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KINDER-UND

HAUSMÄRCHEN


Gesammelt durch die Brüder Grimm



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Vollständige Ausgabe mit über 160 Holzschnitten von Ludwig Richter

GONDROM VERLAG BAYREUTH


Die Haselrute

Eines Nachmittags hatte sich das Christkind in sein Wiegenbett gelegt und war eingeschlafen, da trat seine Mutter heran, sah es voll Freude an und sprach: »Hast du dich schlafen gelegt, mein Kind? Schlaf sanft, ich will derweil in den Wald gehen und eine Handvoll Erdbeeren für dich holen; ich weiß wohl, du freust dich darüber, wenn du aufgewacht bist.« Draußen im Wald fand sie einen Platz mit den schönsten Erdbeeren, als sie sich aber bückt, um eine zu brechen, so springt aus dem Gras eine Natter in die Höhe. Sie erschrickt, läßt die Beere stehen und eilt hinweg. Die Natter schießt ihr nach, aber die Mutter Gottes, das könnt ihr denken, weiß guten Rat, sie versteckt sich hinter eine Haselstaude und bleibt da verborgen, bis die Natter sich wieder verkrochen hat. Sie sammelt dann die Beeren, und als sie sich auf den Heimweg macht, spricht sie: »Wie die Haselstaude diesmal mein Schutz gewesen ist, so soll sie es auch in Zukunft anderen Menschen sein.« Darum ist seit den ältesten Zeiten ein grüner Haselzweig gegen Nattern, Schlangen und was sonst auf der Erde kriecht, der sicherste Schutz.



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Nachbemerkung

Märchen überlieferte Erzählungen, Wirklichkeit gewordene Träume, aneinandergereihte Fäden von Geschichten und Ereignissen voller Poesie: Sehnsüchte, die in uns schlummern vielleicht schon immer vorhanden waren sie faszinieren uns ein ganzes Leben lang: als Kind, in der Jugend, im Alter. Doch sind es nicht nur Träume, sondern auch manchmal rauhe und harte Realitäten, die dennoch gleichermaßen unseren Alltag widerspiegeln, weil es im täglichen Leben ebenso gute und weniger gute Menschen gibt. Im Märchen dagegen sind die Protagonisten sehr viel klarer gezeichnet, ohne das manchmal verzweifelte Ringen um Recht oder Unrecht, wie es in der kurzbemessenen Spanne eines Menschenleben geschieht: Der Gute ist gut, der Böse ist böse, und nur selten gelingt es dem letzteren, aus seiner Dunkelheit ins andere Licht zu gelangen, und wenn es tatsächlich einmal stattfinden sollte, spricht meistens der Tod das letzte Wort: Die seelische Reinwaschung findet jenseits irdischer Grenzen statt.

Erhellt wird die uralte Nacht auf der anderen Seite von den Gestalten des Lichts: dem edlen Prinzen, der schönen Prinzessin, dem reinen Mädchen, der guten Frau, der weisen Alten, der hilfsbereiten Fee. Sie sind die Leitfiguren, die Ideale der scheinbaren Scheinwelt, des augenfällig-fiktiven Nebeneinanders von Drachen und Menschen, Nixen und Feen, Kindern und Hexen.

Die schon lange im Gedächtnis der Menschen ruhenden, von Mund zu Mund überlieferten Geschichten wurden von Jacob und Wilhelm Grimm akribisch-liebevoll gesammelt und in ihrer ureigenen Form einer Nachwelt überlassen, die das großartige Werk dankbar entgegennahm, aber vielerorts nicht ahnte, was ihr da an einem unschätzbaren Kleinod zu treuen Händen übereignet wurde. Das war ein Vermächtnis, dessen grundsätzliche Aussage sich als roter Faden durch alle Märchen hindurchzieht: nämlich der Glaube an die elementaren Werte des Lebens, an Liebe, an Treue, an Glaube und an Hoffnung; nicht an Hoffnung auf eine bessere Welt, nein, sondern auf eine gerechtere, in der die Liebe die Elle ist, an der der Mensch gemessen wird.



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» Vielleicht verschmähen die verehrten Deinigen die Grimmschen Volksmärchen nicht; ich gestehe, daß ich sie, als einen goldenen Schatz wahrhafter Poesie, zu meinen Lieblingsspeisen zähle.« So schrieb Eduard Mörike im März 1842 an Karl Mörike, und ein wenig liest sich daraus die Verehrung für die von den Brüdern Grimm geleistete Arbeit - den beiden Menschen, denen wir Achtung und Respekt zollen müssen. Haben sie doch ein wichtiges Stück unserer Vergangenheit, unseren Märchenschatz, gesammelt, erhalten, gepflegt und an uns weitergegeben, die wir dieses Vermächtnis in ihrem Sinne weiterführen und behandeln sollten.

In die vorliegende Gesamtausgabe nicht aufgenommen wurden aus grundsätzlichen Erwägungen die für jugendliche Leser nicht geeigneten Märchen: »Der Jude im Dorn«, »Der alte Hildebrand« sowie die für uns heute nur noch schwer erfaßbare alte Erzählung » Von dem Machandelboom«. Im übrigen folgt die Sammlung der von den Brüdern Grimm selbst getroffenen Anordnung. Die Originalsprache wurde grundsätzlich beibehalten. Orthographie und Interpunktion erfuhren nur dort leichte Veränderungen, wo dies im Sinne einer besseren Lesbarkeit notwendig erschien.

Die Illustrationen des Buches, von Ludwig Richter (1803 - 1884), der auch der »Maler des deutschen Hauses« genannt wurde, sind einzigartig in ihrer liebevollen Sorgfalt wie auch in der ausgezeichnete Beobachtungsgabe verratenden Schilderung des Details, und so recht geeignet, das Märchen-Erlebnis auch von den Bildbeigaben her zu einem noch tieferen Erlebnis zu machen.

Gerhard Merz


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