Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 6

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEN ZWEI KÖNIGEN

Das Land des ungerechten Königs war reich an Bäumen und Früchten und Kräutern; und doch ließ jener Herrscher keinen Kaufmann dort, dem er nicht sein Geld und seine Waren raubte. Die Kaufleute ertrugen das in Geduld, weil die Fruchtbarkeit jenes Landes ihnen Lebensunterhalt bot. Was aber den gerechten König betrifft, so entsandte er einen Mann von dem Volke seines Landes, indem er ihm viel Geld gab und ihm befahl, sich damit zum Lande des ungerechten Königs zu begeben, um dort Juwelen zu kaufen. Da machte jener Mann sich auf mit dem Gelde, und als er in dem anderen Lande ankam, ward dem König gesagt: ,Siehe, in dein Land ist ein Kaufmann gekommen, der viel Geld bei sich trägt; dafür will er hier Juwelen kaufen.' Alsbald sandte er zu ihm und ließ ihn vor sich kommen; dann fragte er ihn: ,Wer bist du? Woher



1000-und-1_Vol-06-050 Flip arpa

kommst du? Wer hat dich in mein Land gebracht? Und was ist dein Begehr?' Der Kaufmann gab ihm zur Antwort: ,Ich bin aus dem Lande Soundso, und der König jenes Landes hat mir Geld gegeben und mir befohlen, ihm dafür Juwelen aus diesem Lande zu kaufen; ich habe seinem Befehle gehorcht und bin hierher gekommen.' Da rief der König: ,Wehe dir! Weißt du nicht, wie ich an dem Volke meines Landes handle, wie ich ihnen jeden Tag ihr Geld abnehme? Wie kannst du da mit deinem Gelde zu mir kommen? Und siehe, du weilst schon seit dannunddann in meinem Lande!' Der Kaufmann erwiderte: ,Wisse, von dem Gelde gehört mir gar nichts; es ist ein Pfand in meinen Händen, bis ich es dem übergebe, dem es zukommt.' Aber der König sprach: ,Ich werde nicht zulassen, daß du deinen Lebensunterhalt aus meinem Lande entnimmst, es sei denn, daß du dich mit diesem ganzen Gelde loskaufst!' —

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 910. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der ungerechte König zu dem Kaufmanne, der in seinem Lande Juwelen kaufen wollte, sprach: ,Es ist nicht möglich, daß du aus meinem Lande deinen Lebensunterhalt entnimmst, es sei denn, daß du dich mit diesem Gelde loskaufst; sonst mußt du sterben.' Da sagte sich der Mann: ,Ich bin zwischen zwei Könige geraten! Ich weiß, daß die Ungerechtigkeit dieses Königs alle trifft, die in seinem Lande weilen: und wenn ich ihn nicht zufrieden stelle, so ist das mein Verderben, und auch das Geld geht verloren, ganz sicher, und ich kann meinen Auftrag nicht ausrichten. Gebe ich ihm aber alles Geld, so gerate ich in Not bei dem König, dem es gehört; daran ist auch kein Zweifel. Mir bleibt also kein anderer Ausweg, als daß ich dem da von diesem Gelde einen



1000-und-1_Vol-06-051 Flip arpa

kleinen Teil gebe und ihn so befriedige, um von mir selber das Verderben abzuwenden und dies Geld vor dem Verlust zu bewahren. Dann kannich von dem Überflusse dieses Landes meine Nahrung gewinnen, bis ich so viele Juwelen gekauft habe, wie ich brauche. So stelle ich den König zufrieden durch das, was ich ihm gebe, so gewinne ich meinen Anteil an diesem seinem Lande. und so kann ich zu dem Besitzer des Geldes gehen, nachdem ich seinen Auftrag erfüllt habe; und ich erhoffe von seiner Gerechtigkeit und Nachsicht, daß ich bei ihm keine Strafe zu fürchten habe, weil dieser König mir Geld abgenommen hat, zumal, wenn es nur wenig ist. 'Darauf wünschte er dem König Glück und Segen und sprach zu ihm: ,O König, ich möchte mich und dies Geld mit einem kleinen Teile davon loskaufen für die Zeit von meinem Einzug in dein Land bis dahin, wann ich es wieder verlasse.' Der König nahm das von ihm an und ließ ihn ein Jahr lang seiner Wege gehen; nun kaufte der Mann für all sein anderes Geld Juwelen und kehrte dann zu seinem Herrn zurück.

Der gerechte König ist ein Gleichnis des Jenseits, und die Juwelen, die im Lande des ungerechten Königs waren, sind ein Gleichnis für die schönen Taten und guten Werke. Der Mann, dem das Geld anvertraut ward, gleicht dem, der dem Irdischen nachgeht; das Geld, das er bei sich hatte, ist ein Abbild des menschlichen Lebens. Wenn du dies erwägst, so weißt du, daß es dem, der den Lebensunterhalt in dieser Welt sucht, geziemt, keinen Tag verstreichen zu lassen, ohne auch nach dem Jenseits zu trachten. So leistet er der Welt Genüge durch das, was er von dem Überfluß der Erde erwirbt, und er leistet dem Jenseits Genüge durch das, was er im Streben nach ihm von seinem Leben aufwendet.'



1000-und-1_Vol-06-052 Flip arpa

Schimâs aber fuhr fort: ,Nun sage mir, sind Leib und Seele gleichermaßen beteiligt an Lohn und Strafe, oder trifft die Strafe nur den, der im Banne der Lüste steht und der die Sünden begeht?' Und der Knabe erwiderte: ,Die Neigung zu Lüsten und Sünden kann der Anlaß von Belohnung sein, wenn die Seele sich ihrer enthält und sie bereut; doch in der Hand dessen, der da tut, was er will, liegt der Entscheid, und die Dinge werden unterschieden durch ihre Gegensätzlichkeit. So ist der Lebensunterhalt unumgänglich notwendig für den Leib; aber es gibt keinen Leib olme Seele, und die Reinheit der Seele besteht in der Lauterkeit der Absicht in Dingen dieser Welt und in der Hinkehr zu dem, was in jener Welt von Nutzen ist. Die beiden, Leib und Seele, sind wie zwei Pferde. die im Wettlauf eilen, oder wie zwei Milchbrüder, die miteinander die Mutterbrust teilen, oder wie zwei Männer, die ein Geschäft gemeinsam betreiben; und durch die Beziehung auf die Absicht muß in der Gesamtheit das Einzelne unterschieden bleiben. So sind denn Leib und Seele Teilhaber in den Handlungen und in Lohn und Strafe; darin gleichen sie dem Blinden und dem Krüppel.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt