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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM KNABEN UND DEN DIEBEN

Eines Tages zogen sieben Diebe aus, um zu stehlen, wie es ihre Gewohnheit war. Da kamen sie an einem Garten vorbei, in dem es frische reife Walnüsse gab, und sie beschlossen, in jenen Garten einzudringen. Nun sahen sie aber, wie ein kleiner Knabe bei ihnen stand, und zu dem sprachen sie: ,Knabe, willst du mit uns in diesen Garten gehen und auf den Baum dort klettern, von seinen Nüssen essen, soviel du magst, und uns dann auch einige von seinen Früchten herunterwerfen?'



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Der Knabe war damit einverstanden und ging mit ihnen hinein. _— —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 919. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Knabe den Dieben willfahrte und mit ihnen hineinging; und da sagte der eine von ihnen zum anderen: ,Schaut, wer von uns der leichteste und kleinste ist; den laßt hinaufklettern!' Und weiter sagten sie: ,Wir finden unter uns keinen, der schmächtiger wäre als dieser Knabe.' Nachdem sie ihn aber auf den Baum hatten klettern heißen, riefen sie: ,Knabe, rühre keine von den Früchten des Baumes an, damit dich nicht jemand sieht und dir ein Leid antut!' ,Was soll ich denn tun?' fragte der Knabe; und sie erwiderten ihm: ,Setz dich mitten in den Baum und schüttle jeden einzelnen Zweig mit aller Kraft, so daß alles herabfällt, was an ihm hängt, und wir es auflesen! Wenn du alles, was an ihm ist, heruntergeschüttelt hast und zu uns herabgestiegen bist, so nimm deinen Teil von dem, was wir aufgelesen haben!' Der Knabe nun, der oben auf dem Baume war, begann jeden Zweig zu schütteln, den er erreichen konnte, und die Nüsse fielen von ihm herab, während die Diebe sie aufsammelten. Doch als sie damit beschäftigt waren, kam plötzlich der Besitzer des Baumes und blieb bei ihnen stehen, wie sie solches trieben. Und er fuhr sie an: ,Was habt ihr mit diesem Baum zu schaffen?' Sie antworteten ihm: ,Wir haben nichts von ihm weggenommen; wir kamen hier nur vorüber und sahen dort oben diesen Knaben. Und da wir glaubten, er wäre der Herr des Baumes, baten wir ihn, er möchte uns einige seiner Früchte zu essen geben; er schüttelte auch einige Zweige, so daß die Nüsse von ihnen herunterfielen. Uns trifft keine



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Schuld!' Darauf sprach der Besitzer des Baumes zu dem Knaben: ,Und was sagst du dazu?' Der aber rief: ,Die da lügen! Ich will dir die Wahrheit sagen. Und die ist, daß wir zusammen hierher kamen; da befahlen sie mir, auf diesen Baum zu steigen und die Zweige zu schütteln, damit die Nüsse zu ihnen niederfielen, und ich mußte ihrem Befehle gehorchen.' Der Herr des Baumes fuhr fort: ,Du hast dich in großes Unheil gestürzt. Hast du denn wenigstens auch Nutzen davon gehabt, indem du einige Früchte davon gegessen hast?' Der Knabe erwiderte: ,Ich habe gar nichts davon gegessen.' Da sagte der Mann: ,Jetzt erkenne ich deine Torheit und Dummheit, die darin besteht, daß du dir selber geschadet hast, um anderen zu nützen.' Zu den Dieben sprach er: ,Euch kann ich nicht fassen; geht eurer Wege!' Den Knaben aber ergriff er und bestrafte ihn.' *

,So wollen auch deine Wesire und Würdenträger dich zugrunde richten zu ihrem eigenen Vorteil, und sie wollen an dir handeln, wie die Diebe an dem Knaben gehandelt haben.' Da sagte der König: ,Recht ist, was du gesagt hast; du hast die Wahrheit gesprochen in deinen Worten! Ich will nicht zu ihnen hinausgehen und will meine Freuden nicht aufgeben.' Dann ruhte er die Nacht über bei seiner Gemahlin in allen Wonnen, bis der Morgen anbrach. Als es Morgen war, machte der Wesir sich auf, versammelte die Großen des Reiches samt den Untertanen, die bei ihnen zugegen waren; darauf zogen sie alle zum Tor des Königs, frohen und heiteren Sinnes. Aber er ließ ihnen das Tor nicht öffnen, er kam nicht zu ihnen heraus, und er gab ihnen auch nicht die Erlaubnis, zu ihm einzutreten. Und schließlich, als sie die Hoffnung aufgaben, sprachen sie zu Schimâs: .O du trefflicher Wesir und vollendeter Weiser,



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siehst du nicht das Tun dieses halbwüchsigen unverständigen Knaben, der mit seinen anderen Sünden auch noch die Lüge vereint? Sieh, wie er dir sein Versprechen gebrochen, wie er gar nicht erfüllt hat, was er dir gelobte! Dies Vergehen mußt du noch zu seinen anderen Vergehen hinzutun. Doch wir bitten, daß du noch einmal zu ihm hineingehst und schaust, weshalb er säumt und nicht herauskommt. Wir erkennen recht wohl seine schmähliche Art, die sich hierin zeigt; ja, er hat den höchsten Grad der Verstocktheit erreicht.' So begab sich denn Schimâs wieder zu ihm, trat ein und sprach: ,Friede sei mit dir, o König! Wie kommt es, daß ich sehen muß, wie du dich von neuem einer geringfügigen Freude hingibst und die große Aufgabe versäumst, die eifrig zu erfüllen dir geziemt? Du bist wie der Mann, der eine Kamelin hatte und immer nur an ihre Milch dachte, so daß er ob der Süße ihrer Milch vergaß, ihre Halfter festzuhalten; eines Tages kam er, um sie zu melken, dachte aber nicht an ihr Halfterband, und als die Kamelin fühlte, daß er den Strick nicht hielt, riß sie sich los und suchte das Weite. So verlor der Mann die Milch und die Kamelin, und so war der Schaden, den er hatte, größer als der Nutzen. Darum, o König, achte auf das, worin dein eigenes Wohl und das Wohl deiner Untertanen liegt; denn wie es dem Manne nicht geziemt, immer an der Küchentür zu sitzen, weil er das Essen nötig hat, so soll er auch nicht zu viel bei den Frauen sich aufhalten, weil er zu ihnen neigt. Nein, wie ein Mann nur dessen an Speise bedarf, was die Qual des Hungers abwehrt, und nur dessen an Trank, was den Schmerz des Durstes fernhält, so geziemt es dem verständigen Manne, von diesen vierundzwanzig Stunden nur zwei Stunden an jedem Tage bei den Frauen zu verweilen und die übrige Zeit auf seine Geschäfte und auf die Geschäfte seines Volkes zu verwenden.



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Nicht länger als zwei Stunden soll er bei den Frauen bleiben und mit ihnen allein sein; sonst erleidet er Schaden an Leib und Verstand, da sie nie das Gute gebieten noch auf den rechten Weg dazu leiten. Er soll daher weder Wort noch Tat von ihnen annehmen; denn mir ist schon berichtet worden. daß viele Männer durch ihre Frauen ins Verderben geraten sind, so auch, daß einmal ein Mann umkam, weil er mit seiner Frau zusammen war und auf das hörte, was sie ihm befahl.' ,Wie war denn das?' fragte der König; und Schimâs erzählte


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