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DIE GEBORGTE KRONE

Es war einmal ein Igel, der hatte seine Wohnung in einem hohlen Baumstamm an einem grünen Tümpel und hieß Schnäuzchen Piekenknäul. Es war ein schöner Sommermorgen, und Schnäuzchen Piekenknäul saß vor seiner Behausung, trank seinen Eichelkaffee und las die Wald- und Wiesenzeitung. Im Tümpel plätscherte ein kleiner grüner Frosch mit Namen Quellauge und quakte.

»Quake nicht so laut«, sagte Schnäuzchen Piekenknäul, »es stört mich beim Lesen.« Und dabei wippte er voller Arger mit seinen Moospantoffeln.

Der Frosch Benjamin Quellauge machte den Mund noch einmal so weit auf und quakte noch lauter. Dabei spritzte er mit der nassen Hand Wasser in die große Kaffeetasse von Schnäuzchen Piekenknäul.

»Mach, daß du fortkommst, du grüner Lümmel«, fauchte Schnäuzchen Piekenknäul, »ich werde einen Moospantoffel nach dir werfen, daß er gerade in deinen großen Mund fliegt.«

»Ich bin kein grüner Lümmel«, sagte Benjamin Quellauge, »ich bin ein Frosch.«

»Das ist auch was Rechtes«, knurrte Schnäuzchen Piekenknäul.

Das durfte Schnäuzchen Piekenknäul natürlich nicht sagen, auch wenn man ihm Wasser in den Kaffee gespritzt hatte, denn ein Frosch ist, wie jeder weiß, eine sehr achtbare Person.

»Ich bin auch gar kein gewöhnlicher Frosch«, sagte Benjamin Quellauge, »ich bin ein gekrönter Frosch, und das ist mehr als ein dicker Igel, der bloß Zeitung lesen und Kaffee trinken kann.«

Das hätte nun wieder Benjamin Quellauge nicht sagen dürfen.



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»In der Zeitung steht, daß Frösche quaken. Es steht nicht darin, daß sie Kronen tragen«, sagte Schnäuzchen Piekenknäul, denn er glaubte nur das, was in der Wald- und Wiesenzeitung stand, und so machen es viele Leute. »Wo ist denn deine Krone -hä, hä?«fragte Schnäuzchen Piekenknäul und trank Kaffee.

»Meine Krone ist eine heimliche Krone, man sieht sie nicht alle Tage«, sagte Benjamin Quellauge, »und dumme Leute, die bloß glauben, was in der Wald- und Wiesenzeitung steht, sehn sie überhaupt nicht.«

»Es gibt keine heimlichen Kronen, denn davon steht nichts in der Zeitung«, sagte Schnäuzchen Piekenknäul, »es gibt nur Kronen, die man sieht, und das steht dann auch in der Zeitung.«

»Du wirst schon sehen, daß ich einmal eine Krone trage und daß es in der Zeitung steht«, sagte Benjamin Quellauge und schwamm davon. Denn dieses Gespräch hatte ihn sehr aufgeregt und geärgert, wie jeder begreifen wird, der weiß, daß ein Frosch eine sehr achtbare Person ist und sich nicht solche herablassenden Dinge sagen läßt von jemand, der bloß Zeitung lesen und Kaffee trinken kann.

Aber wenn auch Benjamin Quellauge, wie alle Frösche, eine sehr achtbare Person war - eine Krone hatte er darum doch nicht, denn Kronen tragen lange nicht alle Frösche, und es ist mit den heimlichen Kronen überhaupt eine seltsame Sache. Es gibt schon heimliche Kronen in der Welt, und gar nicht so wenige, aber es tragen sie nur die, welche gut zu den Tieren und Blumen sind und die verstehen, in Gottes Schöpfung zu lesen - und das sind leider nur wenige, und so gibt es noch viele heimliche Kronen, die irgendwo liegen und nur darauf warten, daß sie jemand findet, der sie tragen darf. Es ist etwas sehr Schönes und Großes um solch eine heimliche Krone, aber die anderen sehn sie meist gar nicht, und am wenigsten die, welche nur immer



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die Wald- und Wiesenzeitung lesen und Kaffee dazu trinken.

Der Frosch Benjamin Quellauge aber wollte gar zu gerne eine heimliche Krone haben, und er dachte so sehr darüber nach, daß er noch einmal so grün wurde und daß ihm seine bedeutenden Augen noch bedeutender aus dem Kopfe quollen, was einen sehr übertriebenen Eindruck machte. Da fiel ihm ein, daß die kleine Elfe Silberkind, die unter den Marienblumen lebte, solch eine heimliche Krone trug, denn die Elfen sind gut zu den Tieren und Blumen, und darum tragen sie alle kleine, heimliche Kronen. Silberkind aber hieß die kleine Elfe darum, weil sie ein silbernes Kleidchen und silberne Falterflügel hatte.

Benjamin Quellauge hupfte in großen Sätzen zu den Marienblumen, wobei er einige Blüten rücksichtslos mit dem Ellbogen anstieß — schon ein Beweis, daß er noch gar nicht reif war für die heimlichen Elfenkronen.

»Guten Tag, Silberkind«, sagte Benjamin Quellauge, »borge mir doch, bitte, deine Krone, ich möchte auch einmal damit spazierengehen. «

»Das ist noch zu früh für dich«, sagte die Elfe Silberkind.

Da weinte Benjamin Quellauge aus seinen bedeutenden Augen zwei ebenso bedeutende Tränen, denn es kränkte ihn sehr, daß er die Krone nicht kriegen sollte. Das rührte die Elfe Silberkind, und weil sie immer gut zu den Tieren und Blumen war, gab sie ihm ihre kleine Krone.

»Da hast du die Krone, Benjamin Quellauge«, sagte sie, »aber gehe vorsichtig damit um und bringe sie mir heute noch wieder. Du darfst auch beim Hupfen die Blumen nicht so mit dem Ellbogen anstoßen, denn das mögen sie nicht leiden. Nimm Rücksicht, Benjamin Quellauge.«

Benjamin Quellauge bedankte sich und bemühte sich, vorsichtig zu hupfen und niemand anzustoßen. Wie er aber



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wieder an seinem Tümpel angekommen war, da wurde er sehr großartig. Er stellte sich aufrecht auf die Beine, setzte die Krone auf den nassen, grünen Kopf, spazierte umher und quakte. Vor allem aber wollte er, daß Schnäuzchen Piekenknäul die Krone sehen sollte, denn Schnäuzchen Piekenknäul hatte ihn beleidigt und hatte gesagt, daß er ein grüner Lümmel wäre. Doch weil Schnäuzchen Piekenknäul gerade ausgegangen war, so behielt Benjamin Quellauge die heimliche Krone auch noch bis zum anderen Tage, und sie gefiel ihm so gut, daß er sie überhaupt nicht mehr hergeben wollte. Die kleine Elfe Silberkind aber weinte, und sie schwur es sich zu, ihre heimliche Krone nie wieder einem grünen Frosch zu borgen.

Endlich sah Benjamin Quellauge, wie Schnäuzchen Piekenknäul wieder vor seiner Wohnung saß, die Wald- und Wiesenzeitung las und seinen Eichelkaffee dazu trank. Da stellte er sich aufrecht hin und spazierte mit der Krone auf dem nassen, grünen Kopf an Schnäuzchen Piekenknäul vorbei und quakte dazu.

»Siehst du jetzt, daß ich eine Krone habe?«fragte er großartig und sah Schnäuzchen Piekenknäul aus seinen quellenden Augen verachtungsvoll an.

Schnäuzchen Piekenknäul blieb der Kaffee in der Schnauze stecken.

»Wahrhaftig«, sagte er, »es steht auch in der Zeitung!«

Und richtig, so war es. In der Wald- und Wiesenzeitung stand es mit großen Buchstaben gedruckt, daß der Frosch Benjamin Quellauge mit einer Krone spazierengehe und quake. ,Ehre ihm und allen solchen Fröschen!' hatte die Zeitung hinzugefügt, denn die Wald- und Wiesenzeitung, die niemals etwas von den heimlichen Kronen weiß, druckt es mit großen Buchstaben, wenn irgendwelche grüne Frösche mit geborgten Kronen spazierengehen und quaken.



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Es ist aber eine eigne Sache mit einer heimlichen Krone. Es behält sie niemand, der sie nur geborgt hat, und sie kehrt immer zu dem zurück, dem sie gehört, wenn das auch die Wald- und Wiesenzeitung nicht merken kann.

Und plötzlich gluckste es schrecklich im Tümpel, und aus dem tiefen Wasser stieg eine grausige, große Person hervor, mit einem Krötenkopf und Krötenarmen und einer buntgetupften Schürze über dem dicken Bauch, und das war die Tümpeltante. Die Tümpeltante war die Gerechtigkeit in diesem Sumpf, an dem Schnäuzchen Piekenknäul und Benjamin Quellauge wohnten und an dessen Ufern die Wald- und Wiesenzeitung erschien.

»Uh-uh«, sagte die Tümpeltante und rollte mit den Krötenaugen, »uh-uh! Das ist nicht deine Krone, du grüner Lümmel, das ist die Krone der Elfe Silberkind, und Silberkind sitzt unter den Marienblumen und weint um ihre Krone. Willst du Silberkind gleich die Krone wiedergeben, Benjamin Quellauge?«

Benjamin Quellauge sprang vor Schreck in die große Kaffeetasse von Schnäuzchen Piekenknäul und ruderte angstvoll darin herum.

»Uh-uh«, sagte die Tümpeltante, »uh-uh. Und du, Schnäuzchen Piekenknäul, hast du nicht gesagt, daß es keine heimlichen Kronen gibt? Aber wenn ein grüner Frosch mit einer geborgten Krone umherspaziert und quakt, dann glaubst du, das sei eine wirkliche Krone, bloß weil es in deiner dummen Wald- und Wiesenzeitung steht! Uh-uh, Schnäuzchen Piekenknäul, dafür werde ich dir deinen ganzen Kaffee austrinken!«

Die Tümpeltante näherte sich drohend. Schnäuzchen Piekenknäul verschwand so schnell in seinem Baumloch, daß er beide Moospantoffeln verlor. Die Tümpeltante fischte Benjamin Quellauge aus der Kaffeetasse und tat ihn unsanft wieder in den Tümpel zurück. Und die heimliche



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Krone wickelte sie in ihre Schürze, um sie Silberkind wiederzugeben. Vorher aber trank die Tümpeltante den ganzen Kaffee von Schnäuzchen Piekenknäul aus.

Es spazieren so viele in der Welt herum mit geborgten Kronen und quaken - und die Leute sehen gar nicht, daß es nur geborgte Kronen sind, weil sie nur das glauben, was in der Wald- und Wiesenzeitung steht. Wer aber eine geborgte Krone trägt, der fällt bestimmt noch einmal in eine fremde Kaffeetasse.

Von den heimlichen Kronen steht freilich nichts in der Wald- und Wiesenzeitung. Man muß schon selber richtig die Augen aufmachen in Gottes großer Schöpfung und die Tiere und Blumen lieben, dann wird man schauen, wo alle die heimlichen Kronen sind, und wird bald selbst eine tragen. Und der liebe Gott schenkt einem dann einmal zur heimlichen Krone noch ein silbernes Kleid und silberne Schwingen wie der Elfe Silberkind - und dann ist es einem ganz gleich, ob das in der Zeitung steht oder nicht. Macht man es aber wie Schnäuzchen Piekenknäul, dann kommt eines Tages die Tümpeltante und trinkt einem allen Kaffee aus!


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