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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM BLINDEN UND DEM KRÜPPEL

Die beiden nahm ein Mann, der einen Garten besaß, mit sich und führte sie in seinen Garten, indem er ihnen befahl, in ihm nichts zu verderben noch auch etwas zu tun, was ihm schaden könnte. Als aber die Früchte des Gartens reif waren, sagte der Krüppel zum Blinden: ,Heda, ich sehe reife Früchte, und mich gelüstet nach ihnen; aber ich kann mich nicht zu ihnen erheben, um von ihnen zu essen. Drum steh du auf, denn du hast zwei gesunde Beine, und hole uns von ihnen etwas zum Essen!'



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Doch der Blinde erwiderte: ,Weh dir, jetzt lässest du mich an sie denken; vorher wußte ich nichts von ihnen. Aber ich kann nicht zu ihnen gelangen, da ich sie nicht sehen kann! Was sollen wir nun tun, damit wir sie erreichen? 'Während sie so miteinander redeten, kam zu ihnen der Aufseher des Gartens, der ein kluger Mann war, und der Krüppel sagte zu ihm: ,Heda, du Aufseher, mich gelüstet es nach etwas von diesen Früchten; aber ich bin verkrüppelt, wie du siehst, und mein Freund dort ist blind und kann nicht sehen. Was sollen wir nun tun?' Der Aufseher sprach zu ihnen: ,Weh euch, wißt ihr nicht mehr, was ihr dem Besitzer des Gartens versprochen habt, nämlich, daß ihr euch in nichts einmischen wollt, woraus dem Garten Schaden erwachsen könne? Also laßt ab und tut es nicht!' Doch die beiden bestanden darauf: ,Wir müssen notwendig unseren Anteil an diesen Früchten haben, den wir essen können; drum sage uns ein Mittel, das du weißt!' Wie die beiden nun nicht von ihrer Absicht ließen, sprach er zu ihnen: ,Das Mittel dazu wäre, daß der Blinde sich aufmacht und dich, o Krüppel, auf seinen Rücken nimmt und nahe an den Baum heranträgt, dessen Früchte dir gefallen; und dann, wenn er dich zu ihm gebracht, magst du so viele Früchte pflücken, wie du erreichen kannst.' Da machte der Blinde sich auf und nahm den Krüppel auf seinen Rücken, während dieser ihn auf den Weg leitete, bis er ihn nahe an einen Baum herangetragen hatte; dort begann der Krüppel nach Herzenslust zu pflücken. Und sie hörten mit ihrem Tun nicht eher auf, als bis sie alle Bäume im Garten völlig geplündert hatten. Plötzlich aber kam der Herr des Gartens und rief sie an: ,Wehe euch beiden! Was habt ihr da getan? Hab ich euch nicht versprechen lassen, daß ihr diesen Garten nicht beschädigen wollt?' Sie gaben ihm zur Antwort: ,Du weißt, daß wir nicht imstande sind, irgend etwas zu tun, da



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einer von uns ein Krüppel ist, der sich nicht aufrichten kann, und der andere ein Blinder, der nicht sieht, was vor ihm ist. Was ist denn unsere Schuld?' Doch der Herr des Gartens fuhr fort: ,Meint ihr beide denn, ich wüßte nicht, wie ihr es gemacht habt, meinen Garten zu verwüsten? Mich deucht, daß du, o Blinder, dich aufgemacht und den Krüppel auf deinen Rücken genommen hast, und daß er dir den Weg zeigte, bis du ihn zu den Bäumen brachtest.' Darauf nahm er die beiden, bestrafte sie schwer und jagte sie zum Garten hinaus. Der Blinde ist ein Gleichnis für den Leib, da der nur durch die Seele zu sehen vermag; und der Krüppel gleicht der Seele, die sich nur durch den Leib zu bewegen vermag. Der Garten aber ist ein Gleichnis der Werke, für die der Mensch seine Vergeltung empfängt; und der Aufseher ist die Vernunft, die das Gute gebietet und das Böse verbietet. Daher haben Leib und Seele gleichermaßen Anteil an Lohn und Strafe.' *

Darauf sagte Schimâs: ,Du hast recht gesprochen, und ich nehme diese deine Rede an. Nun tu mir kund, welcher von den Gelehrten ist deines Erachtens am höchsten zu preisen?' Der Knabe erwiderte: ,Wer in der Kenntnis Gottes gelehrt ist und wem sein Wissen nützt.' ,Und wer ist das?' ,Wer nach dem Wohlgefallen seines Herrn strebt und seinen Zorn meidet.' ,Und wer von ihnen ist der Trefflichste?' ,Wer das beste Wissen von Gott hat.' ,Und wer ist von ihnen der Erfahrenste?' ,Wer im Handeln gemäß seiner Erkenntnis am beharrlichsten ist.' ,Sage mir, wer von ihnen das lauterste Herz hat!' ,Wer sich am besten für den Tod vorbereitet und den Herrn am meisten preist, aber am wenigsten hofft. Denn wer seine Seele von den Nöten des Todes durchdringen läßt, ist wie einer, der in einen



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klaren Spiegel schaut: er erkennt die Wahrheit, und der Spiegel nimmt immer noch zu an Klarheit und Glanz.' ,Welche Schätze sind die besten?' ,Die Schätze des Himmels.' ,Welcher von den Schätzen des Himmels ist der beste?' ,Die Verherrlichung und der Lobpreis Gottes.' ,Und welcher von den Schätzen der Erde ist der trefflichste?' ,Die Übung der Güte.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 911. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Prinz, als der Wesir Schimâs ihn fragte, welcher von den Schätzen der Erde der trefflichste sei, zur Antwort gab: ,Die Übung der Güte.' Dann fuhr der Wesir fort: ,Du hast recht gesprochen, und ich nehme diese deine Rede an. Nun gib mir Auskunft über drei verschiedene Dinge, über Wissen, Urteil und Verstand, sowie über das, was sie verbindet.' ,Das Wissen entsteht aus dem Lernen, das Urteil aus der Erfahrung, der Verstand aus dem Nachdenken, und alle drei sind in der Vernunft fest gegründet und vereint. Der nun, in dem diese drei Eigenschaften vereinigt sind, ist vollkommen. und wenn er hierzu noch die Gottesfurcht hinzutut, so erreicht er das rechte Ziel.' ,Du hast recht gesprochen, und ich nehme dies von dir an. Nun aber tu mir weiter kund, können dem wissenden Gelehrten, dem Manne des rechten Urteils, der leuchtenden Erkenntnis und des überragenden, die Klarheit in sich tragenden Verstandes -können dem Lust und Begierde diese erwähnten Eigenschaften trüben?' ,Wenn diese beiden Leidenschaften in den Menschen eindringen, so trüben sie sein Wissen, seine Einsicht, sein Urteil und seinen Verstand. Dann ist er wie der Adler, der Raubvogel, der in seiner Furcht vor den Jägern aus übergroßer Klugheit in den Lüften schwebt und plötzlich, während er dort oben weilt, einen Vogelsteller



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sieht, der sein Netz aufgeschlagen hat; wenn der Mann nun das Netz fest aufgestellt und ein Stück Fleisch hineingelegt hat, so erblickt der Adler den Köder, und Lust und Begierde kommen über ihn, so daß er vergißt, was er früher gesehen hat von Fallen und von dem üblen Schicksal aller Vögel, die hineingeraten sind; und dann stößt er hernieder aus dem Luftraum, stürzt sich auf das Stück Fleisch und verstrickt sich im Netz. Wenn der Vogelsteller kommt, sieht er den Adler in seinem Netz und verwundert sich gar sehr und spricht: ,Ich habe doch mein Netz aufgestellt, damit Tauben oder ähnliche kleine Vögel hineinfallen sollen; wie ist nun dieser Adler hineingeraten?' Es wird aber auch gesagt: Wenn Lust und Begierde einen verständigen Mann zu etwas reizen, so erwägt er den Ausgang dieser Sache mit seinem Verstande und achtet nicht auf das, wodurch jene sie ihm schön erscheinen lassen, sondern er bezwingt Lust und Begierde durch seinen Verstand. Denn wenn diese beiden Leidenschaften ilm zu etwas verlocken wollen, so geziemt es sich, daß er seinen Verstand zu einem Reitersmanne mache, der in der Reitkunst erfahren ist und der. wenn er ein wildes Pferd besteigt, es fest im Zaume hält, so daß es gehorsam ihn trägt, wohin er will. Wer aber töricht ist, weder Wissen noch Urteil hat, so daß ihm alle Dinge dunkel sind und Lust und Begierde ihn beherrschen, der handelt nach diesen Leidenschaften und gehört zu den Verlorenen; und unter den Menschen gibt es keinen, dem es schlimmer erginge als ihm.' ,Du hast recht mit dem, was du gesagt hast, und ich nehme es von dir an. Nun sage mir weiter, wann das Wissen sich nützlich erweist und der Verstand das Unheil der Lust und Begierde weichen heißt!' ,Wenn ihr Besitzer sie im Streben nach dem Jenseit verwendet; denn Verstand und Wissen sind zwar allzeit nützlich, aber es geziemt ihrem Besitzer nicht, daß



