Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 


DAS MÄNNCHEN MIT DEM KOHLKOPF

Es war in einem alten Park, in dem wilde Schwäne auf den Spiegeln dunkler Weiher ihre Kreise zogen, verblichene Marmorbilder lächelten und die Schatten vergangener Zeiten auf bemoosten Bänken saßen. In dem alten Park lebte ein kleines Männchen, das ein recht sonderbares Gewächs war, denn es war sozusagen allmählich aus allerlei Gewächsen zusammengewachsen. Als Kopf aber hatte es einen Kohlkopf. Das Männchen war ein ganz harmloses Männchen, nur kamen so leicht die Raupen in seinen Kohlkopf, was ja bei einem Kohlkopf weiter nicht verwunderlich ist. Dann hatte es richtige Raupen im Kopf und wurde sehr anmaßend. Es wackelte durch den ganzen Park und tadelte alles. Es fand die Kreise der wilden Schwäne häßlich, es grüßte die Regenwürmer und Käfer nicht mehr, obgleich das allgemein üblich ist, und es sagte sogar der Nachtigall nach, daß sie keine Stimme besitze und zudem eine schlechte Ausbildung genossen habe. Alles im Park ärgerte sich - nur die Marmorbilder lächelten.

Einmal nun, als das Männchen besonders viele Raupen in seinem Kohlkopf hatte, erblickte es auf dem grünen Rasen ein großes Kompottglas. Es mochte schon lange da gelegen



048 Manfred Kyber Märchen Flip arpa

haben, denn der Regen hatte es blank gewaschen, so daß es in der Sonne funkelte und blitzte.

»Das ist eine passende Krone für mich«, sagte das Männchen und stülpte sich das Kompottglas auf den Kohlkopf, in dem es von Raupen nur so wimmelte.

Mit dem gekrönten Kohlkopf aber wackelte das Männchen durch den ganzen Park und tadelte alles. Sogar die bescheidensten Leute des ganzen Parkes, ein kleines Moosehepaar, ließ es nicht in Ruhe. Das Moosmännchen und das Moosweibchen lebten still und zurückgezogen in einer Mauerspalte. Sie störten wirklich niemand, denn sie gingen selten aus und waren überaus häuslich, fast so häuslich wie ihr Onkel, der Hausschwamm, der bekanntlich das häuslichste aller Wesen ist. Das Moosmännchen und das Moosweibchen waren auch so genügsam. Sie kochten sich mittags nur eine Heidelbeere in einem Fingerhut und das reichte für alle beide.

»Eine widerliche Völlerei«, sagte das Männchen mit dem gekrönten Kohlkopf, »diese einfachen Leute in der Mauerspalte tun auch tagsüber nichts weiter als Essen kochen. Was würde aus dem ganzen Park werden, wenn ich auch so wäre?«

Die armen Moosleute waren tief gekränkt.

»Eine Heidelbeere für zwei Personen ist gewiß eine auskömmliche und gute Mahlzeit«, sagten sie, »aber eine unmäßige Mahlzeit ist es sicherlich nicht. Es ist freilich wahr, daß wir die 1-leidelbeere in einem Fingerhut kochen, aber das tun wir auch nur, weil wir alte Leute sind und keine rohen Heidelbeeren mehr vertragen.«

Mit diesen Worten, die gewiß berechtigt waren, zogen sie sich in ihre Mauerspalte zurück. Alles im Park ärgerte sich - nur die Marmorbilder lächelten.

Die Sonne hatte sich aber auch die ganze Geschichte besehen, und sie beschien den Kopf des Männchens Tag für



049 Manfred Kyber Märchen Flip arpa

Tag mit besonderer Sorgfalt. Es war, als ob es den Sonnenstrahlen geradezu Spaß mache, sich unter dem Glas zu sammeln und den Kohlkopf des kleinen Männchens zu wärmen. Die Sonnenstrahlen tun das sehr gerne. Der Kohlkopf aber wuchs dadurch immer mehr und mehr, das kleine Männchen hörte auf, alles zu tadeln, und wurde stiller und stiller, bis es eines Tages mit ganz erbärmlichen Kopfschmerzen auf dem grünen Rasen saß.

»Mein Kopf schmerzt so sehr«, jammerte das kleine Männchen, »er wird immer dicker und dicker, er wächst und wächst und ich kriege das schreckliche Glas nicht mehr herunter! Lieber will ich ungekrönt bleiben, aber solche Kopfschmerzen möchte ich nicht wieder haben!«

Sein Jammergeschrei erfüllte den ganzen Park. Die Einwohner des Parkes waren alle freundliche und gute Leute. Die Regenwürmer und Käfer krochen teilnahmsvoll näher, und auch den wilden Schwänen tat es sehr leid, daß das kleine Männlein solche Kopfschmerzen hatte. Die Nachtigall war ganz still, denn sie sagte sich, daß ihr Gesang mit solchen Kopfschmerzen nicht mehr zu vereinen wäre. Aber helfen konnte niemand.

Endlich drang das Klagen des kleinen Männchens auch in die Mauerspalte zu den Moosleuten, die gerade bei Tisch waren und sich eine Heidelbeere im Fingerhut kochten. Sie vergaßen alle Kränkung und eilten dem kleinen Männchen zu Hilfe, so schnell sie das nur vermochten. Sie faßten das Kompottglas und zogen aus Leibeskräften daran, um den gekrönten Kohlkopf davon zu befreien. Sie zogen so sehr, daß es in ihren Mooskörpern ordentlich raschelte.

Die Regenwürmer und Käfer hielten den Atem an vor Spannung.

Endlich ging es! Das Moosmännchen und das Moosweibchen fielen hintenüber, das Kompottglas blieb in ihren Händen - aber der Kohlkopf auch!



050 Manfred Kyber Märchen Flip arpa

»Das tut nichts«, sagten sie, »es war ja nur ein Kohlkopf. Wir holen dem Männchen einen neuen, und den setzen wir ihm dann auf.«

Und das taten sie.

Dem Männchen war nun wieder ganz wohl.

»Ich möchte Ihnen aber doch raten«, sagte die Nachtigall, »daß Sie sich in Zukunft die Raupen in Ihrem Kopf rechtzeitig von einem sachverständigen Vogel absuchen lassen.« Das war gewiß ein sehr guter Rat, und er sollte von allen befolgt werden, die es angeht.

Die verblichenen Marmorbilder lächelten. Es war ihnen nichts Neues, daß einer den Kopf verlor. Das hatten sie in vergangenen Zeiten in mancher blauen Mondennacht gesehn, und es war nicht immer so harmlos abgelaufen wie dieses Mal, wo es ja nur ein Kohlkopf war. Denn es ist viel ungefährlicher, wenn es nur ein Kohlkopf ist, den man verliert, und es schadet darum auch gar nichts, wenn einer bloß einen Kohlkopf hat - aber er muß ihn nicht unter Glas setzen!


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt