diese ekligen Brillenmännchen sollte nun endlich der Maulwurf fressen.«

Die Kartoffel wußte nicht, ob sie etwas sagen oder ob sie lachen sollte. Die kalten Umschläge erschienen ihr zu kompliziert.

Der Frosch sagte gar nichts mehr. Aber er handelte. Er packte das Brillenmännchen und warf es drei Beinlängen von sich und der weißen Lilie fort. Das schwere Buch warf er hinterdrein. Und dazu lachte er laut und quakend. So heldenhaft macht die Liebe zu einer weißen Lilie einen feuchten Frosch, und das ist schon etwas wert, wenn es auch nicht das Richtige ist für den Froschlaich und so weiter.

Das Brillenmännchen aber machte sich gar nichts draus.

»Hurra«, schrie es, »jetzt habe ich das richtige Sandkorn gefunden!«

Und kaum hatte es das gesagt, so fiel es in ein Mauseloch. Die Kröte krabbelte eilig darauf zu, um dem Brillenmännchen behilflich zu sein. Sie war eine sehr gutmütige alte



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Dame, und die Weisheit des Lebens hatte sie gelehrt, auch denen behilflich zu sein, die eklig sind.

»Darf ich Ihnen nach oben helfen?« fragte sie teilnahmsvoll und guckte in das Mauseloch hinab.

»Ich bin gar nicht nach unten gekommen, sondern nach oben«, sagte das Brillenmännchen aus dem Mauseloch heraus, »ich habe das richtige Sandkorn gefunden und bin am Ziel meiner Forschungen angelangt. Hier sind auch schon zwei andere Kollegen, und wir gründen zusammen eine Akademie.«

Die Brillenmännchen fallen nämlich alle zuletzt in ein Mauseloch, nur bilden sie sich ein, daß sie dabei nach oben gekommen sind, und wenn sie andre Brillenmännchen darin finden, dann gründen sie eine Akademie. Das ist ein wahres Glück für uns, denn wenn die Brillenmännchen nicht in die Mauselöcher fielen, sondern alle oben blieben, dann wäre es im Garten der Welt überhaupt nicht mehr auszuhalten.

»Oh, du weißes Lilienwunder!«quakte der Frosch und sank vor der Lilie in die schlüpfrigen Knie.

Als die Kartoffel hörte, wie der Frosch von einem weißen Lilienwunder quakte, mußte sie so lachen, daß die Erde um sie herum locker wurde. Die Kröte glättete ihr den Boden wieder, so wie man jemand auf die Schulter klopft, der sich verschluckt hat.

»Sie sind wirklich zu primitiv, gnädige Frau«, sagte sie. »Gewiß ist das ein etwas überschwenglicher Ausdruck, und ich fürchte beinahe, daß mein armer Neffe ein Dichter werden wird und kein richtiger Frosch, und das wäre sehr traurig für die Familie. Aber es ist doch etwas Seltsames um die Lilien, die so weiß sind und so schnell verwelken. Und wenn man so bedenkt, daß sie unsere nächsten Nachbarn gewesen sind und wir eigentlich nicht viel davon gemerkt haben. Sehen Sie nur, es ist bald aus mit ihr -oh, du mein armer, nasser Neffe!«



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Die Kröte atmete voller Erregung und machte glucksende Bewegungen mit der Kehle.

»Ja, sehr bedauerlich«, sagte die Kartoffel, »nun ist der ganze Aufwand umsonst gewesen. Eine Kartoffel ist doch dauerhafter und lebt wenigstens in ihren Knollen weiter.«

Die Lilie hatte die welken Blütenblätter gesenkt. Aus dem verglimmenden Gold ihres weißen Kelches aber schwebte der Lilieneif auf feinen Falterflügeln zum Flug in die Unendlichkeit - empor zu den Sternen der Nacht und zur silbernen Sichel. *

Es blühen so viele weiße Lilienwunder im Garten der Welt. Nur die Brillenmännchen merken nichts davon, und die Kartoffeln lachen darüber. Vielleicht ahnen sie die Kröten, wenn sie alt und weise werden, und die Frösche, wenn sie jung sind und lieben. Aber schauen kann man sie nur, wenn man die lichten Strahlen sucht, auf denen die Geheimnisse des Himmels und der Erde sich verschwistern, und wenn man sehnsuchtsvoll die Arme ausbreitet nach den Sternen der Nacht und nach der silbernen Sichel.

Und dazu muß es dunkel werden im Garten der Welt.


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