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er sie im Streben nach irdischen Dingen verwendet, es sei denn in dem Maße, daß er durch sie seine irdische Nahrung gewinnt und das Übel der Welt von sich abwehrt; im übrigen soll er sich ihrer nur im Wirken für das Jenseits bedienen.' ,Nun tu mir kund, was verdient es am meisten, daß der Mensch sich ihm widme und sein Herz daran hänger' ,Die guten Werke.' ,Wenn der Mensch das tut, so lenkt es ihn ab vom Erwerb des täglichen Brotes; was soll er also für seinen Lebensunterhalt tun, den er doch nicht entbehren kann?' ,Sein Tag hat vierundzwanzig Stunden, und es geziemt ihm, daß er einen Teil davon auf die. Suche nach seinem Lebensunterhalt verwende. einen anderen Teil auf Rast und Ruhe und den übrigen Teil auf das Streben nach Wissen. Denn wenn der vernunftbegabte Mensch kein Wissen hat, so gleicht er nur einem dürren Lande, das keine Stätte hat, an der man pflügen, Bäume setzen oder Gras säen kann. Wird es nicht für den Pflug und die Bepflanzung gerüstet, so trägt es keine gute Frucht; wird es aber zum Pflügen und Bepflanzen bereit gemacht, so bringt es schöne Früchte hervor. So steht es auch mit dem Menschen ohne Wissen; er ist so lange nutzlos, bis Kenntnisse in ihn hineingepflanzt werden; sind diese aber in ihn gepflanzt, so trägt er Frucht.' ,Nun sprich mir von dem Wissen ohne Verstand; wie steht es darumm' ,Das ist wie das Wissen eines Tieres. das die Stunden kennt, in denen es gefüttert und getränkt wird und aufwacht, aber keine Vernunft besitzt.' ,Du hast mir hierauf eine kurze Antwort erteilt; doch ich nehme diese Rede von dir an. Sage mir, wie soll ich mich vor dem Sultan hüten?' ,Gib ihm keine Gelegenheit wider dich!' ,Wie wäre ich imstande, ihm keine Gelegenheit wider mich zu geben, da er doch als Herr über mich gesetzt ist und die Zügel meiner Sache in seinen Händen hält?' ,Seine Herrschaft über dich besteht in den



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Rechten, die er an dich hat. Wenn du ihm also gibst, was sein ist, so hat er keine Macht mehr über dich.' ,Welches Recht hat der König an seinem Wesir?' ,Der soll ihm guten Rat geben, ihm eifrig dienen im Verborgenen und in der Öffentlichkeit, rechtes Urteil fällen und sein Geheimnis behüten; ferner soll er ihm nichts von dem verbergen, was ihm zu wissen gebührt, er soll in der Ausführung der Angelegenheiten, mit denen sein Herr ihn betraut hat, es an nichts fehlen lassen; auf jede Weise soll er sein Wohlgefallen suchen und seinen Zorn gegen ihn vermeiden.' ,Sage mir weiter, wie soll der Wesir es mit dem König halten?' ,Wenn du Wesir des Königs bist und vor ihm sicher sein willst, so soll dein Hören auf ihn und deine Rede vor ihm alles übertreffen, was er von dir erwartet; dein Anliegen an ihn sei nach Maßgabe deiner Stellung bei ihm; hüte dich davor, dir selbst eine Stellung anzumaßen, deren er dich nicht würdig erachtet, denn das würde an dir eine Vermessenheit wider ihn sein! Wenn du aber seine Milde ausnutzest und dich zu einer Stellung erhebst, deren er dich nicht für wert hält, so gleichst du dem Jäger, der wilde Tiere fing, um ihnen ihre Felle abzuziehen, deren er bedurfte, und dann ihr Fleisch fortwarf. Nun pflegte ein Löwe zu jener Stätte zu kommen, um von dem Aas zu fressen; und nachdem er oft dorthin gekommen war, ward er mit dem Jäger vertraut und befreundet. Dann kam der Jäger ihm entgegen, warf ihm das Fleisch hin und streichelte ihm mit der Hand den Rücken, während der Löwe mit dem Schweife wedelte. Wie nun der Jäger sah, daß der Löwe zahm und vertraut mit ihm und unterwürfig gegen ihn war, sprach er bei sich selber: ,Dieser Löwe ist mir untertan, und ich bin sein Herr. Und jetzt will ich nichts anderes tun, als mich auf ihn setzen und ihm dann die Haut abziehen wie den anderen Tieren.' So faßte er sich denn Mut, sprang dem Löwen auf



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den Rücken und wollte sich an ihn machen. Doch als der Löwe sah, was der Jäger begann, ergrimmte er gewaltig; und alsbald erhob er seine Pranke und schlug nach dem Jäger, sodaß jenem die Krallen in die Eingeweide drangen. Dann warf er ihn unter seine Füße und zerriß ihn in Stücke. Hieraus kannst du erkennen, daß es dem Wesir geziemt, sich dem König gegenüber so zu verhalten, wie der seine Stellung ansieht, und sich nicht gegen ihn zu überheben, weil er sich selber höher einschätzt, auf daß der König ihm nicht zürne.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 912. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Knabe, der Sohn des Königs Dschali'âd, zum Wesir Schimâs sprach: ,Dem Wesir geziemt es, sich dem König gegenüber so zu verhalten, wie der seine Stellung ansieht, und sich nicht gegen ihn zu überheben, weil er sich selbst höher einschätzt, auf daß der König ihm nicht zürne.' Dann fragte Schimâs weiter: ,Sage mir, wie soll sich der Wesir vor dem König angenehm machen?' Und der Knabe erwiderte: ,Er soll das Vertrauensamt, das der König ihm übertragen hat, erfüllen durch guten Rat, rechtes Urteil und Ausführung seiner Befehle.' ,Was du da sagst von der Pflicht des Wesirs gegen den König, daß er seinen Zorn meide und tue, was sein Wohlgefallen findet, und für das sorgt, was jener ihm aufträgt, so ist das etwas, das an sich notwendig ist. Doch sage mir, was soll er tun, wenn der König immer nur an Ungerechtigkeit und am Begehen von tyrannischer Gewalttat sein Gefallen findet? Was soll der Wesir tun, wenn er durch das Zusammensein mit einem solchen ungerechten Herrscher geplagt wird? Wenn er ihn von seiner Lust und Begierde und seiner Laune abbringen will, so vermag er es nicht zu tun;



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wenn er aber seinen Lüsten nachgibt und seine Laune gutheißt, so lädt er die Last der Verantwortung auf sich und wird ein Feind der Untertanen. Was sagst du dazu?' ,Was du, o Wesir, von der Verantwortung und der Schuld redest, das gilt nur, wenn er dem König im sündigen Wandel folgt. Aber es liegt dem Wesir doch ob, daß er dem König, wenn der sich mit ihm über solche Dinge berät, den Weg des Rechts und der Gerechtigkeit zeige, ihn vor Ungerechtigkeit und Gewalttat warne und ihm den guten Wandel unter dem Volke vorhalte, indem er den Wunsch nach dem künftigen Lohne, der darin liegt, in ihm erweckt und ihn durch die Strafe, die ihn ereilen muß, schreckt. Wenn der König ihm geneigt ist und seinen Worten sich fügt, so erreicht er sein Ziel; wenn nicht, so bleibt ihm nichts zu tun übrig, als daß er sich von ihm in freundlicher Weise trennt; denn durch die Trennung wird ihnen beiden die Ruhe zuteil.' ,Sage mir, welches Recht hat der König an seine Untertanen, und welches Recht haben die Untertanen an den König?' ,Was er ihnen befiehlt, das müssen sie tun in reiner Absicht, und sie müssen ihm gehorchen in dem, was ihm gefällt und Allah und Seinem Gesandten gefällt. Das Recht der Untertanen an den König ist, daß er ihr Hab und Gut schirmt und ihre Frauen schützt, wie es ihre Pflicht gegen ihn ist, daß sie auf ihn hören und ihm gehorchen, ihr Leben für ihn opfern, ihm geben, was sein ist, und ihn für die Gerechtigkeit und Güte, die er ihnen erweist, geziemend preisen.' ,Du hast mir die Rechte des Königs und der Untertanen, nach denen ich dich gefragt habe, nunmehr klargelegt. Aber sag, gibt es für die Untertanen noch einen anderen Anspruch an den König außer dem, was du gesagt hast?' ,Ja; das Recht des Volkes an den König ist bindender als das Recht des Königs an die Untertanen; denn der Verlust ihrer Rechte ihm gegenüber ist schädlicher



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als der Verlust seiner Rechte ihnen gegenüber, da das Verderben des Königs und der Untergang seines Reiches und seines Wohlstandes nur eintreten, wenn die Rechte der Untertanen verloren gehen. Wer also mit der Königswürde betraut ist, dem geziemt es, daß er sich dreier Dinge befleiße; das sind die Förderung des Glaubens, die Förderung der Untertanen und die Förderung der Staatspflege. Wenn er sich dieser drei Dinge befleißt, so ist seine Herrschaft von Dauer.' ,Tu mir kund, in welcher Weise er für die Förderung der Untertanen sorgen muß!' ,Er soll ihnen geben, was ihnen gebührt, er soll ihre Sitten und Gebräuche aufrecht erhalten, Gelehrte und Weise bestallen, um sie zu unterrichten, und ihnen Recht untereinander verschaffen; er soll ihr Blut schonen, sich ihres Besitzes enthalten, ihre Lasten erleichtern und ihre Heere stärken.' ,Welches Recht hat der Wesir an den Könige' ,Der König hat gegen keinen von allen Menschen eine stärkere Verpflichtung als die, so ihm gegenüber dem Wesir obliegt, und zwar aus drei Gründen: erstlich, wegen dessen, was ihm vom König widerfährt, wenn sein Rat falsch ist, und wegen des allgemeinen Nutzens für König und Volk, wenn sein Rat richtig ist; zweitens, damit die Menschen seine hohe Stellung bei dem König erkennen und damit die Untertanen mit dem Auge der Ehrfurcht und Achtung und Demut zu ihm emporschauen; und drittens, auf daß der Wesir, wenn er dies vom König und von den Untertanen erfährt, von ihnen fernhält, was sie verabscheuen, und ihnen erfüllt, was sie heben.' ,Ich habe nunmehr alles vernommen, was du mir über die Eigenschaften des Königs und des Wesirs und der Untertanen gesagt hast, und ich nehme es an von dir. Jetzt aber tu mir kund, was nötig ist, um die Zunge vor Lüge und Torheit, Verleumdung und Übertreibung in der Rede zu bewahren.' ,Es geziemt dem Menschen,



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daß er nur Gutes und Treffliches rede und nicht von dem spreche, was ihn nichts angeht, daß er sich der Verleumdung enthalte und nichts von dem, was er über einen Mann gehört hat, seinem Feinde hinterbringe; ferner soll er weder seinem Freunde noch seinem Feinde bei seinem Herrscher zu schaden suchen: auch soll er sich weder um den kümmern, von dem er Gutes erhofft, noch um den, dessen Unheil er fürchtet, sondern nur um Allah den Erhabenen; denn Frist es, der in Wahrheit schadet und nützt. Und er soll von niemandem Schlechtes berichten noch töricht von ihm reden, damit er nicht vor Allah die Last der Sünde auf sich nehme und nicht bei den Menschen Haß ernte. Wisse, die Rede ist wie ein Pfeil; wenn der abgeschossen ist, so kann niemand ihn zurückbringen. Er hüte sich, sein Geheimnis jemandem anzuvertrauen, der es verrät, auf daß ihm aus diesem Verrat kein Schaden erwachse, nachdem er darauf vertraut hatte, daß es geheim bliebe; ja, er soll sein Geheimnis vor seinem Freunde noch mehr verbergen als vor seinem Feinde; sieh, etwas Anvertrautes vor allen anderen Menschen bei sich zu behalten, das ist die rechte Erfüllung des Vertrauens.' ,Berichte mir von dem rechten Verhalten gegenüber den Angehörigen und den Verwandten!' ,Die Menschenkinder finden nur im rechten Verhalten Ruhe; deshalb geziemt es dem Menschen, daß er den Seinen gebe, worauf sie ein Recht haben, und seinen Brüdern, was ihnen zukommt.' ,Sag also, was ist es, das er den Seinen geben solle' ,Was er den Eltern geben soll, ist Demut, bescheidene Rede, Sanftmütigkeit, Rücksicht und Ehrfurcht. Was er aber den Brüdern geben soll, ist guter Rat, bereitwillige Hilfe durch Geld, Beistand in ihren Unternehmungen, Freude an ihrer Freude und Übersehen dessen, was sie im Irrtum gefehlt haben. Wenn sie solches durch ihn erfahren, so vergelten sie ihm



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mit dem besten Rat, den sie geben können, und geben ihr Leben für ihn dahin. Wenn du daher deinem Bruder vertrauen kannst, so verschwende deine Liebe an ihn und hilf ihm in allen seinen Angelegenheiten!' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 913. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Jüngling, der Sohn des Königs Dschali'âd, als der Wesir Schimâs die vorbenannten Fragen an ihn richtete, ihm die Antworten darauf gab. Dann fuhr der Wesir Schimâs fort: ,Ich denke, es gibt zwei Arten von Brüdern, Brüder zuverlässiger Freundschaft und Brüder der Geselligkeit. Jenen, den Brüdern zuverlässiger Freundschaft gebührt das, was du erwähnt hast; nun möchte ich dich über die anderen fragen, die Brüder der Geselligkeit.' ,Von den Brüdern der Geselligkeit erfährst du Vergnügen, freundliche Behandlung, gefällige Rede und schöne Geselligkeit; enthalte ihnen keine Freude vor, sondern gib ihnen reichlich, so wie sie dir reichlich geben; tritt ihnen entgegen, so wie sie dir entgegentreten, mit heiterem Antlitz und mit freundlichen Worten. so wird dein Leben schön sein, und deine Worte werden ihnen wohlgefallen.' ,All das haben wir nun erfahren; doch sprich mir weiter von dem Lebensunterhalt, der dem Geschöpfe vom Schöpfer bestimmt ist! Ist bei Menschen und Tieren jedem Einzelwesen Lebensunterhalt bis zu seinem Ende zuerteilte Und wenn dem so ist, was treibt den, der seinen Unterhalt sucht, Mühen auf sich zu nehmen im Streben nach etwas, von dem er weiß, daß es, wenn es ihm vorherbestimmt ist, ihm sicher zuteil wird, auch wenn er die Mühe der Sorge nicht auf sich nimmt; und daß es, wenn es ihm nicht bestimmt ist, ihm nie zufällt, mag er sich auch noch so sehr darum bemühen?



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Soll er also von dem Bemühen ablassen. sein Vertrauen auf den Herrn setzen und Leib und Seele ruhen lassen?' ,Wohl sehen wir, es ist einem jeden sein Anteil bestimmt an den Gütern der Welt, und es ist ihm eine Lebensfrist gestellt; aber zu jedem Unterhalt gibt es Mittel und Wege. Wer da sucht, würde wohl in seinem Suchen sich ausruhen können, wenn er vom Suchen abließe; dennoch muß er immer nach dem Lebensunterhalt suchen. Nun ist aber der Suchende in zwiefacher Lage: entweder er findet das Gesuchte, oder es bleibt ihm verwehrt. Wer findet, hat eine zwiefache Freude: einmal, daß er seinen Lebensunterhalt gefunden, und zweitens, daß sein Suchen einen glücklichen Ausgang genommen hat. Und der, dem es verwehrt bleibt, hat eine dreifache Befriedigung: erstens, daß er bereit ist, sein tägliches Brot zu suchen; zweitens, daß er es vermeidet, den Leuten zur Last zu fallen; und drittens, daß er frei davon ist, Tadel zu verdienen.' ,Nun sprich mir von dem Thema, wie man den Lebensunterhalt suchen soll!' ,Der Mensch soll das für erlaubt halten, was Gott ihm erlaubt hat, und das für verboten, was Allah, der Allgewaltige und Glorreiche, ihm verboten hat.'

Nachdem die beiden bis zu diesem Punkte gelangt waren, wurde die Prüfung beendet. Schimâs und alle Gelehrten, die zugegen waren, warfen sich vor dem Jüngling nieder, indem sie ihn rühmten und priesen. Sein Vater jedoch zog ihn an seine Brust, setzte ihn dann auf den Thron der Königswürde und sprach: ,Preis sei Allah dafür, daß er mich mit einem Sohne gesegnet hat, der immerdar in meinem Leben mein Augentrost sein wird!' Darauf sprach der Jüngling zu Schimâs und zu den Gelehrten, die dort zugegen waren: O Wesir, der du die geistigen Dinge beherrschest, wenn Allah mir auch nur ein klein wenig von der Wissenschaft erschlossen hat, so habe ich



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doch deine Absicht verstanden, die darin lag, daß du die Antworten gelten ließest, die ich auf deine Fragen gab, einerlei, ob ich das Rechte traf oder mich irrte; vielleicht hast du auch von meinen Irrtümern abgesehen. Nun möchte ich dich noch etwas fragen, das meine Einsicht nicht zu erfassen, meine Verstandeskraft nicht zu erreichen und meine Zunge nicht zu beschreiben vermag, da es mir dunkel ist wie klares Wasser in einem schwarzen Gefäß. Deshalb wünsche ich von dir, daß du mir erklärst, auf daß in Zukunft jemandem wie mir nichts davon so unklar bleibe, wie es in der Vergangenheit war; denn wie Allah das Leben durch den Samen, die Kraft durch die Nahrung und die Heilung des Kranken durch die Geschicklichkeit des Arztes entstehen läßt, so läßt er die Heilung des Unwissenden durch das Wissen des Weisen entstehen. Drum leih meinem Worte dein Ohr!' Schimâs erwiderte: ,O du, so licht an Verstand, du Meister in Fragen der Wahrheit, dem alle Gelehrten den Vorrang zuerkannt haben, der du die Dinge so schön zergliedern und einteilen kannst und in deinen Antworten auf die Fragen, die ich an dich gerichtet, das Rechte getroffen hast, du weißt, daß du mich nach nichts fragen kannst, für dessen Deutung du nicht eine bessere Einsicht hättest und wahrere Worte fändest; denn Allah hat dir an Wissen verliehen, was er noch nie einem anderen Menschen verliehen hat. Doch tu mir diese Dinge kund, nach denen du mich fragen willst!' Da sprach der Prinz:, Sage mir, woraus der Schöpfer, dessen Allmacht hochherrlich ist, die Schöpfung erschaffen hat, da vorher doch nichts vorhanden war und da in dieser Welt sich nichts findet, das nicht aus etwas erschaffen ist! Der Schöpfer, der Gesegnete und Erhabene, ist wohl imstande, die Dinge aus dem Nichts zu erschaffen; aber Sein Wille hat bestimmt, daß er trotz der Vollkommenheit Seiner Allmacht und



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Größe nichts erschuf, es sei denn aus etwas.' Der Wesir Schimâs erwiderte: ,Was die angeht, die Gefäße aus Töpferton anfertigen, und ebenso die anderen Handwerker, so können sie nur ein Ding aus einem anderen erschaffen, da sie selbst erschaffene Wesen sind. Was aber den Schöpfer betrifft, der die Welt so wunderbar kunstvoll erschuf, so mußt du, wenn du die Allmacht des Gesegneten und Erhabenen zur Erschaffung der Dinge erkennen willst, deine Gedanken auf die verschiedenen Arten des Geschaffenen ausdehnen. Dann wirst du Zeichen und Merkmale für die Vollkommenheit Seiner Allmacht finden, die zugleich beweisen, daß Er imstande ist, die Dinge aus dem Nichts zu erschaffen; ja, Er hat sie sogar aus dem absoluten Nichts ins Dasein gerufen, da die Elemente, das heißt der Stoff der Dinge, ein absolutes Nichts waren. Ich will dir dies so klarlegen, daß du nicht im Zweifel darüber sein kannst; die Wunderzeichen von Nacht und Tag werden dir das begreiflich machen. Die beiden folgen aufeinander, so daß, wenn der Tag geschwunden ist und die Nacht kommt, der Tag für uns verborgen ist und wir nicht wissen, wo er weilt; und wenn die Nacht mit ihrem Dunkel und Grauen gewichen ist, so kommt der Tag, und wir wissen nicht, wo die Nacht weilt. Wenn die Sonne über uns aufgeht, so wissen wir nicht, wo ihr Licht zusammengefaltet war; und wenn sie untergeht, so wissen wir nicht die Stätte, in die sie verschwindet. Und solcher Beispiele aus den Werken des Schöpfers, dessen Namen gewaltig und dessen Allmacht hochherrlich ist, gibt es viele, durch die selbst das Denken der Scharfsinnigen unter den Geschöpfen ratlos wird.' Der Prinz fuhr fort: ,O Weiser, du hast mir von der Allmacht des Schöpfers das kundgetan, was sich nicht bestreiten läßt. Doch sage mir nun, wie er seine Schöpfung ins Dasein rief!' Schimâs gab zur Antwort: ,Die Welt ist nur geschaffen



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durch Sein Wort, das vor der Zeit existierte und durch das alle Dinge geschaffen sind.' Da sagte der Prinz: ,Allah, dessen Name allgewaltig und dessen Macht hocherhaben ist, hat also die Welt ins Dasein rufen wollen, ehe sie existierte.' Und Schimâs fuhr fort: ,Und mit Seinem Willen hat Er sie durch Sein Wort erschaffen; hätte Er nicht gesprochen und das Wort offenbart, so würde die Schöpfung nicht existieren.' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 914. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Schimâs, als der Prinz ihm die vorbenannten Fragen stellte, sie ihm beantwortete; dann fuhr er fort: ,Mein lieber Sohn, keiner der Menschen wird dir etwas anderes kundtun, als was ich gesagt habe, es sei denn, daß er die Worte, die im heiligen Gesetze überliefert sind, falsch auslegt und den Wahrheiten ihren rechten Sinn nimmt. Dazu gehört es zum Beispiel, wenn jemand sagt, daß dem Worte eine eigne Kraft innewohne - ich nehme meine Zuflucht zu Gott vor einem solchen Glauben! Nein, meine Worte in betreff Allahs, des Allgewaltigen und Glorreichen, daß er die Schöpfung durch Sein Wort erschaffen habe, bedeuten, daß der Erhabene eins ist in Seinem Wesen und Seinen Attributen, und sie bedeuten nicht, daß dem Worte Allahs eine eigene Kraft innewohne. Im Gegenteil, die Kraft ist eines der Attribute Allahs. wie auch das Wort und die andren Attribute der Vollkommenheit Attribute sind für Allah, der da erhaben ist in seiner Macht und allgewaltig in seiner Herrscherpracht. Er ist ohne Sein Wort nicht zu denken, und Sein Wort ist nicht zu denken ohne Ihn. Allah, dessen Ruhm hochherrlich ist, erschuf durch Sein Wort Seine ganze Schöpfung, und ohne Sein Wort erschuf er nichts. Er schuf die Dinge durch Sein Wort,



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das die Wahrheit ist, und durch die Wahrheit sind wir erschaffen.' Da sagte der Prinz: ,Ich verstehe, was du über den Schöpfer und die Macht Seines Wortes sagst, und ich nehme das mit Verständnis von dir an. Doch ich hörte dich sagen, daß Er die Schöpfung nur erschuf durch Sein Wort, das die Wahrheit ist. Nun ist die Wahrheit das Gegenteil des Falschen. Aber von wo aus ist die Falschheit in Erscheinung getreten, und wie konnte sie sich der Wahrheit entgegenstellen, so daß sie ihr ähnlich ward und den Geschöpfen zweifelhaft, und daß sie nun zwischen den beiden unterscheiden müssen? Und liebt der Schöpfer, der Allgewaltige und Glorreiche, die Falschheit, oder haßt Er sie? Wenn du sagst, daß Er die Wahrheit liebt und durch sie Seine Schöpfung erschaffen hat und die Falschheit haßt, woher konnte denn dies, was der Schöpfer haßt, eindringen in das, was Er liebt, das heißt in die Wahrheit?' Darauf erwiderte Schimâs: ,Als Gott den Menschen durch die Wahrheit erschaffen hatte, war dieser nicht eher der Reue bedürftig, als bis die Falschheit in die Wahrheit eindrang, durch die er geschaffen war, und zwar infolge der Fähigkeit, die Gott in den Menschen gelegt hatte, nämlich des Willens und der Neigung, die man Gewinnsucht heißt. Nachdem also die Falschheit in die Wahrheit auf diese Weise eingedrungen war, ward das Falsche mit dem Wahren vermischt, und zwar durch den Willen des Menschen und seine Fähigkeit und die Gewinnsucht, die auf seiner freien Wahl beruhen, zugleich auch auf der Schwäche der menschlichen Natur. Daher erschuf Gott für ihn die Reue, damit sie ihn von jenem Falschen fernhalte und ihn inder Wahrheit festige; doch Er schuf auch für ihn die Strafe, wenn er im Dunkel der Falschheit beharren sollte.' Weiter fragte der Prinz: ,Sage mir nun, weshalb ist diese Falschheit der Wahrheit entgegengetreten, so daß sie mit ihr



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verwechselt wurde, und wie konnte die Strafe für den Menschen nötig werden, so daß er der Reue bedurfte?' Schimâs antwortete: ,Als Gott den Menschen durch die Wahrheit erschuf, machte Er ihn so, daß er sie liebte, und es gab für ihn weder Strafe noch Reue; und er blieb so, bis Gott ihn mit der Seele versah, die zum vollkommenen Wesen des Menschen gehört, wiewohl sie von Natur auch die Neigung zu den Lüsten hat. Daraus entsprang das Aufkommen der Falschheit und ihre Vermischung mit der Wahrheit, durch die der Mensch geschaffen und die zu lieben ihm von Natur bestimmt war. Als aber der Mensch so weit gekommen war, wandte er sich im Ungehorsam von der Wahrheit ab; und wer sich von der Wahrheit abwendet, gerät nur in die Falschheit hinein.' Darauf sagte der Prinz: ,So drang denn die Falschheit in die Wahrheit nur infolge des Ungehorsams und der Widersetzlichkeit?' ,So ist es,' erwiderte Schimâs, ,denn Gott liebt den Menschen, und wegen Seiner großen Liebe zu ihm schuf Er den Menschen so, daß er Seiner bedurfte, das heißt eben der Wahrheit selbst. Aber oftmals wird der Mensch lässig hierin wegen der Neigung seiner Seele zu den Lüsten; und er wendet sich dann zum Widerspruch. So fällt er durch den Ungehorsam, mit dem er sich seinem Herrn widersetzte, jener Falschheit anheim und verdient die Strafe. Aber wenn er die Falschheit von sich fernhält durch seine Reue und seine Rückkehr zur Liebe der Wahrheit, so verdient er sich den künftigen Lohn.' Und weiter sprach der Prinz: ,Erzähle mir nun von dem Ursprung der Widersetzlichkeit, da doch die ganze Menschheit so weit zurückgeführt werden kann, bis daß sie von Adam abstammt; den aber hat Gott durch die Wahrheit geschaffen. Wie konnte er da den Ungehorsam an sich ziehen, so daß seinem Ungehorsam sich die Reue verband, nachdem die Seele in ihn gelegt



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war, und sein Ausgang Lohn oder Strafe wurde? Wir sehen, daß einige Menschen in der Widersetzlichkeit beharren, indem sie sich dem zuneigen, was Er nicht liebt, und dem ursprünglichen Zweck ihrer Erschaffung, das heißt der Liebe zur Wahrheit, zuwiderhandeln und sich den Zorn ihres Schöpfers zuziehen. Andere aber sehen wir, wie sie in dem, was ihrem Schöpfer wohlgefällt, und in dem Gehorsam gegen Ihn beharren und sich Gnade und künftigen Lohn verdienen. Was ist der Grund für den Unterschied, der zwischen ihnen besteht?' Schimâs gab zur Antwort: ,Der Ursprung des Auftretens dieses Ungehorsams in der Menschheit ist nur bei dem Teufel zu suchen; er war zuerst der Vornehmste unter allen Engeln und Menschen und Geistern, die Allah, dessen Name hochherrlich ist, geschaffen hatte, und er war von Natur zur Liebe geschaffen, so daß er nichts anderes kannte als sie. Doch weil er hierin einzigartig war, drangen in ihn Stolz und Dünkel, Anmaßung und Überhebung wider die Treue und den Gehorsam gegen seinen Schöpfer; deshalb erniedrigte Allah ilm unter alle Geschöpfe und schloß ihn von der Liebe aus, und jener bereitete sich selber eine Stätte im Ungehorsam. Als er nun erkannte, daß Allah, dessen Name hochherrlich ist, den Ungehorsam nicht liebt, und zugleich sah, wie Adam in der Wahrheit und der Liebe und im Gehorsam gegen seinen Schöpfer beharrte, drang der Neid in ihn, und er ersann eine List, um Adam von der Wahrheit abzuwenden, auf daß der mit ihm an der Falschheit teilnahme. So erwirkte denn Adam die Strafe. weil er sich zum Ungehorsam neigte, den sein Feind ihm so schön darstellte, und sich von seiner Lust beherrschen ließ, so daß erdem Befehle seines Herrn zuwiderhandelte und die Falschheit sich erheben konnte. Als darauf der Schöpfer, dessen Preis hochherrlich ist und dessen Namen geheiligt sind, die Schwäche



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des Menschen erkannte und sah, daß er sich rasch seinem Feinde zuneigte und die Wahrheit verließ, da schuf Er für ihn in seiner Barmherzigkeit die Reue, auf daß er sich durch sie aus dem Abgrunde der Neigung zum Ungehorsam erhöbe und die Rüstung der Reue anlege, um durch sie seinen Feind, den Teufel und dessen Heerscharen zu überwinden und zur Wahrheit zurückzukehren, die ihm von Natur bestimmt war. Doch wie der Teufel sah, daß Allah, dessen Preis hochherrlich ist und dessen Namen geheiligt sind, ihm eine ferne Grenze festgesetzt hatte, eilte er, den Menschen zu befehden, und berannte ihn mit Listen, um ihn aus der Gunst seines Herrn zu verdrängen und ihn zum Genossen zu machen in dem Zorn, den er und seine Heerscharen verdient hatten. Deshalb gab Allah, dessen Preis hochherrlich ist, dem Menschen die Fähigkeit zur Reue und gebot ihm, an der Wahrheit festzuhalten und in ihr auszuharren; doch Er verbot ihm den Ungehorsam und die Widersetzlichkeit und offenbarte ihm, daß er auf Erden einen Feind habe, der da Krieg führe und weder bei Tage noch bei Nacht von ihm abließe. So hat denn der Mensch ein Anrecht auf künftigen Lohn, wenn er an der Wahrheit festhält, die zu lieben seine Natur geschaffen ward; doch er zieht sich Strafe zu, wenn seine Seele über ihn herrscht und ihn den Lüsten geneigt macht.' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 915. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Prinz, nachdem er an Schimâs die vorbenannten Fragen gerichtet und dieser sie ihm beantwortet hatte, des weiteren sprach: ,Sage mir, durch welche Kraft sind die Menschen fähig, sich ihrem Schöpfer zu widersetzen, da Er doch unbegrenzte Allmacht hat, wie du



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schon gesagt hast, und da nichts Ihn überwinden und von Seinem Willen abbringen kann? Glaubst du nicht, daß Er imstande wäre, Seine Geschöpfe von diesem Ungehorsam abzuwenden und sie dauernd bei der Liebe festzuhalten?' Schimâs antwortete: ,Sieh, Allah der Erhabene, dessen Name hochherrlich ist, übt Recht und Gerechtigkeit und Milde gegen das Volk Seiner Liebe; Er offenbarte ihnen den Weg zum Guten und schenkte ihnen die Fähigkeit und die Kraft, das Gute zu tun, das sie wollen. Wenn sie aber dem zuwiderhandeln, so verfallen sie dem Untergang und dem Ungehorsam.' ,Wenn der Schöpfer es war, der ihnen die Fähigkeit schenkte und sie deshalb imstande sind, zu tun, was sie wollen, weshalb tritt Er da nicht zwischen sie und das, was sie an Bösem begehren, so daß Er sie zur Wahrheit zurückführt?' ,Das geschieht wegen Seiner großen Barmherzigkeit und Seiner herrlichen Weisheit; denn wie Er zuvor gegen den Teufel ergrimmte und sich seiner nicht erbarmte, so gab Er einst Adam das Gnadengeschenk der Reue und hatte Wohlgefallen an ihm, nachdem Er wider ihn ergrimmt gewesen war.' ,Dies ist in der Tat die volle Wahrheit; denn Er ist es, der einem jeden nach seinem Tun vergilt, und es gibt keinen Schöpfer außer Allah, der da Macht hat über alle Dinge. Hat Allah nun erschaffen, was Er liebt und was Er nicht liebt, oder hat Er nur erschaffen, was Er liebt, und nichts anderes?' ,Er hat alle Dinge geschaffen, doch Er hat nur an dem Wohlgefallen, das Er liebt.' ,Wie steht es aber mit diesen beiden Dingen, von denen das eine vor Gott wohlgefällig ist und dem, der es übt, künftigen Lohn einträgt, während das andere Gott erzürnt und dem, der es tut, Strafe erwirkt.' ,Erkläre mir diese beiden Dinge und mache sie mir begreiflich, auf daß ich über ihr Wesen sprechen kann!' ,Die beiden sind das Gute und das Böse, die in Leib und Seele vereint sind.' ,O verständiger



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Jüngling, ich sehe, du weißt, daß das Gute und das Böse zu den Werken gehören, die der Leib und die Seele begehen. Das Gute von den beiden wird gut genannt, weil es vor Gott wohlgefällig ist; und das Böse heißt das Böse, weil es das ist, worauf Gottes Zorn ruht. Es geziemt dir, daß du Gott kennst und Sein Wohlgefallen erregst durch das Tun des Guten; denn das hat Er uns geboten, doch Er hat uns verboten, das Böse zu tun.' ,Ich sehe, daß diese beiden Dinge, das Gute und das Böse, nur von den fünf Sinnen ausgeführt werden, wie sie im Leibe des Menschen bekannt sind und wie sie das Empfindungsleben darstellen, von dem Rede, Gehör, Gesicht. Geruch und Gefühl ausgehen. Nun möchte ich, daß du mir kundtust, ob diese fünf Sinne zusammen für das Gute oder für das Böse geschaffen sind.' ,Vernimm, o Mensch, die Erklärung dessen, nach dem du gefragt hast; sie ist ein klarer Beweis, drum bewahre sie in deinem Denken und laß sie dein Herz durchdringen! Es ist aber diese: Gott, der Gesegnete und Erhabene, schuf den Menschen durch die Wahrheit und erfüllte seine Natur mit der Liebe zu ihr, und kein erschaffenes Wesen geht aus ihr hervor, es sei denn durch die Macht des Höchsten, die sich in allem Geschehen ausprägt. Und von Ihm, dem Gesegneten und Erhabenen, kann nichts anderes ausgesagt werden, als daß Er in Gerechtigkeit und Recht und Güte richtet. Er hat den Menschen zur Liebe geschaffen und die Seele in ihn gelegt, deren Natur zu den Lüsten hinneigt, und ihm die Fähigkeit gegeben und ihm diese fünf Sinne verliehen, die ihn zum Paradies oder zur Hölle ziehen.' ,Wie ist das?' ,Er schuf die Zunge zum Sprechen, die Hände zum Arbeiten, die Füße zum Gehen, die Augen zum Sehen und die Ohren zum Hören; und Er verlieh einem jeden dieser fünf Sinne eine Fähigkeit und veranlaßte sie zu Tätigkeit und Bewegung, indem Er einem jeden gebot, nur das zu



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tun, was Ihm wohlgefällt. Was Ihm aber an der Rede wohlgefällt, ist die Wahrhaftigkeit und das Meiden ihres Gegenteils, nämlich der Lüge. Was Ihm am Auge wohlgefällt, ist der Blick auf das, was Gott liebt, und das Meiden seines Gegenteils, nämlich des Hinwendens der Blicke auf das, was Gott verabscheut, wie zum Beispiel den Blick auf die Lüste. Was Ihm am Gehör wohlgefällt, ist dies, daß es nur auf die Wahrheit horcht, wie die Ermahnung und das, was in den Schriften Allahs steht, und daß es das Gegenteil davon meidet, das heißt nicht auf solches hört, was Gottes Zorn herbeiführt. Was Ihm an den Händen wohlgefällt, ist dies, daß sie nicht bei sich behalten, was Er ihnen geschenkt hat, sondern es so ausgeben, wie es Ihm lieb ist, und daß sie das Gegenteil davon meiden, das heißt den Geiz oder die Verschwendung der Gaben Gottes in Ungehorsam. Und was Ihm an den Füßen gefällt, ist ihr Wandel im Guten, wie zum Beispiel in der Suche nach Belehrung, und das Meiden seines Gegenteils, nämlich des Wandels auf anderen Wegen als denen Gottes. Was nun die übrigen Lüste betrifft, die der Mensch übt, so entspringen sie dem Leibe auf Befehl der Seele. Und die Lust, die aus dem Leibe hervorgeht, ist von zweierlei Art: die Lust der Zeugung und die Lust des Bauches. Was Gott an der Lust zur Zeugung wohlgefällt, ist dies, daß sie sich nur an das Erlaubte hält, und es erregt Seinen Zorn, wenn sie dem Unerlaubten sich hingibt. Die Lust des Bauches besteht in Essen und Trinken: und was Gott an ihr gefällt, ist dies, daß ein jeder davon nur das nimmt, was Allah ihm gewährt hat, sei es wenig oder viel, und daß er Allah lobt und preist; was aber an ihr Gottes Zorn erregt, ist dies, daß der Mensch nimmt, was ihm Rechtens nicht zukommt. Alle anderen Ansichten hierüber sind falsch: du weißt. daß Gott alle Dinge erschaffen hat, aber nur am Guten Wohlgefallen



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hat, und daß Er einem jeden von den Gliedern des Leibes befohlen hat, das zu tun, was Er ihm zur Pflicht gemacht hat, denn Er ist der Allwissende, der Allweise.' ,War es Allah, dessen Macht hochherrlich ist, im voraus bekannt, daß Adam von dem Baume essen würde, den Er ihm verboten hatte, so daß mit ihm geschah, was geschehen ist, und er sich dadurch vom Gehorsam zum Ungehorsam wandte?' ,Ja, du weiser Jüngling, das war Allah dein Erhabenen im voraus bekannt, ehe er Adam erschuf; und der Beweis und das Zeichen dafür ist dies, daß Er ihn vorher warnte, von dem Baume zu essen, und ihm kundtat, er würde ein Sünder sein, wenn er davon äße; dies geschah aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit, damit Adam keine Entschuldigung hätte, um sich durch sie vor seinem Herrn rein zu waschen. Als er aber in den Abgrund der Sünde gestürzt war und Schmach und Tadel schwer auf ihm lasteten, ging das alles in der Folgezeit auf seine Nachkommen über. Deshalb schickte Allah der Erhabene die Propheten und die Gesandten und gab ihnen Schriften; und sie lehrten uns die göttlichen Gebote und erklärten uns, was darin an Ermahnungen und Vorschriften enthalten ist, ja, sie zeigten uns klar und deutlich den Weg, der zum Ziele führt, und erklärten uns, was uns zu tun geziemt und was wir unterlassen müssen. Wir aber sind Herren des freien Willens; und wer innerhalb dieser Grenzen handelt, erreicht sein Ziel und hat Gewinn; wer aber diese Grenzen überschreitet und diesen Geboten zuwiderhandelt, der ist ungehorsam und erleidet Schaden in dieser und der nächsten Welt. Dies also ist der Pfad des Guten und des Bösen. Du weißt, daß Allah mächtig ist über alle Dinge und daß Er die Triebe in uns mit Seinem Willen und Wohlgefallen geschaffen hat, indem Er uns befahl, sie nur in erlaubter Weise walten zu lassen, auf daß sie uns zum Guten



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dienen; denn wenn wir sie in unerlaubter Weise gebrauchen, so dienen sie uns zum Bösen. Alles Gute, was uns trifft, kommt von Allah dem Erhabenen; doch alles Böse, was uns widerfährt, stammt von uns selber, der Schar der geschaffenen Wesen, nicht von dem Schöpfer, — darüber ist Allah weit und hoch erhaben!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 916. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Jüngling, der Sohn des Königs Dschali'âd, als er dem Wesir Schimâs diese Fragen vorgelegt und der sie ihm beantwortet hatte, des weiteren zu ihm sprach: ,Deine Beschreibung dessen, was man von Allah dem Erhabenen annehmen und was man Seinen Geschöpfen zuschreiben soll, habe ich verstanden. Doch gib mir noch über eine andere Sache Bescheid, die meinen Verstand in ratloses Staunen versetzt; denn ich wundere mich über die Menschenkinder, die so gar nicht an die künftige Welt denken und es unterlassen, von ihr zu sprechen, und nur diese Welt lieben, wiewohl sie wissen, daß sie von ihr scheiden und elend aus ihr fortziehen müssen.' ,Ja, wahrlich; und wenn du siehst, daß sie dem Wechsel unterworfen ist und treulos an ihren Kindern handelt, so ist das ein Beweis dafür, daß dem Glücklichen sein Glück nicht dauernd hold ist und dem Unglücklichen das Unglück nicht ewig währt. Niemand in ihr ist sicher vor ihrem Wechsel, und auch wenn einer Macht über sie hat und sich in ihr zufrieden fühlt, so muß dennoch sein Zustand sich wandeln, und der Abschied von ihr muß ihm bald nahen. Deshalb kann der Mensch kein Vertrauen auf sie setzen, noch kann der Flittertand, den sie ihm bietet, ihm von wahrem Nutzen sein. Da wir aber dies wissen, so wissen wir auch, daß es dem unter



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den Menschen am schlechtesten ergeht, der sich von ihr täuschen läßt und das Jenseits vergißt; denn jenes Glück, das er genossen hat, wiegt nicht die Furcht und die Drangsal und die Schrecken auf, die ihm nach seinem Scheiden aus ihr zuteil werden. Und ferner wissen wir, daß der Mensch, wenn er ahnte, was ihm bevorsteht, sobald der Tod naht und ihn trennt von den Wonnen und Freuden, in denen er weilt, sicherlich die Welt mit allem, was in ihr ist, von sich werfen würde; und wir sind dessen gewiß, daß die künftige Welt besser und nützlicher für uns ist.' ,O Weiser,' sagte darauf der Prinz, ,jetzt ist das Dunkel gewichen, das auf meinem Herzen lag, durch das helle Licht deiner Leuchte; du hast mich auf die Wege gewiesen, die ich wandeln muß, um der Wahrheit zu folgen, und du hast mir eine Leuchte gegeben, durch deren Licht ich sehen kann.' Da erhob sich einer von den Weisen, die zugegen waren, und sprach: ,Wenn die Frühlingszeit kommt, so muß der Hase sowohl wie der Elefant eine Weide suchen. Ich habe von euch beiden Dinge vernommen an Fragen und Erklärungen, die ich noch nie in meinem Leben gehört habe; und das veranlaßt mich dazu, euch nach etwas zu fragen. So tut mir denn kund: welche ist die beste von den Gaben dieser Welt?' Der Prinz erwiderte: ,Die Gesundheit des Leibes, rechtmäßig Brot und ein rechtschaffener Sohn.' ,Nun sagt mir, was ist das Größere und was das Kleinere?' ,Das Größere ist das, dem sich ein Kleineres fügt, und das Kleinere das, was sich einem Größeren fügt.' ,Sagt mir ferner, welches sind die vier Dinge, in denen sich alle Geschöpfe gleich sind?' ,Die Geschöpfe sind sich gleich in Speise und Trank, in der Süße des Schlafs, in der Begierde nach dem Weibe und im Todeskampf.' ,Welches sind die drei Dinge, deren Häßlichkeit niemand beseitigen kann?' ,Dummheit, Gemeinheit der Natur und Lüge.' ,Welche Lüge ist die



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beste, wiewohl eine jede an sich gemein ist?' ,Die Lüge, die den, der sie ausspricht, vor Schaden bewahrt und ihm Nutzen einbringt.' ,Welche Wahrheit ist häßlich, obgleich eine jede an sich schön ist?' ,Die selbstgefällige Eitelkeit des Menschen auf das, was er besitzt.' ,Und was ist das Häßlichste des Häßlichen?' ,Wenn der Mensch auf das stolz ist, was er nicht besitzt.' ,Welcher Mann ist der dümmste?' ,Wer an nichts anderes denkt als an das, was er sich in den Bauch stecken kann.' Nun aber sprach Schimâs: ,O König, du bist unser Herrscher; doch wir wünschen, daß du das Königreich nach dir deinem Sohne vermachst; wir sind die Diener und Untertanen.' Darauf ermahnte der König die Gelehrten und alle anderen, die zugegen waren, das im Gedächtnis zu bewahren, was sie von ihm gehört hatten, und danach zu handeln; und er befahl ihnen, dem Gebot seines Sohnes zu gehorchen, da er ihn zu seinem Thronfolger nach ihm gemacht habe, auf daß er an seines Vaters Statt über das Reich herrsche. Allem Volke seines Reiches, den Kriegern und den Weisen, den Jungen und den Greisen und allen übrigen Menschen nahm er einen Eid ab, daß sie sich ihm nicht widersetzen und seinem Befehle nicht ungehorsam sein wollten.

Als der Prinz siebenzehn Jahre alt geworden war, ward der König von einer schweren Krankheit heimgesucht, so daß er dem Tode nahe kam. Und da der König gewiß wußte, daß der Tod bei ihm eingekehrt war, sprach er zu den Seinen: ,Dies ist die Todeskrankheit, die mich befallen hat: drum beruft meine Anverwandten und meinen Sohn und versammelt um mich alles Volk meines Reiches, keiner von ihnen bleibe zurück, alle sollen zugegen sein!' Da gingen sie hinaus und verkündeten es denen, die nahe waren, und ließen es denen, die fern waren, durch eine Botschaft kundtun, bis daß alle kamen



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und zum König eintraten. Darauf sprachen sie zu ihm: ,Wie geht es dir, o König? Und was hältst du von dieser Krankheit für dich?' Der König erwiderte ihnen: ,Diese meine Krankheit ist die, in der das Verhängnis liegt; der Pfeil des Todes hat erfüllt, was Allah der Erhabene über mich beschlossen hat; dies ist der letzte meiner Tage in dieser Welt und der erste meiner Tage in jener Weit.' Dann sprach er zu seinem Sohne: ,Tritt nahe heran zu mir!' So trat der Jüngling denn an ihn heran, indem er so bitterlich weinte, daß seine Tränen fast das Bett überströmten; doch auch dem König traten die Zähren in die Augen, und es weinten alle, die zugegen waren. Darauf sprach der König zu seinem Sohne: ,Weine nicht, mein Sohn; ich bin nicht der erste, dem dies Unvermeidliche widerfahren ist, nein, es muß allen zuteil werden, die Allah erschaffen hat. Fürchte Gott und tu Gutes, das dir voraneilt zu der Stätte, die das Ziel aller Geschöpfe ist! Gehorche der Lust nicht, beschäftige deine Seele damit, den Namen Gottes anzurufen, wenn du dich erhebst und wenn du dich setzest, wenn du aufwachst und wenn du einschläfst! Mache die Wahrheit zum Merkzeichen für dein Auge! Dies ist mein letztes Wort an dich; und damit Gott befohlen!' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 917. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß damals, als König Dschali'âd seinem Sohne diese Ermahnungen vorgehalten und ihm für die Zeit nach seinem Tode das Reich übergeben hatte, der Prinz seinem Vater antwortete: ,Du weißt, lieber Vater, daß ich dir immer gehorsam gewesen bin, deine Ermahnungen beobachtet, deine Befehle erfüllt und nur dein Wohlgefallen erstrebt habe; denn du bist mir der beste Vater gewesen.



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Wie sollte ich nach deinem Tode von dem abweichen, was dir wohlgefällig ist? Jetzt nun, nachdem du mich so trefflich hast erziehen lassen, willst du von mir gehen, und ich habe keine Macht, dich zu mir zurückzubringen. Doch wenn ich deiner Ermahnungen eingedenk bleibe, werde ich durch sie glücklich sein, und das schönste Los wird mir zuteil werden.' Der König, der schon fast in den letzten Todeszuckungen lag, sprach darauf: ,Mein lieber Sohn, halt fest an zehn Geboten, deren Erfüllung dir vor Gott in dieser und in jener Welt Segen bringen wird! Und sie lauten: ,Wenn du zornig bist, so zügle deinen Zorn; wirst du von Leid heimgesucht, so sei standhaft; wenn du redest, so sage die Wahrheit; wenn du versprichst, so erfülle; wenn du richtest, so sei gerecht; wenn du Macht hast, so vergib; sei gütig gegen deine Beamten; verzeih deinen Feinden; überhäufe deinen Gegner mit Huld; füge ihm keinen Schaden zu! Und ferner halt fest an zehn anderen Geboten. durch die Allah dir unter dem Volke deines Reiches Nutzen verleihen wird; es sind diese: Wenn du teilst, sei gerecht; wenn du strafst, sei nicht grausam; wenn du dich verpflichtest, so erfülle deine Verpflichtung; nimm guten Rat an; laß Verstocktheit fern von dir sein; schärfe den Untertanen ein, sich an die göttlichen Gesetze und die löblichen Überlieferungen zu halten; richte gerecht unter den Menschen, auf daß hoch und niedrig dich lieben, die Übermütigen und Missetäter unter ihnen dich fürchten!' Dann sprach er zu den Gelehrten und Emiren, die als Zeugen zugegen waren, als er seinen Sohn zu seinem Nachfolger in der Herrschaft einsetzte: ,Hütet euch, dem Befehle eures Königs zuwider zu handeln und den Gehorsam gegen euren Herrscher zu versäumen; denn das führt zum Untergang eures Landes, zur Trennung eurer Gemeinschaft, zum Schaden für euren Leib und zum Verlust eures Besitzes. worüber



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eure Feinde frohlocken würden! Seht, ihr wisset doch, was ihr mir gelobt habt, und so sei auch euer Gelöbnis diesem Jüngling gegenüber; und der Bund zwischen mir und euch walte auch zwischen euch und ihm! Drum ist es eure Pflicht, auf seinen Befehl zu hören und ihm zu gehorchen; denn darin liegt euer Wohlergehen. Haltet fest an ihm, wie ihr an mir getan habt; dann wird es gut stehen um eure Sache, und alles wird euch gedeihen! Seht, dort ist euer Herr und der Sachwalter eures Glückes, und damit Gott befohlen!' Darauf kam der Todeskampf mit solcher Gewalt über ihn, daß seine Zunge stockte; er drückte seinen Sohn ans Herz und küßte ihn und pries Allah. Dann verschied er und gab seinen Geist auf. Alle seine Untertanen, das ganze Volk seines Reiches, beweinten ihn; und er ward ins Leichentuch gehüllt und mit Ehren und feierlicher Pracht zur letzten Ruhestatt gebracht. Darauf kehrte das Volk mit dem Jüngling zurück; und man legte ihm die königlichen Gewänder an, setzte ihm die Krone seines Vaters aufs Haupt, schob den Siegelring auf seinen Finger und setzte ihn auf den Thron der Herrschaft. Nun wandelte der Jüngling unter ihnen nach der Weise seines Vaters in Milde und Gerechtigkeit und Wohlwollen, doch nur eine kleine Weile. Da trat ihm die Welt in den Weg und erfüllte mit ihren Lüsten seinen Sinn, und er gab sich ihren Wonnen hin; er hängte sich an ihren Flittertand und vergaß die Pflichten, die ihm sein Vater auferlegt hatte, er achtete nicht des Gehorsams gegen den Vater und vernachlässigte sein Reich, und so ging er einen Weg, auf dem sein eigenes Verderben lag. Stark ward in ihm die Liebe zu den Frauen, und er konnte von keiner schönen Maid hören, ohne daß er nach ihr sandte und sich mit ihr vermählte; und bald brachte er eine größere Zahl von Frauen zusammen, als je Salomo, Davids Sohn, der König der Kinder



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Israel, sie gehabt hatte.' Und er begann sich abzuschließen, jedesmal mit einer anderen Schar von ihnen, und dann mit denen, die bei ihm waren, einen ganzen Monat zu verbringen, indem er sie nie verließ; dabei kümmerte er sich nicht um sein Reich und seine Herrschaft, achtete nicht auf die Beschwerden seiner Untertanen, die vor ihm Klage führen wollten, und wenn sie ihm schrieben, so gab er ihnen keine Antwort. Als sie nun das an ihm sehen mußten und gewahrten, wie er es ganz und gar unterließ, in ihre Angelegenheiten Einsicht zu nehmen, und wie er alles vernachlässigte, was sein Reich und seine Untertanen anging, da waren sie gewiß, daß bald das Unheil über sie hereinbrechen würde; und das bereitete ihnen Kummer. So kamen sie denn zusammen, um miteinander zu klagen, und einer sagte zum anderen: ,Kommt, laßt uns zu Schimâs gehen, dem obersten seiner Wesire, und ihm unsere Sache darlegen und ihm kundtun, wie es mit diesem König steht, auf daß er ihn ermahne! Sonst wird binnen kurzer Zeit das Unheil über uns kommen; denn die Welt hat diesen König durch ihre Wonnen geblendet und mit ihren Stricken an sich gezogen.' Alsdann machten sie sich auf und begaben sich zu Schimâs und sprachen zu ihm: ,O du gelehrter und weiser Mann, die Welt hat diesen König durch ihre Wonnen geblendet und mit ihren Stricken an sich gezogen; er hat sich der Torheit zugewendet, und sein Tun dient seinem Reiche zum Verderben. Wenn aber das Reich zugrunde geht, so geht auch das Gemeinwesen zugrunde, und wir geraten ins Verderben. Dies liegt daran, daß wir ihn tagelang und monatelang nicht sehen, und daß von ihm kein Befehl zu uns ergeht weder für



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den Wesir noch für jemand anders. Daher ist es unmöglich, daß ihm ein Anliegen vorgetragen wird, er kümmert sich nicht um die Rechtsprechung, noch sorgt er für irgendeinen von seinen Untertanen; so wenig nimmt er sich ihrer an. Deshalb sind wir zu dir gekommen, um dir die Wahrheit der Dinge kundzutun; denn du bist der Erste und Vornehmste unter uns. Es geziemt sich nicht, daß ein Unglück über ein Land komme, in dem du weilst; denn du hast von allen am meisten Macht, den König zu bessern. Drum geh hin und sprich mit ihm; vielleicht wird er deine Worte annehmen und wieder zu Gott zurückkehren!' Da machte Schimâs sich auf und begab sich dorthin, wo er jemanden traf, durch den er Zugang zum König zu erlangen hoffte; zu dem sprach er: ,Guter Knabe, ich bitte dich, erwirke mir die Erlaubnis, zum König einzutreten; denn ich habe eine Sache, die ich ihm von Angesicht zu Angesicht vortragen möchte, um zu hören, was er mir selbst darauf erwidert.' Doch der Sklave antwortete ihm: ,Bei Allah, Herr, seit einem Monat hat er niemandem erlaubt, zu ihm einzutreten; auch ich habe in dieser ganzen Zeit sein Antlitz nie gesehen. Aber ich will dich zu jemand führen, der ihn für dich um Erlaubnis bitten kann; halt dich an denundden Sklaven, der zu seinen Häupten zu stehen pflegt und ihm die Speisen aus der Küche holt! Wenn er herauskommt und zur Küche geht, um das Essen zu holen, so erbitte von ihm, was dir beliebt; er wird dir deinen Wunsch erfüllen!' Darauf begab sich Schimâs zur Tür der Küche, und kaum hatte er dort eine kleine Weile gesessen, da kam auch schon der Sklave und wollte in die Küche hineingehen; Schimâs aber redete ihn an und sprach zu ihm: ,Mein lieber Sohn, ich möchte vor den König treten, um ihm etwas mitzuteilen, was ihn besonders angeht. Drum sei so gut und sprich mit ihm für mich, wenn



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er sein Mittagsmahl beendet hat und freundlicher Stimmung ist, und erwirke mir von ihm die Erlaubnis, ihm zu nahen, auf daß ich mit ihm über das reden kann, was ihn angeht!' ,Ich höre und gehorche', erwiderte der Sklave; und als er die Speisen erhalten und vor den König gebracht hatte, und als der gegessen hatte und freundlicher Laune war, sprach er zu ihm: .Schimâs steht an der Tür und erbittet von dir die Erlaubnis, zu dir eintreten zu dürfen, um dir Dinge mitzuteilen, die dich besonders angehen.' Der König erschrak und ward von Unruhe erfaßt; und er befahl dem Sklaven, den Minister zu ihm hereinzuführen. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 918. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Sklave, als der König ihm befahl, Schimâs zu ihm hereinzuführen, zu dem Wesir hinausging und ihm zurief, er möge eintreten. Wie dieser nun vor dem Herrscher stand, warf er sich anbetend vor Allah nieder, küßte dann dem König die Hände und flehte Segen auf sein Haupt herab. Da fragte der König: ,O Schimâs, was hat dich betroffen, daß du Einlaß zu mir begehrst?' Jener gab zur Antwort: ,Seit langem habe ich das Antlitz meines Herrn des Königs nicht mehr gesehen, und ich sehnte mich sehr nach dir. Nun aber schaue ich dein Angesicht, und ich bin zu dir gekommen, um dir ein Wort zu sagen, o König, der du in allem Gedeihen gefestigt sein mögest!' Der König fuhr fort: ,Sprich, was dir beliebt!' Und Schimâs hub an: ,Denke daran, o König, daß Allah der Erhabene dir in deinem jugendlichen Alter an Wissen und Weisheit so viel verliehen hat, wie er es noch keinem der Könige vor dir geschenkt hat. Und Er hat das Maß Seiner Güte gegen dich voll gemacht, indem Er dir



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die Herrschaft gab. Gott aber liebt es nicht, daß du dich von dem, was Er dir gnädig gewährte, zu etwas anderem abwendest, indem du gegen Ihn ungehorsam bist; drum trotze Ihm nicht im Vertrauen auf deine Schätze, nein, es geziemt dir, daß du an Seine Gebote denkst und Seinen Befehlen Gehorsam schenkst. Ich habe seit einigen Tagen gesehen, daß du deinen Vater und seine Ermahnungen vergessen, sein Vermächtnis verworfen, seinen Rat und seine Worte zunichte gemacht und dich nicht mehr an seine Gerechtigkeit und an seine gute Herrschaft gehalten hast; so hast du der Güte Allahs nicht mehr gedacht und hast ihr nicht durch Danksagung vergolten.' ,Wie meinst du das,' fragte der König, ,und was hat all das zu bedeuten?' Nun fuhr Schimâs fort: ,Es bedeutet, daß du aufgehört hast, für die Angelegenheiten deines Reiches zu sorgen und für die Angelegenheiten deiner Untertanen, mit denen Gott dich betraut hat, und daß du dich von der menschlichen Natur treiben lässest zu allem, was sie dir von den armseligen Lüsten der Welt schön erscheinen läßt. Es heißt aber, daß die Wohlfahrt des Reiches und des Glaubens und der Untertanen zu dem gehört, was zu behüten dem König geziemt; und deshalb ist es mein Rat, o König, daß du deinen Ausgang recht im Auge behältst, denn so wirst du den offenkundigen Weg finden, auf dem das Heil liegt. Wende dich doch nicht der armseligen, vergänglichen Lust zu, die zum Abgrund des Verderbens führt; sonst wird es dir ergehen, wie es dem Fischer erging!' ,Wie war denn das?' fragte der König; und Schimâs erwiderte: ,Mir ist berichtet worden


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